Die Rede vom abstrakten “Kollektiv” verschleiert die Fakten, um die es geht. Sie suggeriert, Individuen würden einer von ihnen verschiedenen Grösse – dem “Kollektiv” – unterstellt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Individuen sind das Kollektiv. Ethische Entscheidungsfälle vom Typ “Individuum vs. Kollektiv” sind, klarer formuliert, Fälle vom Typ “ein Individuum vs. mehrere Individuen”. Es ist merkwürdig, dass man hier offenbar den Impuls verspürt, zu sagen, die Interessen eines Individuums seien höher zu gewichten als die Interessen mehrerer (!) Individuen – von denen also jedes weniger zählt bzw. die zusammen weniger zählen als das eine Individuum? Dieser Impuls scheint mit einem objektiven Blick auf die Problemlage, d.h. mit dem Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleicher Interessen unvereinbar. Denn nur wenn so gehandelt wird, dass die größte Anzahl Individuen von Schäden frei bleibt, wird jedem einzelnen Individuum a priori (hinter dem “Schleier des Nichtwissens”) die höchste Wahrscheinlichkeit zuteil, verschont zu bleiben.
Schmidt-Salomon hat uns in persönlicher Korrespondenz erläutert, dass sich seine Kritik im Zusammenhang “Individuum versus Kollektiv” besonders auf die Suizidfrage beziehe. Es geht dabei um die folgende Singer-Passage, an der er – trotz des theoretischen Vorrangs der größeren Anzahl Individuen – zu Recht Anstoß nimmt:
“Empfindet sich jemand als Belastung für seine Familie, ist es nicht unbedingt unvernünftig, dass er sein Leben beendet. Wenn seine Lebensqualität eher schlecht ist und er sieht, wie seine Tochter viel Zeit aufwendet, um sich um ihn zu kümmern, und dabei ihre Karriere vernachlässigt, dann ist es vernünftig, ihr nicht weiter zur Last fallen zu wollen.”
Erstens sollte Singer das Beispiel im Rahmen seiner eigenen Prämissen anders wählen: Aus altruistischer Sicht rational und nobel wäre es allenfalls, am Lebensende auf die Ressourcen zur Erhaltung des eigenen Lebens zu verzichten und zu verfügen, dass diese an die effektivsten Hilfsorganisationen zu spenden seien. Empirische Studien belegen, dass es in armen Ländern möglich ist, mit lediglich $100 ein gesundes Lebensjahr zu finanzieren bzw. mit $3000 ein Leben zu retten. Die entsprechenden medizinischen Interventionen fördern die Gesellschaft nachweislich auch nachhaltig, etwa im Bildungs- und Wirtschaftsbereich. In reichen Ländern kostet die Rettung eines Lebens in der Regel mindestens das Hundertfache. Wenn jedes Menschenleben – unabhängig vom Geburtsort – gleich zählt, ist es geboten, dort prioritär zu helfen, wo bei gegebenen Hilfsressourcen die meisten Leben gerettet werden können, d.h. in den ärmsten Ländern.
Zweitens sollte Singer unbedingt davon absehen, hyperaltruistische Selbstaufopferung zu fordern, die mit der menschlichen Psychologie inkompatibel ist: Wenn der Altruismus effektiv sein soll, muss er gut praktikabel und lebbar sein. Das sollte Singer eigentlich wissen. Natürlich wäre es altruistisch nobel, auf kleinstmöglichem Fuß zu leben und 50% des eigenen Einkommens an die effektivsten lebensrettenden Organisationen zu spenden. Doch Singers Organisation “The Life You Can Save” fordert von ihren Mitgliedern nicht 50%, sondern rund 10%. Warum? Wenn uns der Altruismus überfordert, wird er als Bewegung nicht wachsen können und insgesamt bedeutend weniger effektiv sein, als er andernfalls gewesen wäre.
