Gewalt in der Erziehung

Das Schlimmste ist das Wegschauen

Bei einer dieser Gelegenheiten passierte es auch das einzige Mal, dass sich jemand in die Dressurmethoden meiner Mutter einmischte. Von Erziehung kann man hier nicht mehr sprechen. Aus irgendeinem Grund erzählte ich meiner Volksschullehrerin, dass mich zuhause wohl Prügel erwarten würden.

Sie dürfte meiner Mutter wenigstens ins Gewissen geredet haben. Nicht, dass es geholfen hätte. Nur, dass mir eingeschärft wurde, oder eher eingebläut, ja nie wieder mit Außenstehenden über diese Dinge zu reden. Die Lehrerin kam nicht auf den Gedanken, die Sache weiterzuverfolgen. In den 80-ern waren Prügel für geringfügigen schulischen “Misserfolg” nicht mehr die Regel. Nur auch nichts, weswegen man gleich das Jugendamt einschaltete. Entschiedenes Einschreiten sieht anders aus. Um mich gekümmert hat sich die Frau nachher auch nicht großartig.

Mein Vater? Schlug selten. Schaute meist weg.

Meine ganze Kindheit und Jugend war ich umgeben von Leuten, die ums Verrecken nicht sehen wollten, was vor sich ging. Oder sich stillschweigend damit abfanden. Jeder aus seinen Gründen.

Den Anfang machte mein Vater. Der schlug selbst nur selten zu. Sozusagen “nur” aus Überforderung. Schlimm genug. Nur im Vergleich harmlos. Auch wenn seine Schläge mehr wehtaten als die meiner Mutter. Was mich wirklich schmerzte und bis heute schmerzt: Ich kann mich an kein einziges Mal erinnern, dass er mich vor ihren Schlägen in Schutz genommen hätte. Er ließ es geschehen. Das war vermutlich bequemer so.

Wir haben eine nicht ganz kleine Familie. Onkel und Tanten gibt’s zuhauf. Beide Großelternpaare haben noch gelebt, als ich ein Kind war. Alle, mit denen ich gesprochen habe, erinnern sich, dass ich schon als Dreijähriger extrem hart behandelt wurde. Entschieden eingeschritten ist niemand.

Denen, die damals selbst halbe Kinder waren, will ich keinen Vorwurf machen. Aber da waren auch gestandene Männer und Frauen darunter. Alle haben sie den Mund gehalten. Oder vorsichtshalber weggeschaut.

Kein einziger hat was gesehen?

Und dann 20 oder 30 Lehrerinnen und Lehrer, auf die man bis 15 schon kommen wird. Die Eltern der wenigen Freunde, die ich hatte (oder haben durfte). Nachbarn. Ärzte. Kurz: Dutzende Menschen, die mit uns im Lauf dieser Zeit Kontakt hatten.

Und keiner hat was gesehen oder gehört? Keiner hat die blauen Flecken im Sportunterricht gesehen, die ich gehabt haben muss? Keiner mein Verhalten bemerkt, das typisch war für Gewaltopfer? Keiner? Keiner mich schreien oder weinen gehört, wenn ich wieder mal verprügelt wurde? Kein einziger?

Es macht mich zum zweiten Mal zum Opfer

Mich macht das – auch im heutigen Empfinden – zum zweiten Mal zum Opfer. Dass mich meine Eltern, vor allem meine Mutter, prügelte, ist schon schlimm genug. Aber dass es dieses kleine malträtierte Kind, das ich einmal war, offenbar nicht wert war, dass nur ein einziger Erwachsener, nur ein einziger, entschieden eingeschritten wäre, das ist die nächste Stufe der Demütigung.

War ich es nicht wert, dass man meinetwegen eine kurze Unannehmlichkeit in Kauf nimmt? Etwa ein Jugendamt informiert? Oder sich wenigstens meiner annimmt, mir zuhört, mir klar macht: Was deine Eltern mit dir machen, ist schlimm? Das ist kein einziges Mal passiert.

Ich muss mir selbst, heute, als Erwachsener rational klar machen, dass das nicht bedeutet, dass ich kein liebenswertes Kind war und sich deswegen niemand einen Deut darum geschert hat, was mit mir passiert. Bis ich das emotional verstanden habe, wird es vermutlich eine Zeit lang dauern. Wenn ich es je schaffe. Therapie hin, Therapie her.

Dass ich in dieser Hinsicht kein Einzelfall bin, macht die Sache nicht besser. Bei abertausenden Kindern allein in Österreich wird Jahr für Jahr weggeschaut. Keiner will die blauen Flecken gesehen haben. Keiner das auffällige Verhalten. Kein Besucher will gesehen haben, wie einem Elternteil im Zorn “die Hand ausgekommen ist”. Oder zumindest fast keiner. Man hält lieber den Mund.

Es ist besser geworden. Unendlich besser. Aber von erträglich sind wir weit entfernt. Die Duckmäuser geben immer noch den Ton an.

Wir haben die Rechnung bezahlt. Nicht ihr.

Erst in einer solchen Atmosphäre können Gewalttäter ihre eigenen Schwächen an Kindern abreagieren. Oder an anderen Menschen, die sich nicht wehren können. Wer wegsieht, wer schweigt, macht sich mitschuldig. Ermöglicht Kindheiten wie meine.

Und sollte sich bitte nicht wundern, wenn Menschen wie ich ihm oder ihr das Jahrzehnte später zum Vorwurf machen. Wir haben das Recht dazu. Wir haben die Rechnung bezahlt. Nicht ihr.

M. Horky

 


Der Autor benutzt das Pseudonym aus Rücksicht auf Geschwister. Sie wollen nicht, dass diese Kindheit, die auch die ihre ist, öffentlich bekannt wird. Der Autor respektiert diesen Wunsch, leidet allerdings darunter, nicht über seine eigene Vergangenheit verfügen zu dürfen. Dem hpd ist seine Identität bekannt.