Eine Stellungnahme aus effektiv-altruistischer Sicht

Singer vs. Schmidt-Salomon: Wer hat Recht?

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BASEL. (hpd) Peter Singers jüngste Aussagen sowie Michael Schmidt-Salomons Replik haben hohe mediale Wellen geworfen und für kontroverse Diskussionen gesorgt. Die folgende Stellungnahme gibt den Standpunkt der GBS Schweiz wieder, die sich mit der Philosophie des effektiven Altruismus (EA) identifiziert.

Peter Singer hat den EA nicht selbst entworfen, sondern bewirbt ihn vor allem öffentlich. Unter effektiven AltruistInnen sind manche seiner Aussagen stark umstritten. Einig sind sich die allermeisten EAs darin, dass viele der Themen, die aktuell kontrovers diskutiert werden, für den EA irrelevant sind. Auch einige von Schmidt-Salomon in diesem Kontext geäußerte Bemerkungen werden von EAs kritisiert – obgleich zu betonen ist, dass sich Schmidt-Salomon mit der GBS Deutschland schon länger für die Grundideen des EA stark macht.

Folterverbot, Utilitarismus und Deontologie

Sollte man in einer hypothetischen Situation ein Kind foltern, wenn man damit die Folter unzähliger Kinder verhindern kann? Dazu meint Singer: Ja. Denn jedes Kind hat dasselbe Recht, von Schäden frei zu bleiben. Die Folter der unzähligen Kinder zuzulassen käme dem folgenden Urteil gleich: Das eine Kind hat ein gewichtigeres Recht, von Folter frei zu bleiben, als die unzähligen Kinder zusammen. Ein solches Urteil wäre ethisch nicht zu rechtfertigen (vgl. dazu unseren Artikel “Wie wir moralische Entscheidungen fällen”) und wäre insbesondere mit dem Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleicher Interessen unvereinbar. In dieser theoretischen Hinsicht scheint der Utilitarismus vernünftig zu urteilen. Aber: Es gibt eine gesellschaftlich-praktische Hinsicht, in der die Deontologie – der (angebliche) philosophische Gegenspieler des Utilitarismus – vernünftig urteilt: Rechtlich ist es wichtig, ein striktes Folterverbot zu statuieren. Denn würde man Folter zulassen, würde dies mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass sie zu Zwecken verwendet wird, die nicht der Leidminderung dienen. Zudem senden grausame Staatspraktiken gefährliche Signale aus, die auch utilitaristischen Zielen längerfristig zuwiderlaufen. Utilitarismus und Deontologie sind, so verstanden, miteinander vereinbar und ergänzen sich gut (vgl. dazu auch das Konzept des Two-Level-Utilitarismus).

Zudem: Eine wichtige Erkenntnis der zeitgenössischen Ethik besteht in diesem Zusammenhang darin, dass es gar nicht notwendig ist, zwischen verschiedenen Werten bzw. Prinzipien strikt zu wählen: Wenn etwa bei konkurrierenden naturwissenschaftlichen Theorien Unsicherheiten bestehen, wäre es irrational, mit einer Wahrscheinlichkeit von 100% an die eine oder andere zu glauben. Eine breitere Wahrscheinlichkeitsverteilung – etwa 50-30-20%, bei drei konkurrierenden Theorien – ist dann angemessen. Analoges gilt für die Wahrscheinlichkeitsverteilung und die Gewichtung bei konkurrierenden Ethiken: Man kann unterschiedlichen Theorien – etwa dem Utilitarismus und der Deontologie – Plausibilität zusprechen und sie in der Praxis entsprechend (gewichtet) berücksichtigen.

Schmidt-Salomon unterstellt Singer, uns mit “ein Kind vs. unzählige Kinder” vor eine falsche Alternative zu stellen. Diese Kritik ist merkwürdig, denn es handelt sich um ein Gedankenexperiment. Gedankenexperimente haben nicht zum Ziel, die Realität abzubilden. Es geht ihnen darum, ethisch interessante Variablen zu isolieren. Sie sind ein Werkzeug, herauszufinden, worin unsere Handlungsziele letztlich bestehen (vgl. dazu den Artikel “Gedankenexperimente in der Ethik”): Geht es letztlich darum, möglichst viel Leid zu verhindern – oder eher darum, aktive Leidverursachung zu verhindern? Das eingangs erwähnte Gedankenexperiment scheint nahezulegen, dass es um Ersteres geht.

