Quasi staatenlos
Der Status der Westbank ist bekanntlich weiterhin kompliziert. Es gibt drei Zonen, welche in unterschiedlicher Abstufung Autonomie durch die palästinensische Regierung zulassen, aber im größten Teil der Westbank übt die israelische Armee immer noch die Sicherheitsüberwachung aus. Die Zonen sind in einem mosaikartigen Muster verschlungen, so dass ein Ortsunkundiger oft nicht weiß, in welcher er sich gerade befindet. Israelis dürfen nicht in die Zone mit voller Autonomie reisen, nicht von Seiten der Palästinenser wird ihnen das verboten, sondern ihre eigene Regierung verbietet das, zu ihrem eigenen Schutz. Wenn Rana reisen möchte, muss sie nach Amman zum Flughafen und bekommt von der palästinensischen Behörde ein Reisedokument ausgestellt, das aber nicht als Pass gilt. Sie ist quasi staatenlos.
Rana hofft darauf, dass Palästina bald unabhängig wird. "Das wird vieles zum besseren verändern." Ob sie nicht Angst habe, dass fundamentalistische Muslime an die Macht kämen und sie, eine Christin, unterdrücken könnten? "Nein, wir leben friedlich mit den Muslimen hier." Es ziehen zwar viele Christen weg, aber nicht aus Angst vor ihren Nachbarn, sondern wegen der Bewegungseinschränkungen. Sorge äußert sie allerdings in Bezug auf den IS. Das von ihnen besetzte Gebiet ist nicht weit entfernt und was mit Christen bei ihnen passiert ist bekannt.
Gefangene ihrer Angst und eingesperrt in ihrem Land
Das zweite große Problem, neben dem schwierigen Verlauf der Mauer, sind die Siedlungen israelischer Bürger auf dem Gebiet der Westbank, welche nur möglich sind durch massive Unterstützung der israelischen Regierung und Schutz der Armee. Von Ranas Haus aus sieht man Har Homa, eine wie eine Trutzburg gebaute jüdische Siedlung auf dem gegenüber liegenden Berg. Im UNO Sicherheitsrat war über diese Siedlung verhandelt worden, alle Mitgliedsländer waren gegen den Bau, aber die USA hatten damals ein Veto eingelegt.
Ich frage Rana, ob wir vielleicht etwas näher rangehen könnten, aber sie schüttelt vehement den Kopf: "Das würden sie nicht zulassen." Was würde denn passieren? Ich sehe doch, dass da ein Weg lang geht, ohne Zaun oder Schild. "Sie würden kommen und uns zurückschicken." Aber wem gehört denn das Land da? Warum können sie uns einfach davon vertreiben? "Das ist egal, sie würden trotzdem kommen. Wenn es um ihre Sicherheit geht, machen sie alles."
Ich frage mich, was jemanden dazu bewegt, in eine dermaßen abgeschirmte Siedlung zu ziehen inmitten von Territorium, das man als feindlich und gefährlich sieht. "Eigentlich sind es die Israelis, die sich selbst einschließen. Sie tun mir eigentlich leid, denn sie sind Gefangene ihrer Angst und eingesperrt in ihrem Land." sagt Rana.
Allgegenwärtige Geschichte der Vertreibung, Enteignung und Massaker
Rana zeigt mir auch die Flüchtlingslager in Bethlehem, welche inzwischen – nach siebzig Jahren der Vertreibung – zu Stadtteilen geworden sind, die schäbiger und enger aussehen als die regulären Bezirke. An allen Ecken ist der Zorn über die israelische Besatzung und die vergangenen Enteignungen zu spüren. Es gibt Aufzählungen an den Hausmauern der letztes Jahr in Gaza gestorbenen Kinder, über dem Tor prangt der große Schlüssel – das Symbol der Enteignungen.
Die ältesten Lager existieren seit dem Krieg 1948, der am Tag nach Ausrufung des israelischen Staates durch Ben Gurion zwischen Arabern und Juden ausbrach. Damals wollten die Araber die Zweistaatenlösung der UNO nicht akzeptieren und riefen dazu auf, "die Juden ins Meer zu werfen” oder sie "in ihrem Blut zu ertränken”. Die Juden ihrerseits, gerade dem Holocaust entkommen, waren nicht gewillt, sich erneut wehrlos niedermetzeln zu lassen und kämpften um das Land, das sie als das ihre, endlich ihr eigenes Land, ihre letzte Zuflucht begriffen.
Auf beiden Seiten gab es schlimme Massaker, Juden wurden aus vielen Siedlungen vertrieben oder getötet und genauso Araber, die auf dem jetzigen israelischem Gebiet lebten. Viele gaben ihre Besitztümer auf und flohen. Viele haben die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, eines Tages wieder in ihre alten Häuser auf israelischer Seite zurückzukehren und die Schlüssel werden von Generation zu Generation weitergegeben, so wie der Zorn und der Wunsch auf Rache. Um das Gemetzel des Krieges von 1948 zu verstehen, ist die Lektüre von Amos Oz hilfreich. Er schreibt in seinem Buch "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis":
"Im Leben des Einzelnen wie im Leben ganzer Völker brechen die schlimmsten Konflikte oft zwischen zwei Verfolgten auf. Es ist ein sentimentales Wunschdenken, dass sich die Verfolgten und Unterdrückten solidarisieren, um gemeinsam gegen ihren grausamen Unterdrücker zu kämpfen.[…] Nicht selten sieht der eine in dem anderen nicht einen Schicksalsgenossen, sondern die grauenerregende Fratze ihres gemeinsamen Verfolgers.