Solidaritätsbruch mit den Hilfsbedürftigen “unserer” Gesellschaft?
Schmidt-Salomon schreibt:
“[Es kann] doch wohl nicht im Sinn des von Peter Singer propagierten ‘effektiven Altruismus’ sein, die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen in unserer Gesellschaft aufzukündigen, um mehr Hilfsbedürftige in anderen Teilen der Welt zu retten. Es [ist] geradezu absurd, das eine gegen das andere auszuspielen, da die Hilfsgelder nicht aus demselben Topf stammen würden und die finanziellen Ressourcen nach ihrem Einsatz keineswegs aus der Welt verschwunden seien, sondern bloß bei anderen Marktteilnehmern landen würden, die sie wieder einsetzen könnten – nicht zuletzt auch zu altruistischen Zwecken.”
Damit weist er zu Recht darauf hin, dass falsche Signale ausgesandt werden, wenn zuerst bei den Hilfsbedürftigen der eigenen Gesellschaft gespart wird. Gleichzeitig ist es aber ethisch legitim und wichtig, mit Singer die provokative Frage aufzuwerfen, ob es denn an sich gerechtfertigt ist, das Leid im eigenen Land monetär zur priorisieren. Der eine Topf, den die Gesellschaft zum aktuellen Zeitpunkt für altruistische Zwecke aufzuwenden bereit ist, ist beschränkt. Und das Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleicher Interessen gebietet es, das Maximum aus ihm herauszuholen. Weil materielle Ressourcen einen abnehmenden Grenznutzen haben, ist es geboten, Hilfsleistungen an diejenigen Menschen zu priorisieren, die aktuell über die wenigsten Ressourcen verfügen und am stärksten leiden. 850 Millionen Menschen sind nach wie vor permanent unterernährt, 20.000 Kinder sterben täglich an den Folgen. Der Gegensatz zwischen “unserer Gesellschaft” und “anderen Teilen der Welt” scheint aus humanistischer Sicht ungerechtfertigt. Gleiche Interessen sind gleich zu berücksichtigen, unabhängig von ihren räumlichen Koordinaten – jeder Mensch ist Teil unserer Gesellschaft. Man stelle sich vor, die 20.000 Kinder würden jeden Tag in Deutschland sterben. Würde dann irgendjemand bestreiten, dass der Verhinderung dieser Katastrophe allerhöchste ethisch-politische Priorität gebührt – und nicht den übrigen sozialstaatlichen Maßnahmen? Warum sollte die räumliche Distanz nun einen Unterschied machen? Leid wird nicht dadurch weniger schlimm, dass es sich in der Ferne ereignet. Vorstellungen von Solidarität mit “unserer” Gesellschaft enthalten implizit oft (nationalistische) Gruppenegoismen, die mit humanistisch-altruistischen Zielen unvereinbar sind.
Die schlechtestgestellten Mitglieder der Weltgesellschaft (in der aktuellen täglichen Katastrophensituation) grundsätzlich zu priorisieren, zeugt von ethischem und ökonomischem Sachverstand. Politischer Sachverstand – und diesen Aspekt betont Singer in seiner Analyse nur ungenügend – gebietet es hingegen tatsächlich, von Forderungen abzusehen, die gesellschaftlich schlicht überfordernd und untragbar wären. Schmidt-Salomons Singer-Kritik trifft in diesem wesentlichen Punkt zu: Maximal effektiv ist der Altruismus nicht etwa dann, wenn er politisch für die Senkung der lokalen Hilfsressourcen eintritt oder zu entsprechenden Missverständnissen einlädt – sondern dann, wenn er für eine Erhöhung des altruistischen Hilfstopfs insgesamt plädiert und eine Allokation der neu hinzugefügten Hilfsressourcen auf die ärmsten Weltregionen vorschlägt. So wie es die Effektivität gebietet, Individuen nicht zu überfordern, dürfen auch (lokale) Gesellschaften nicht überfordert werden: Um effektiv helfen zu können, müssen privilegierte Gesellschaften ein hinreichendes Mass an interner Solidarität und Stabilität aufrechterhalten. Wiederum gilt: Die deontologische Intuition (“Eigengruppe und Nahbereich zuerst!”) und der Utilitarismus (“Priorisiere diejenigen Weltregionen, die das meiste Leid enthalten!”) stehen nicht im zwingenden Widerspruch, sondern treffen sich in der praktischen Anwendung des EA.