Zu Recht gibt Schmidt-Salomon allerdings zu bedenken, dass es gefährlich ist, entsprechende Gedankenexperimente in praktisch-politischen Kontexten überhaupt vorzubringen – insbesondere wenn nicht betont wird, dass die darin enthaltenen Annahmen bloß im Rahmen des hypothetischen Gedankenexperiments gelten. Im praktisch-politischen Kontext erfüllen Gedankenexperimente nicht den erhofften Zweck und laden zu Missverständnissen ein. Hier konkret z.B. zum Missverständnis, das rechtliche Folterverbot werde von Singer infrage gestellt – was nicht der Fall ist.

Viele EAs versuchen, ihr Handeln auf die utilitaristische Leidminimierung auszurichten und dabei keine deontologischen Handlungsregeln zu verletzen. Das ist ein vernünftiges Win-Win. Der EA kann insofern als Synthese von Utilitarismus und Deontologie verstanden werden: Einerseits verfügen sowohl das utilitaristische Ziel als auch (viele) deontologische Handlungsregeln grundsätzlich über Plausbilität, und andererseits kann argumentiert werden, dass deontologische Regeln in der Praxis oft auch aus dem Utilitarismus selbst folgen.

“Lebensrecht für alle, Lebenspflicht für niemanden!”

Schmidt-Salomon schreibt in seiner Replik:

“Selbstverständlich sollte jeder Mensch, ob behindert oder nicht, ab der Geburt ein unverbrüchliches Recht zu leben besitzen, aber er sollte nicht gezwungen sein, weiterleben zu müssen, wenn dies nicht in seinem eigenen Interesse ist. Dies ist eine klare, unmissverständliche Position, für die man auch in der Bevölkerung großen Rückhalt finden kann! Deshalb ist es mir völlig unverständlich, warum Peter Singer das Recht auf Leben ab der Geburt so scharf angreift!”

Das Problem dabei: Es ist nicht in allen Fällen klar, dass das Weiterleben eines Säuglings tatsächlich in dessen Interesse ist. Der deontologisch orientierte Zürcher Ethik-Professor Peter Schaber äusserte sich in einem Zeitungsinterview zur Frage “Aber ist es denn nicht vertretbar, einen kleinen behinderten Menschen von großen Schmerzen zu befreien?” wie folgt:

“Es macht dann Sinn, auf gewisse lebenserhaltende Operationen zu verzichten, wenn die Eltern das wünschen. Mit dieser passiven Sterbehilfe darf ein Kind sterben, wenn sein Leben nur Leiden bedeutet.”

In der Tat ist dies in unseren Spitälern gängige Praxis. Aus einem Artikel in der Zeit:

“Auch die deutsche Palliativmedizinerin Thela Wernstedt sieht das holländische Protokoll [das bei Säuglingen auch die aktive Sterbehilfe1 erlaubt] skeptisch: ‘Ich fände es ungut für unser Land, wenn wir eine ähnliche Regelung wie in Holland anstrebten.’ Die Ärztin von der Medizinischen Hochschule in Hannover wird gerufen, wenn es keine Hoffnung mehr auf Heilung gibt und es darum geht, Schmerzen zu lindern und das Sterben zu erleichtern."

Weiter zum niederländischen Protokoll:

"Die Idee für das Sterbehilfe-Protokoll reifte in Eduard Verhagen einige Jahre, nachdem er sich aus Angst vor dem Gesetz nicht getraut hatte, der elterlichen Bitte nach Lebensbeendigung eines schwer kranken Babys nachzukommen. Das Kind war mit einer extremen Form der Epidermolysis bullosa geboren worden, einer Fehlbildung der Haut. Bei jeder Berührung löste sich die Haut ab – bis am ganzen Körper nur noch rohes Fleisch zu sehen war. Bei den Verbandswechseln bekam das Baby Morphin, um die entsetzlichen Schmerzen zu lindern. Durch den Vernarbungsprozess verkümmerten die Gelenke, und der Säugling konnte sich bald kaum noch rühren. Fast alle Patienten entwickeln später einen bösartigen Hautkrebs. Das blieb dem Kind erspart. Es starb im Alter von sechs Monaten, zu Hause, an einer Lungenentzündung."

