Versuch über ein ethisches Problem

Die Frage von Schuld und Verantwortung

An die Stelle des vermeintlich logisch zwingenden Kausalgesetzes, das nur in falschen Vorstellungen existiert, hätte also, den Determinismus vorausgesetzt, ein anderes zu treten, das kritischer Prüfung standhält, indem es sich empirisch nachweisen lässt. Dieses Gesetz, schon seit dem Altertum, besonders auch seit den Anfängen der Astronomie (und auch Astrologie) auf Grund kosmischer Beobachtungen ableitbar, das also schon der vorlogischen Epoche menschlichen Denkens entstammt, ist das der Analogie, der Synchronizität, der Entsprechungen. Dieses Gesetz fällt etwa unmittelbar ins Auge beim Vergleich des Makrokosmos mit dem Mikrokosmos, also bei der Gesetzesparallelität von Planetensystem und Atom. Es wird auch deutlich bei der Beobachtung gesetzmäßiger kosmischer Vorgänge, wie etwa des gravitationsbedingten Rhythmus der Gezeiten, Ebbe und Flut, des Einflusses des Mondes auf den gesamten Flüssigkeitshaushalt der Erde (Kapillarverhältnisse bei Vollmond und Neumond in den Pflanzen, Monatszyklus der Frau, Zeit der Schwangerschaft). Das alles unterliegt nicht einem Kausalitätsgesetz, es entspricht der Gesetzmäßigkeit der Synchronizität und erweist Kosmos und Bios als gleichsam organischen Zusammenhang, als einen einzigen zusammenhängenden, in seiner Funktion unbeeinflussbaren Organismus, wofür als Beweis zum Beispiel auch der rhythmische Wechsel der Jahreszeiten anzuführen ist oder – das Erdzeitalter betreffend – die klimatischen Veränderungen, die über Jahrtausende hin mit der Präzession der Erdachse gegeben sind (u.a. Eiszeiten, tropische Zeiten). Dem unterliegen auch wohl die von Darwin (1809–1882) entdeckten Evolutionsgesetze, die den religionsideologischen Kreationismus außer Kraft setzten. Die Evolution verlief analog den sie ermöglichenden erdgeschichtlichen Vorgängen, die wiederum kosmisch bedingt waren.

Dritter Denkfehler: Schuld

Nach dem bisher Gesagten darf als wohlbegründete, kaum mehr zu bezweifelnde, der Wirklichkeit entsprechende Prämisse konstatiert werden, dass der Indeterminismus unhaltbar ist, es also keinen freien Willen gibt, ebenso wenig wie eine Kausalität oder gar ein Kausalitätsgesetz. Daraus aber folgt, dass es auch keine Schuld, somit keine Schuldfähigkeit des Menschen geben kann. Ihre Annahme aber dient seit eh und je zur Begründung für Strafe und Strafgesetze. Der Verbrecher wird jedoch als solcher geboren, darum kann er nicht schuldig werden, er ist es von Natur aus von vornherein. Darin unterscheidet er sich graduell, nicht aber grundsätzlich vom Geisteskranken oder Schwachsinnigen, der ebenfalls durch Strafe weder gebessert noch überhaupt zur Rechenschaft gezogen werden kann. Der durch seine übermächtige hormonelle Triebhaftigkeit gegen jede Vernunft sich immer wieder zu Sexualmord, zu Vergewaltigungen, zu Sadismen aller Art hinreißen lassende Triebtäter ist weder durch Willensanstrengung, eigene bessere Einsicht noch die ehrlichsten besten Vorsätze von seiner Tat abzuhalten, am wenigsten durch Strafmaßnahmen, die im Gegenteil durch Zeiten langer Entbehrung in der Haft seine Triebhaftigkeit aufstauen und bis zur Explosion steigern lassen können. Aus deterministischer Sicht und sogar auch nach dem einmal hypothetisch angenommenen Kausalitätsgesetz sind sie alle von jeglicher Schuld freizusprechen.

Diese Folgerung ist nicht nur aus der begründeten Leugnung von Willensfreiheit und Kausalität zu ziehen, sie ist auch unabhängig davon behauptet worden, etwa wenn Wilhelm Raabe im “Schüdderump” sagt: “Das ist das Erfreuliche am Leben, daß der Mensch für seine Natur kaum verantwortlich zu machen ist.”

Ohne die Voraussetzung von Willensfreiheit lässt sich Schuld oder Schuldfähigkeit nicht begründen, sie tritt somit ein als ein unabwendbares Schicksal ohne eigenes verantwortliches Zutun. So kann der Mensch gar nicht sagen: “ich will”, er muss zutreffend sagen: “es will” (in mir) so wie man sagen muss “es regnet”. Für ein solches Wollen ist niemand schuldig zu sprechen, wie auch Theodor Lipps (1851- 1914) festgestellt hat. So jedenfalls ist aus deterministischer und fatalistischer Sicht zu folgern.