Was ist von Schmidt-Salomons Argument zu halten, dass lokal – statt global – eingesetzte Hilfsressourcen ja nicht aus der Welt verschwänden, sondern bloß bei anderen Marktteilnehmern landeten, die sie auch zu altruistischen Zwecken einsetzen könnten? Aus ökonomischer Sicht leider nicht viel: Man stelle sich vor, ein Spital sollte sich (mit höchster Priorität) bessere chirurgische Instrumente anschaffen. Wäre es rational bzw. nutzenmaximierend, stattdessen in neue Betten zu investieren und darauf zu hoffen, dass die Bettenproduzenten danach an die Anschaffung chirurgischer Instrumente spenden werden? Schmidt-Salomons Argument scheint von analoger Struktur zu sein.
Empirische Studien zeigen, dass in den ärmsten Regionen unserer Weltgesellschaft mit gegebenen altruistischen Ressourcen hundertmal (!) mehr Menschenleben gerettet werden können als in reichen Regionen. Es ist nicht zielführend, in reichen Regionen zu investieren und danach auf Spenden zu hoffen, die höchstwahrscheinlich ausbleiben werden. Zudem: Die effektiv lebensrettenden Maßnahmen in den ärmsten Regionen bewirken nachweislich auch positive Fortfolgen. Randomisiert-kontrollierte Studien belegen, dass die Entwurmung von Kindern nicht nur einen hohen medizinischen Nutzen hat, sondern auch dazu führt, dass die Kinder rund 25% weniger Schultage verpassen und später rund 20% mehr verdienen. Diese Ressourcen können dann auch wieder (altruistisch) investiert werden. Und weil sie sich in den ärmsten Weltregionen befinden, ist es wahrscheinlicher, dass sie wiederum dort investiert werden, wo sie am dringendsten benötigt werden.
Rationaler Diskurs
Die Rationalität des aktuellen Diskurses um die oben thematisierten Fragen leidet unter der Singer-Kontroverse. Die Medien konzentrieren sich auf die umstrittensten Aussagen und lassen Singers Argumente im Bereich der Weltarmut oder des Tierschutzes – den leidquantitativ wichtigsten Themen – untergehen. Die Wellen sind hoch und die Gemüter erregt, so dass sich viele KritikerInnen gar nicht mehr mit Singers Argumenten auseinandersetzen, sondern bloß mit einer oft tendenziösen Auswahl seiner kontraintuitivsten Konklusionen. Dabei wird ignoriert, dass diese nicht selten im Kontext philosophischer Gedankenexperimenten aufgestellt wurden und somit auch von Singer selbst – der als Philosoph spricht – im politisch-rechtlichen Kontext nicht ohne Berücksichtigung gesellschaftlicher Realitäten gefordert würden. Man muss Singers philosophischen Aussagen nicht zustimmen, um der Meinung zu sein, die KritikerInnen müssten dieser Tatsache besser Rechnung tragen. Dass Singer gute Absichten hat, steht zudem außer Frage: Sein persönliches altruistisches Engagement und sein philosophisches Lebenswerk zeigen zweifelsohne, dass er sich aufrichtig und unparteilich um das Wohl anderer sorgt.