Es gibt Fälle, in denen das Weiterleben unbestritten nicht im Interesse des Säuglings ist. In Fällen schlimmsten Leids scheint es ethisch geboten, von einer Lebens- bzw. Leidensverlängerung abzusehen – das würden wir uns auch für uns selbst wünschen, wenn wir in der Position des entsprechenden Individuums wären. Eine solche Praxis ist mit dem Lebensrecht kompatibel, denn das Lebensrecht impliziert keine Pflicht, am Leben zu bleiben, wenn das Weiterleben nicht mehr im Interesse des betroffenen Individuums ist. Die GBS Deutschland setzt sich mit ihrer Sterbehilfe-Kampagne in der Tat auch für dieses Prinzip ein: “Lebensrecht für alle, Lebenspflicht für niemanden!” Dieses Prinzip speist sich aus altruistischem Mitgefühl und sollte für alle empfindungsfähigen Wesen gelten – auch für Säuglinge.

Was die Frage nach Behinderung und Krankheit bei Föten angeht, moniert Schmidt-Salomon zu Recht, dass Singer viel zu geneigt scheint, etwa beim Down-Syndrom niedrige Lebensqualität anzunehmen. Empirische Studien zeigen in eine andere Richtung. Singer verkennt, dass die Behindertenverbände auch insofern Recht haben, als etwa die (gesellschaftlich übliche) Spätabtreibung von Föten mit Down-Syndrom in altruistischer Perspektive durchaus Probleme aufgibt: Die entsprechenden Abtreibungen scheinen hauptsächlich egoistisch motiviert – man will sich kein behindertes Kind aufbürden. Dieser Wunsch ist verständlich, aber nicht unproblematisch. Denn aus EA-Sicht ist es zentral, gesellschaftlich auf eine bedeutend stärkere altruistische Orientierung hinzuwirken. Eine altruistische Behindertenpolitik muss lauten: Mehr Engagement und Ressourcen für die schwächsten und verletzlichsten Mitglieder unserer Gesellschaft! Es ist skandalös, dass es politisch beispielsweise kaum gelingt, Großunternehmen zu verpflichten, Arbeitsplätze für Behinderte zu schaffen.

Für den EA ist die ethische Orientierung an der Empfindungsfähigkeit, d.h. an Glück und Leid zentral. Daraus ergeben sich auch wichtige Folgerungen für die Debatte um den moralischen Status von Föten oder Neugeborenen: Schmidt-Salomon stellt fest, dass die populäre Parole “Mein Bauch gehört mir!” philosophisch völlig unreflektiert ist. Ohne Begründung setzt sie voraus, dass es sich beim Embryo bzw. Fötus um ein Wesen handelt, das über keinerlei Rechte verfügt. Diejenigen Singer-KritikerInnen, die “Mein Bauch gehört mir!” schreien, würden gut daran tun, sich systematisch mit Fragen auseinanderzusetzen wie: Was genau unterscheidet ein in der 25. Woche frühgeborenes Baby von einem gleichaltrigen Fötus im Mutterleib, der allenfalls Opfer einer Spätabtreibung wird?

Singer hat, wie Schmidt-Salomon richtig erwähnt, den Präferenz-Utilitarsimus in seinem neuesten akademischen Buch  “The Point of View of the Universe” zugunsten des hedonistischen Utilitarismus aufgegeben (vgl. den dritten Abschnitt unten). Der Präferenz-Utilitarismus behauptet, dass eine Schädigung dann vorliegt, wenn Präferenzen verletzt werden. Der hedonistische Utilitarismus dagegen besagt, dass Individuen dann geschädigt werden, wenn ihnen Leid zugefügt oder Glück vorenthalten wird. Die Implikationen dieses Ansatzes scheint Singer allerdings noch nicht vollständig durchdacht zu haben: Die Tötungsfrage kommt nun nämlich ohne die Debatte darüber aus, ob und inwieweit Lebewesen über zukunftsbezogene Präferenzen verfügen. Es genügt die Tatsache, dass es empfindungsfähige Wesen sind, die Glück und Leid empfinden können. Tötet man sie, nimmt man ihnen alle Glückserfahrungen, die sie noch hätten haben können.