Es wirkt fast erheiternd, an Hand des philosophiehistorischen Überblicks “Willensfreiheit oder Schicksal?” bei Helmut Groos zu lesen, wie selbst die scharfsinnigsten, den Determinismus unbedingt vertretenden philosophischen Denker, um Schuld und Verantwortung nebst der von ihnen behaupteten Kausalität zu retten, durch Hintertürchen indeterministische Begründungselemente in geradezu akrobatischen Gedankenwindungen bemühen, ohne doch je das Problem gelöst zu haben: Wie ziehe ich den Täter zur Rechenschaft, wenn es keine Schuld gibt? Soviel ich sehe, fand die Philosophie bisher keine Lösung. Goethe indes deutet sie an in dem Lied des Harfenspielers in Wilhelm Meisters Lehrjahren:

Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein;
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

Ehe im letzten Absatz dieser Arbeit eine Lösung versucht werden soll, sei zunächst noch auf Zeugnisse des Determinismus in der Dichtung und den Determinismus als kosmisches Gesetz eingegangen.

Determinismus in der Dichtung

Selbstverständlich können im Rahmen dieser räumlich begrenzten Abhandlung nur wenige paradigmatische Beispiele von Zeugnissen des Determinismus in der Dichtung angeführt werden; das Thema bedürfte sonst einer mehrbändigen Ausarbeitung und vorausgehender literaturhistorischer Forschung.

Von Cicero (106–43 v.d.Z.), für den “am Himmel nichts Zufall” war, geht der Schicksalsgedanke weiter an Vergil (70–19 v.d.Z.). In diesen römischen Kulturkreis gehörte auch Seneca (4 v.d.Z. - 65 n.d.Z.), der in seiner “Trostschrift an Marcia” seine deterministische Anschauung zum Ausdruck bringt, wenn er sagt: “Von den leisesten Bewegungen der Gestirne hängt der Völker Geschick ab und gestaltet sich das Größte und das Kleinste, je nachdem des Gestirnes Lauf und Stand günstig oder ungünstig war.”

Wolfram von Eschenbach (1170–1220) formulierte:
Der Kreislauf der Gestirne zeigt
Wohin der Lauf der Menschen neigt.

Aus Dante Alighieris (1265–1321) Werk lässt sich unschwer sein Glaube an den Kosmos als geordnetes Weltall ableiten, insbesondere im 10. Gesang des “Paradiso”. – William Shakespeare (1564–1616) ist dann der erste bedeutende Dichter, der ein kosmologisches Vermächtnis hinterließ. Sein “Sturm”, der ohne kosmische Kenntnisse kaum verständlich wird, beweist es:

Nun da der Abend unser Aug´ umflort,
Betracht´ ich zukunftssüchtig die Gestirne,
Durch die uns Gott in Lettern wohl zu deuten
Der Kreaturen Los und Schicksal kündet.
Denn der aus Himmelshöhn den Menschen schaut,
Weist ihm aus Mitleid oft den rechten Pfad
In seiner Sterne Schrift am Firmament
Und sagt das Glück und Unglück ihm voraus.
Doch wir, am Staube haftend, sündenschwer
Verachten solche Schrift und sehn sie nicht.

Im König Lear (IV, 3) heißt es: “Die Sterne, die Sterne eben lenken unsern Sinn.” Goethe (1749–1832), dessen Urworte Dämon diesem Aufsatz als Motto voranstehen, bezeichnet Macht und Einfluss der Gestirne, die ihn mit Minna Herzlieb verbinden:

Da ist´s denn wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille.
Das Liebste wird dem Herzen weggescholten.
Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille.
So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren
Und enger dran, als wir am Anfang waren.

In Schillers (1759–1805) Gedichten und Trauerspielen spielt der Planeteneinfluss auf den Menschen eine bedeutsame Rolle. In der “Braut von Messina” ereignet sich im Grunde nichts anderes als die Erfüllung einer astrologischen Prognose. Zusammenfassend heißt es dort:

Noch niemand entfloh dem verhängten Geschick,
Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden,
Der muß es selber erbauend vollenden.

In Schillers “Wallenstein”- Trilogie, in der Seni die Gestalt Johannes Keplers vertritt, der Wallensteins Geburtsbild in Charakteristik und Schicksalsablauf präzise gedeutet hat, finden sich zahlreiche astrologische Darlegungen.

Dafür ein Beispiel:

Die himmlischen Gestirne machen nicht
Bloß Tag und Nacht, Frühling und Sommer – nicht
Dem Sämann nur bezeichnen sie die Zeiten
Der Aussaat und der Ernte. Auch des Menschen Tun
Ist eine Aussaat von Verhängnissen,
Gesteuert in der Zukunft dunkles Land,
Den Schicksalsmächten hoffend übergeben.
Da tut es not, die Saatzeit zu erkunden,
Die rechte Sternenstunde auszulesen,
Des Himmels Häuser forschend zu durchspüren,
Ob nicht der Feind des Wachsens und Gedeihens
In seinen Ecken schadend sich verberge.

Bekannter sind die Worte, die Schiller die Gräfin Terzy sagen lässt:

Nicht Rosen bloß,
Auch Dornen hat der Himmel,
Wohl dir, wenn sie den Kranz dir nicht verletzen!
Was Venus band, die Bringerin des Glücks,
Kann Mars, der Stern des Unglücks, schnell zerreißen!