Vielleicht ist dies auch der Fall bei dem rund hundertjährigen Konflikt zwischen Arabern und Juden: Europa, das die Araber durch Imperialismus, Kolonialismus, Ausbeutung und Unterdrückung erniedrigte, ist dasselbe Europa, das auch die Juden verfolgte und unterdrückte und schließlich die Deutschen gewähren ließ oder sogar unterstützte, als sie darangingen, die Juden aus allen Teilen des Kontinents zu verschleppen und fast vollständig zu ermorden. Doch die Araber sehen in uns nicht das halb hysterische Häuflein Überlebender, sondern einen neuen überheblichen Ableger des technologisch überlegenen, ausbeuterischen kolonialistischen Europa, das listigerweise – diesmal im zionistischen Gewand – in den Orient zurückgekehrt ist, um erneut auszubeuten, zu enteignen und zu unterdrücken. Und wir wiederum sehen in ihnen nicht die Opfer gleich uns, nicht Brüder in der Not, sondern pogromlüsterne Kosaken, blutdürstige Antisemiten, maskierte Nazis, als wären unsere europäischen Verfolger hier im Land Israel erneut aufgetaucht, hätten sich Kefijes um den Kopf geschlungen und Schnurrbärte wachsen lassen, wären aber immer noch jene, die seit eh und je nach jüdischem Blut dürsten und uns aus purem Vergnügen die Kehle durchschneiden."
Mischung aus orientalischer Großzügigkeit und freiheitlichem Denken
Zurückgekehrt in den israelischen Teil des Landes, habe ich intensive Gespräche. Israelis, so wie ich sie kennengelernt habe, sind aufgeschlossen, diskutierfreudig, direkt und nicht zurückhaltend mit ihrer Meinung. Dabei meist sehr belesen und gut informiert. Ich stelle fest, dass es eine sehr lebendige, offene und freie Gesellschaft ist mit einem angenehm ungezwungenen Umgang miteinander. Eigentlich eine gute Mischung aus orientalischer Großzügigkeit und freiheitlichem Denken. Orthodoxe Juden habe ich allerdings nicht gesprochen.
Es ist eine Gesellschaft, die durchaus große Integrationsanstrengungen geleistet hat, denn die Juden kamen aus allen Kontinenten hierher, neben den arabischen Juden, die schon hier waren. Die meisten mussten erst hebräisch lernen und viele waren schwer traumatisiert.
Erst hier verstehe ich, wie schwer die Schuldgefühle derer gewesen sein müssen, die den Holocaust überlebt haben, aber ihre Angehörigen nicht schützen konnten, die nicht gekämpft haben, sondern geflohen sind. Und es muss einen Bruch zwischen dieser Opfer-Generation und ihren in Israel aufgewachsenen Kindern gegeben haben, welche den Entschluss fassten, nie wieder kampflos zu fliehen. Kishon schreibt in seinen Kurzgeschichten häufig über die vitale entschlossene junge israelische Generation, die ihre Eltern nicht verstehen und diese ihre Kinder nicht. Der jüdische Philosoph Leibovitz warf seinen Landesgenossen vor, nichts aus dem Holocaust gelernt zu haben. Ich denke, sie haben gelernt. Aber ist es das richtige?
Eine Integrationsmaßnahme ist der obligatorische Wehrdienst, den jeder Junge und jedes Mädchen nach Abschluss der Schule zu leisten hat. Die Armee ist sicherlich die sichtbarste Institution im Land. So sieht man vor allem an den Wochenenden die Wehrdienstler in Uniform und nicht selten mit Maschinengewehren in großen Gruppen an den Bahnhöfen und in den Zügen. Ein Anblick, der einen Ausländer mehr verunsichert als sicher fühlen lässt. Doch laut Auskunft meines Gastgebers sei es noch nie zu einem Zwischenfall à la amoklaufendem Jugendlichen gekommen.
2 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
"[...] den anderen zu verstehen versuchen die Grundlage ist, um einen menschlichen Kontakt aufzubauen und die Grundlage für Versöhnung mit all den schrecklichen Dingen, die beide Seiten sich angetan haben.
Solange dies von ranghöchsten Personen auf beiden Seiten, wie jüngst der wiedergewählte N. in Israel, torpediert wird, sehe ich schwarz.
Ich war noch nicht in der Gegend. Aber der ähnlich gelagerte Bericht von Andreas Altmann ("Verdammtes Land") hat mich äußerst pessimistisch zurückgelassen.
Walter Müller am Permanenter Link
Es ist ja alles so einfach: Die Menschen müssen nur lieb zueinander sein, dann herrscht eitel Friede und Sonnenschein. Mit solchen naiven Vorstellungen kommen leider viele aus Palästina zurück.