Selbstverständlich sind alle Menschen nach der Geburt empfindungsfähige Wesen und haben daher ein Recht auf Leben. Doch die Empfindungsfähigkeit setzt nicht erst bei der Geburt ein: Die Neuronalentwicklung des Fötus legt nahe, dass sie bereits ab der 24. Schwangerschaftswoche vorhanden sein könnte. Daraus resultiert ein Argument für die These, dass Spätabtreibungen ethisch bedeutend problematischer sind, als Singer und Schmidt-Salomon aktuell annehmen. Dasselbe gilt im Übrigen auch für die Tötung nicht-menschlicher Tiere: Auch sie sind empfindungsfähige Individuen, die (außer im Fall gerechtfertigter Sterbehilfe) etwas zu verlieren haben, nämlich künftige Glückserfahrungen.

Kurzum: Die starke Berücksichtigung auch des hedonistischen Ansatzes – im Gegensatz zum (ausschließlichen) Präferenzansatz – macht altruistisch Sinn, entspricht dem GBS-Slogan “Heidenspaß statt Höllenqual (für alle im Diesseits)” und liefert gewichtige Argumente für eine Ausdehnung des Lebensrechts. Zusätzlich zu allen geborenen Menschen sollte es folgerichtig auch Föten in der späten Schwangerschaftsphase sowie nicht-menschlichen Tieren zugesprochen werden.

Individuum versus “Kollektiv”

Schmidt-Salomon schreibt:

„Hinter der Radikalität, die in dem NZZ-Interview zum Ausdruck kommt, [steckt vermutlich eine] Abkehr Singers von den präferenz-utilitaristischen Positionen“, die er einst vertreten hat: „Im Mittelpunkt des Singerschen Ansatzes standen früher die ‚Interessen der Individuen‘ – nicht der ‚Nutzen der Gesellschaft‘. Ich habe den Eindruck, dass sich dies in den letzten Jahren geändert hat. Singers Argumentation zielt zunehmend auf den größtmöglichen Nutzen innerhalb eines abstrakten Gesamtsystems ab. Die Individuen erscheinen in seinem Denksystem nicht mehr als einzigartige Lebewesen mit ureigenen Interessen, sondern als anonyme Container für quantifizierbare Wohl- oder Unwohlempfindungen, die gegeneinander verrechnet werden. So sehr ich es nachvollziehen kann, dass Peter Singer angesichts der erdrückenden Ungerechtigkeit und Armut in weiten Teilen der Welt eine Überwindung des Egoismus einfordert, halte ich es sowohl ethisch als auch politisch für höchst problematisch, wenn die Anforderungen des Kollektivs so sehr über die Interessen des Individuums gestellt werden.“

Diese Argumentation ist philosophisch unverständlich. Alle Varianten des Utilitarismus sind gleichermaßen “kollektivistisch” bzw. “individualistisch”. Auch dem Präferenz-Utilitarismus geht es um den Nutzen der Gesellschaft – definiert als Erfüllung der Präferenzen möglichst vieler, im Idealfall aller Individuen. Zwischen den “Interessen der Individuen” und dem “Nutzen der Gesellschaft” besteht kein Unterschied. Wollte man den Präferenz-Utilitarismus tendenziös beschreiben, könnte man auch formulieren: Die Individuen erscheinen in seinem Licht als “anonyme Container” für erfüllte und unerfüllte Präferenzen, die gegeneinander verrechnet werden. Im Übrigen: Empirisch-faktisch sind wir biologische Gehirne – und biologische Gehirne wiederum sind Container für Präferenzen sowie Glücks- und Leidempfindungen. Was sollte daran problematisch sein? Und die “Verrechnung” folgt logisch aus der gleichen Berücksichtigung gleicher Interessen.