Manfred Lütz zur aktuellen Sterbehilfedebatte

Wer ohne Argumente ist, diffamiert gern

Exit hilft nicht nur Menschen mit Krebserkrankungen oder degenerativen Erkrankungen, wie etwa der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), sondern bisweilen auch Patienten, die unter einer chronischen Depression, beginnender Demenz oder der Alzheimerschen Erkrankung leiden. Voraussetzung dabei ist immer, dass die Betroffenen noch urteilsfähig sind. Über die Freitodbegleitung hinaus bietet Exit zudem noch eine Palliativpflege und eine Suizidprophylaxe an.

Anders als Lütz zu suggerieren sucht, führt die Zulassung einer Praxis des assistierten Suizids also keineswegs zum Untergang des Abendlandes.

Wie so viele Gegner einer Liberalisierung der Sterbehilfe versucht auch Lütz den Wert der Selbstbestimmung zu unterminieren. “Selbstbestimmung”, schreibt er, “ist in unserer Gesellschaft zu Recht ein hoher Wert. Philosophisch”, fügt er hinzu, sei es jedoch “eher fraglich, ob man die Entscheidung, sich selbst zu töten oder töten zu lassen, überhaupt als einen Ausdruck von Selbstbestimmung verstehen kann.” Denn (und jetzt wird es abenteuerlich!): “Die Voraussetzung für Selbstbestimmung ist, dass dieses Selbst existiert. Bestimmt man sich selbst, wenn man das Selbst, das da bestimmt, vernichtet?” Die Antwort auf diese geradezu hegelianisch anmutende Phrasendrescherei lautet natürlich: Ja! Jeder Mensch kann beschließen, seinem Leben ein Ende zu setzen. In diesem Fall beschließt er selbst die Auslöschung seines Selbsts. Was ist daran so kompliziert oder gar “selbstwidersprüchlich”?

Was all die Kritiker der Selbstbestimmung – angefangen von Müntefering über Gröhe bis zu Lütz – übersehen, ist, dass sie sich mit ihrer Argumentation letztlich ins eigene Fleisch schneiden. Sie sind beispielsweise alle der Ansicht, dass die passive Sterbehilfe eine gute Sache ist: Jeder Patient hat ihrer Meinung nach das Recht, auf eine lebensverlängernde medizinische Maßnahme zu verzichten. Doch womit wollen sie die Entscheidung eines Patienten, auf eine Chemotherapie zu verzichten, rechtfertigen, wenn nicht mit dessen Selbstbestimmung? Allein das Recht auf Selbstbestimmung gestattet es jedem Menschen, sich gegen einen ungewollten medizinischen Eingriff zu verwahren! Ja, allein das Recht auf Selbstbestimmung erlaubt es einem Patienten sogar, seinen Arzt bei Zuwiderhandlung wegen Körperverletzung anzuzeigen.

Offenbar von seinen eigenen Einwänden selbst noch nicht ganz überzeugt, fährt Lütz schließlich das schwerste aller Geschütze überhaupt auf – die viel und gern beschworene “Menschenwürde”. Wie ich an anderer Stelle schon einmal eingehend ausgeführt habe, ist der Appell an die vermeintlich unantastbare Würde des Menschen jedoch nicht sonderlich hilfreich. Der Begriff der Menschenwürde ist viel zu unbestimmt, um aus ihm irgendwelche konkreten Normen ableiten zu können. Nirgends zeigt sich dies so deutlich wie in der zur Rede stehenden Debatte: Denn sowohl die Verfechter als auch die Verächter der Sterbehilfe berufen sich hier gleichermaßen auf die Menschenwürde.

Die ursprünglich vorgesehene Formulierung des Paragraphen 1 unseres Grundgesetzes lautete nicht “Die Würde des Menschen ist unantastbar!”, sondern “Der Staat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Staat!” Auch diese Formulierung ist reichlich vage. Doch sie verdeutlicht die Intention der Verfassungsväter dennoch weit deutlicher: Der Staat darf mit seinen Bürgern nicht nach Belieben verfahren. Jeder Bürger hat durch die Verfassung geschützte Rechte, die selbst vom Staat nicht verletzt werden dürfen. Zu diesen Rechten zählt zuallererst das Recht auf Leben. Wie das Recht auf Freiheit oder das Recht auf Eigentum ist das Recht auf Leben jedoch ein bloßes Abwehrrecht. Dies bedeutet: Ein Bürger darf weder durch seine Mitmenschen noch durch seine Regierung getötet werden. Er darf sich dagegen aber durchaus selbst töten. Das Recht auf Leben soll uns vor unseren Mitbürgern und vor unserem Staatsapparat, nicht aber vor uns selbst schützen. Das Recht auf Leben beinhaltet daher auch keine Pflicht zum Leben!

