Keith Jarrett zum 70. Geburtstag

Das freie Spiel der musikalischen Kräfte

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Keith Jarrett in Frankreich (2003)
Keith Jarrett in Frankreich (2003)

BONN. (hpd) Der Musikjournalist Wolfgang Sandner präsentiert mit seinem Buch "Keith Jarrett. Eine Biographie" eine Lebensbeschreibung des Jazz-Musikers, der insbesondere durch seine Piano-Solo-Konzerte bekannt geworden ist. Die Darstellung konzentriert sich anschaulich und kompetent auf das künstlerische Schaffen und Wirken, lässt dabei aber mitunter den Menschen hinter dem Musiker vergessen.

Am 8. Mai 2015 feiert Keith Jarrett seinen 70. Geburtstag. Der US-amerikanische Pianist gehört zu den bedeutendsten und vielseitigsten Musikern der Gegenwart. Sein 1975 aufgenommenes "Köln Concert", das aus vier frei improvisierten Klavierstücken mit den nichtssagenden Titeln Part I, Part II a, b und c besteht, ist die bis heute meistverkaufte Solo-Platte des Jazz. Dafür bedurfte es keiner besonderen Förderung durch die Präsenz der Musik in Filmen oder Werbespots. Die neue Art der Improvisation faszinierte offenbar ganz unterschiedliche Menschen überall auf der Welt zu unterschiedlichen Zeiten.

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Indessen ist Jarrett nicht auf Piano-Solo-Konzerte festgelegt: Er komponierte eigene klassische Musik und spielte Bach und Schostakowitsch ein. Er gründete ein europäisches Quartett zusammen mit dem norwegischen Saxophonisten Jan Garbarek. Und er spielt mit seinem amerikanischen Trio mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette immer wieder improvisiert und innovativ Standards aus dem Great American Songbook.

Anlässlich seines runden Geburtstages geht Wolfgang Sandner, seit drei Jahrzehnten Musikredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem Leben und Werk des Pianisten in seinem Buch "Keith Jarrett. Eine Biographie" nach. Bereits im Vorwort schildert er den Portraitierten als "radikalen Verweigerer des Wortes" (S. 10), der gegenüber Erklärungen von Musik immun sei. Diese Einstellung von Jarrett in Kombination mit seinem zurückgezogenen Leben erklärt wohl auch, warum Sandner in seiner Lebensbeschreibung nicht so viel über den Menschen hinter dem Pianisten zu berichten weiß.

Die ersten Kapitel über die Jugend behandeln eher das damaligen Ansehen des Jazz denn das Leben des jungen Jarrett. Es hießt hier aber auch: "Als Keith … sehr früh seine Begabung zeigte und mit drei Jahren begann, Klavier zu spielen, bekam er eine klassische musikalische Ausbildung …" (S. 20). Dann ist Sandner schon rasch dabei, Jarretts Erfahrungen in Bands von Jazz-Größen wie Art Blakey, Charles Lloyd und Miles Davis zu thematisieren.

Fortan steht fast nur noch die Beschreibung des musikalischen Schaffens im Zentrum. Der Autor schreibt dabei als Kenner so, dass man die Musik nahezu aus seinen Worten hören kann. Besondere Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren dabei die Solo-Konzerte: "Sein 'Free Playing', das paradoxe Konzept eines konzeptionslosen Spiels, bei dem jegliche musikalische Absicht, Prägung, Vorbildung so weit wie möglich ausgeschlossen werden sollte, diese aberwitzige Idee einer unbefleckten Improvisation ist seinerzeit so radikal gewesen, dass man sie neben die Handvoll revolutionärer Gedanken und Ereignisse in der Geschichte des Jazz stellen muss – auch wenn damit eine Aufführungspraxis bezeichnet wird, als deren Repräsentant Keith Jarrett fast ganz alleine gelten kann" (S. 172).

Die große Anstrengung und Belastung derartiger Kunst hatte aber auch einen Preis, führte sie doch zu einem chronischen Erschöpfungssyndrom mit langjährigen Folgen. Die darauf bezogenen Ausführungen gehören zu den wenigen Passagen über das Individuum hinter dem Musiker.

Auch das als "intime Äußerung" (S. 244) gedeutete "Köln Concert", die improvisierten Standards mit seinem US-Trio und die Aufnahmen und Kompositionen von klassischer bzw. neuer Musik finden jeweils Aufmerksamkeit in einem ganzen Kapitel. Am Ende deutet Sandner den Pianisten als "Neinsager schlechthin" (S. 308), habe sich Jarrett doch mit ausgeprägter Selbstkritik diversen Vereinnahmungsversuchen verweigert.

Auffällig ist, dass eine gesellschaftliche Dimension seiner Musik nicht thematisiert wird. Darüber hinaus fehlen Ausführungen zum Musikbusiness, sieht man einmal von dem eigenen Kapitel über den deutschen Jarrett-Produzenten Manfred Eichner ab. Bei ihm bestehen auch künstlerische und nicht nur kommerzielle Erwägungen, was in anderen Bereichen dieser "Haifisch-Branche" (S. 97) anders war und ist. In der Gesamtschau bringt Sandner mit seiner – stellenweise etwas unkritischen - Biographie den Lesern einen faszinierenden Musiker nahe: Keith Jarrett steht für das freie Spiel der musikalischen Kräfte aus Bauch und Herz, Kopf und Seele.
 


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Wolfgang Sandner, Keith Jarrett. Eine Biographie, Berlin 2015 (Rowohlt Berlin-Verlag), 361 S., 22,95 Euro

Keith Jarrett hat sich selbst zum 70. Geburtstag ein Geschenk gemacht: die LP/CD "Hamburg ’72" - eine Einspielung mit Charlie Haden und Paul Montian, die von Manfred Eicher im vergangenen Jahr neu abgemischt wurde.