Schmidt-Salomon hätte unseres Erachtens stärker herausstellen sollen, dass Singer als Philosoph – nicht als Politiker – spricht und dass viele seiner kontroversen Aussagen philosophisch zutreffend sind. Zugleich hat Schmidt-Salomon insofern Recht, als man nicht alle Aussagen Singers damit entschuldigen kann, dass er als Philosoph zu sehr an die philosophische Methodik und den entsprechenden Diskurskontext gewöhnt ist. Als öffentlichkeitswirksame philosophische Stimme müsste sich Singer darüber im Klaren sein, wie seine Interview-Aussagen gesellschaftlich-politisch wirken. Wir raten ihm, die heftige Kritik, die ihm aktuell entgegenschlägt, ernst zu nehmen und seine Aussagen im Licht von Kriterien wie der Praktikabilität, der moralischen Überforderung von Individuum und Gesellschaft sowie der Missverständnis- und Missbrauchsgefahr zu überdenken.
Nicht zuletzt sind einige Positionen Singers aber auch philosophisch zweifelhaft. Es ist – oder wäre – ein Kernelement des rationalen gesellschaftlichen Diskurses, diese Positionen argumentativ fundiert zu kritisieren. Beispielsweise sprechen die philosophischen Argumente dafür, die aktuelle Spätabtreibungspraxis nicht zum Anlass zu nehmen, das Lebensrecht von Frühgeburten gleichen Alters auch infrage zu stellen, sondern das Lebensrecht im Gegenteil auf alle empfindungsfähigen Wesen zu erweitern – denen der Tod schließlich alle künftigen Glückserfahrungen nimmt. Singers Werk attestiert ihm eine außerordentliche Fähigkeit, überraschende logische Schlussfolgerungen zu akzeptieren. Vielleicht wird er sich damit anfreunden können, dass die für den EA charakteristische Orientierung an Glück und Leid ein starkes Argument dafür liefert, das Lebensrecht auf Föten in der späten Schwangerschaftsphase sowie auf die nicht-menschlichen Tiere auszudehnen.
Die Philosophie des EA impliziert zudem, dass diejenigen Themenbereiche zu priorisieren sind, bei denen das meiste Leid auf dem Spiel steht – vgl. dazu die folgende Vorlesung über EA:
Aufgrund der riesigen Opferzahlen in den Bereichen Weltarmut und Tierleid sollte Singer seine Positionen dazu prioritär (und kontrovers!) vertreten und die übrigen – d.h. die bedeutend umstritteneren – zurückstellen, selbst wenn er mit ihnen Recht hätte.
Wenn diese Kritik stichhaltig ist, sind einige Aufdatierungen der Singer’schen Gesamtposition angezeigt, philosophisch-theoretisch und gesellschaftlich-praktisch. Peter Singer selbst beschreibt das kritisch-rationale Denken als Fahrtreppe ganz besonderer Art: “Reason’s capacity to take us where we did not expect to go…”, und Michael Schmidt-Salomon fügt an, Kritik sei ein Geschenk, denn wir hätten nicht mehr zu verlieren als unsere Irrtümer. In diesem Punkt haben die beiden zweifelsohne Recht.
1 In Abgrenzung zu den Begriffen “Beihilfe zum Suizid” und “Tötung auf Verlangen”, da in diesem Fall das Subjekt keinen expliziten Wunsch äussern kann.
4 Kommentare
Kommentare
David am Permanenter Link
Vielen Dank für die gelungene Auslotung der "Singer vs MSS" Debatte.
cmsadmin am Permanenter Link
"Zwischen den 'Interessen der Individuen' und dem 'Nutzen der Gesellschaft' besteht kein Unterschied."
Gerade die Diktaturen des 20. Jahrhunderts haben gezeigt, das die Interessen der „Klasse“ oder der „Volksgemeinschaft“ nicht deckungsgleich mit den Interessen der Individuen sind.
"Im Übrigen: Empirisch-faktisch sind wir biologische Gehirne – und biologische Gehirne wiederum sind Container für Präferenzen sowie Glücks- und Leidempfindungen. Was sollte daran problematisch sein? Und die 'Verrechnung' folgt logisch aus der gleichen Berücksichtigung gleicher Interessen."