Sobald man diese Intention der Verfassungsväter kennt, wird sofort klar, dass sich Lütz mal wieder eines bloßen rhetorischen Tricks bedient, wenn er aus der so genannten “Unantastbarkeit” der Menschenwürde abzuleiten versucht, dass sich auch niemand an seinem eigenen Leben vergreifen dürfe. Noch einmal: Wenn überhaupt, dann begründet die Würde des Menschen ein Recht auf Leben, nicht aber eine Pflicht zu leben!

Den Gipfel seines Denkens erreicht Lütz wohl spätestens mit der Behauptung, dass ein selbstbestimmtes Sterben nur in einem Hospiz möglich sei. “Tatsächlich wollen sich die Menschen”, wie er zugibt, weder vom Staat noch vom Arzt “vorschreiben lassen, wie sie zu sterben haben. Das ist im Hospiz aber sichergestellt.” Der Theologe Lütz vergisst an dieser Stelle offenbar, dass sich die Menschen auch nicht von der Kirche oder von einem Pfarrer vorschreiben lassen wollen, wie sie zu sterben haben.

In Deutschland haben Jochen Taupitz und Peter Hintze jeweils einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sich am so genannten “Death With Dignity Act” im US-Bundesstaat Oregon anlehnt. In Oregon ist der ärztlich-assistierte Suizid bereits seit 1997 legal. Im Jahr 2013 haben sich dort beispielsweise 71 terminal erkrankte Menschen mit Hilfe des Barbiturats Natriumpentobarbital selbst das Leben genommen. 60 der 71 Patienten waren zunächst in einem Hospiz. Vielleicht sollte sich Lütz mal fragen, was also 85 Prozent dieser sterbewilligen Patienten dazu bewogen haben mag, das Hospiz zu verlassen und lieber zu Hause von eigener Hand zu sterben.

Schließlich und endlich kommt auch Lütz nicht ohne den inzwischen geradezu obligatorisch gewordenen Hinweis auf die Palliativmedizin aus: “Die Palliativmedizin kann heute einem Sterbenden alle Schmerzen nehmen.” Natürlich ist auch diese Behauptung frei erfunden. Selbst führende Palliativmediziner wie Michael de Ridder oder Gian Domenico Borasio würden es nicht wagen, zu behaupten, dass ihre Zunft wirklich alle Schmerzen zu behandeln vermag. Vorsichtigen Schätzungen zufolge versagt zumindest in vier bis zehn Prozent der Fälle auch die beste palliativmedizinischen Behandlung.

Die einzige palliativmedizinische Maßnahme, mit der sich buchstäblich alle Schmerzen bekämpfen lassen, ist die terminale Sedierung. Hierbei gibt der Arzt einem sterbenden und von Schmerzen gequälten Patienten kontinuierlich so starke Betäubungsmittel, dass er das Bewusstsein verliert. Ein auf diese Weise narkotisierter Patient wird tatsächlich keine Schmerzen mehr leiden und kann – vorausgesetzt man stellt jedwede Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit ein! – in etwa ein bis zwei Wochen sanft entschlafen.

Doch hier stellen sich sogleich zwei Fragen. Erstens, was ist, wenn ein Patient nicht auf diese Art und Weise versterben möchte? Sicher, er mag die Möglichkeit, schmerzfrei zu entschlafen, durchaus begrüßen. Doch vielleicht graut ihm vor der Vorstellung, dass ihn seine Anverwandten dann noch über Tage hinweg langsam verenden sehen müssen. Mit welchem Recht wollte Lütz ihm den Wunsch verwehren, sich von seinem Arzt lieber gleich eine tödliche Dosis eines Barbiturates aushändigen zu lassen, mit der er seinem eigenen Leben sofort ein Ende setzen kann?

Und zweitens, worin genau besteht eigentlich der moralisch relevante Unterschied zwischen einem Arzt, der seinem Patienten regelmäßig ein Narkotikum verabreicht, und einem Arzt, der seinem Patienten einmalig ein Barbiturat aushändigt? Lütz wird vermutlich sagen, dass der Unterschied in der Intention des Arztes liege. Ersterer beabsichtige lediglich die Bekämpfung des Schmerzes, letzterer hingegen die Beendigung des Lebens. Doch dies ist mehr als fraglich. Viel wahrscheinlicher ist, dass beide Ärzte aus demselben Grund heraus handeln: Beide achten das Selbstbestimmungsrecht ihres Patienten und wollen ihm zu einem friedlichen Tod verhelfen.

Statt zu versuchen, die Palliativmedizin und die Sterbehilfe gegeneinander auszuspielen, sollte Lütz daher einfach anerkennen, dass die terminale Sedierung und der assistierte Suizid gleichermaßen legitime Optionen am Lebensende sind.