Wallenstein selbst erklärt: “Der Tag bricht an, und Mars regiert die Stunde.”

Hölderlin sagt in seinem “Schicksalslied”:

Wie du auch anfängst, wirst du bleiben.
Sie viel auch wirket die Not und die Zucht:
Das meiste nämlich vermag die Geburt
Und der Lichtstrahl, der dem Neugeborenen begegnet.

Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) fasst die Geschichte Ulrich von Huttens in dem Gedicht zusammen:

Ihr lieben Sterne, tröstlich alle Zeit,
Wer dächte, daß ihr arge Zwingherrn seid –
Ihr seid´s ! Als sich die Erde mir erhellt,
Ward mir ein widrig Horoskop gestellt.
Weil, als ich kam, der Widder just geblüht,
Bin ich von unverträglichem Gemüt.
Ein flackernd Himmelsirrlicht trägt die Schuld
An meiner Wanderlust und Ungeduld.

Honoré de Balzac (1799–1850), der die klassische Epoche des französischen Romans eröffnete, war ausgesprochen astrologiegläubig, und der Mitbegründer des französischen Symbolismus Paul Verlaine (1844–1896) sagt in seinen “Poems Saturiens”: “Wer nun im Zeichen des Saturn hier ward geboren, der hat ein gut Teil von Leid, ein gut Teil von Galle…”

Selbst der kritische, kirchentreue Josef Görres ( 1776–1848) erkannte den Sternglauben als Urreligion und erklärte in seinem “Rheinischen Merkur”: “Steht nicht die Erde und alles, was schwer ist auf ihr, mit fernen Welten im Verkehr, und ist unser Körper nicht mit den entlegensten Gestirnen in Wechselwirkung, und haben nicht die Konstellationen Einfluß auf das Leben, das unten in der Tiefe glimmt?” Neujahr 1816 stellte er in der letzten Ausgabe des dann von der Regierung verbotenen “Rheinischen Merkur” ein Horoskop für das neue Jahr, worin er das Schicksal des Volkes deutet und spricht von einem großen Sternenjahr. In die Reihe dieser Autoren gehören u.a. auch Gustav Meyrink (1868–1932) und Christian Morgenstern (1871–1914).

Determinismus als kosmisches Gesetz

Unseres Wissens gibt es kein stringenteres, unabdingbar unausweichlicheres Gesetz als das durch die Wissenschaft der Astronomie bestätigte. Dass diesem Gesetz nicht auch alles Leben und Geschehen auf der Erde eingeordnet ist, kann nur der hybride Indeterminismus bestreiten, der ideologisch an der Willensfreiheit des Menschen wider alle Erfahrung festhält. Damit liegt zumindest der Gedanke nahe, dass die astronomische Gesetzmäßigkeit auch als Entsprechung die astrologische, d.h. eigentlich kosmologische, etwa im Sinne Giordano Brunos (1548 – 1600), bedingt, was allerdings von den monotheistischen Religionen und ihren Zwangssystemen in der Regel bestritten wird. Wo diese sich als Herrschaftssysteme durchsetzen konnten, musste ein solcher Zusammenhang allerdings im Interesse von deren Aufrechterhaltung bestritten, ja bekämpft und als purer Aberglaube abqualifiziert werden. Der Aberglaube an einen die Welt regierenden, alles bewirkt habenden und weiterhin bewirkenden Schöpfergott, dessen Existenz niemand beweisen kann, verdrängte ein uraltes Wissen, wie überhaupt jede Religion alles Wissen zu unterdrücken suchte und sucht, das ihren durch nichts begründeten und durch nichts nachzuweisenden Glaubenssätzen widerspricht. Und so wurde Giordano Bruno am 17. Februar 1600 auf dem Campo di fiori öffentlich lebendig verbrannt.

Glaube freilich heißt, wie schon Paulus zugeben musste, Nichtwissen. “Credo quia absurdum est” (Ich glaube, weil es widersinnig ist). Dieser Ausspruch, der irrtümlich Augustinus zugeschrieben wird und damit zum Postulat des Christentums erhoben wurde, beruht auf dem Missverständnis einer Textstelle aus seinen Confessiones VI, 5, die sich gegen die Manichäer richtete, die erst durch dreisten wissenschaftlichen Anspruch die Leichtgläubigkeit zum besten haben und später dann befehlen, vieles ganz Fabelhafte und Absurde zu glauben, weil sie es nicht beweisen konnten, während die Kirche, den Offenbarungsglauben verkündend, von vornherein vorschrieb, zu glauben, was nicht bewiesen werden konnte.

Immerhin behauptete Augustinus mit seiner Sentenz „Credimus ut cognoscamus, non cognoscimus ut credamus“, Grundlage und Voraussetzung des Erkennens sei der Glaube, was Anselmus von Canterbury (1033–1109) zu der gedanklichen Akrobatik bewog: “Neque enim quaero intellegere, ut credam, sed credo, ut intellegam. Nam et hoc credo, quia nisi credidero, non intellegam.” Aber auch das ist nichts weniger als absurd.