Eine Ethik, die Menschen auf solche abstrakten Konstrukte reduziert, die uns mit Kosten und Nutzen bewerten will, ist totalitaristisch.
"Aus altruistischer Sicht rational und nobel wäre es allenfalls, am Lebensende auf die Ressourcen zur Erhaltung des eigenen Lebens zu verzichten und zu verfügen, dass diese an die effektivsten Hilfsorganisationen zu spenden seien.“
Das erinnert mich an den Ausspruch des ehemaligen Ärztekammerpräsidenten Karsten Vilmar: „wir müssen insgesamt überlegen, ob diese Zählebigkeit anhalten kann, oder ob wir das sozialverträgliche Frühableben fördern müssen.“
"In reichen Ländern kostet die Rettung eines Lebens in der Regel mindestens das Hundertfache."
Auch das Wohnen in Deutschland ist weitaus teurer. Und Medikamente sind (künstlich) teurer. Der direkte Kostenvergleich ist eine Milchmädchenrechnung.
"Wenn jedes Menschenleben – unabhängig vom Geburtsort – gleich zählt, ist es geboten, dort prioritär zu helfen, wo bei gegebenen Hilfsressourcen die meisten Leben gerettet werden können, d.h. in den ärmsten Ländern."
Eltern werden das Leben ihrer Kinder in i.d.R. immer als höherwertiger Betrachten als das Leben anderer. Und was für Eltern gilt, gilt auch für den Lebenspartner oder andere Bezugssysteme.
"Gleichzeitig ist es aber ethisch legitim und wichtig, mit Singer die provokative Frage aufzuwerfen, ob es denn an sich gerechtfertigt ist, das Leid im eigenen Land monetär zur priorisieren.“
Unter der Prämisse könnten wir den Sozialstaat in Deutschland komplett abschaffen.
"Der eine Topf, den die Gesellschaft zum aktuellen Zeitpunkt für altruistische Zwecke aufzuwenden bereit ist, ist beschränkt."
Altruismus ist individuell (und damit subjektiv) und nicht kollektiv. Genau wie verordnete "Solidarität" keine echte Solidarität ist, sondern Zwang ist. Das Ausmaß der Bereitschaft zum Altruismus ist maßgeblich auch von der Empathie zum Hilfsbedürftigen abhängig. Eine verordnete Gleichbehandlung wird die Bereitschaft zum Altruismus sicher nicht fördern. Offenbar ist es der Phantomschmerz der nicht mehr (so) gesellschaftlich relevanten christliche Religion, dessen immanent implizierender Schuldkomplex auf andere nichtreligiöse Bereiche abfärbt. Der Artikel "Wir sind schuld" in der Welt (http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article13824506/Wir-sind-schuld.html) beschreibt das meiner Meinung nach sehr gut.
"Und das Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleicher Interessen gebietet es, das Maximum aus ihm herauszuholen. … Gleiche Interessen sind gleich zu berücksichtigen, unabhängig von ihren räumlichen Koordinaten – jeder Mensch ist Teil unserer Gesellschaft. Warum sollte die räumliche Distanz nun einen Unterschied machen?"
Der Sozialismus/Kommunismus ging von einer idealistischen sozialistischen Persönlichkeit aus. Da es diese wie die „klassenbewußte Arbeiterklasse“ so nicht gab, half nur noch die "Diktatur des Proletariats". Der Kapitalismus entsprach den Interessen der real existierenden Menschen (und ihren Bedürfnissen) offenbar weit mehr und war gerade deshalb auch erfolgreicher.
"Vorstellungen von Solidarität mit "unserer" Gesellschaft enthalten implizit oft (nationalistische) Gruppenegoismen, die mit humanistisch-altruistischen Zielen unvereinbar sind."
Der Nationalismus hat sich durch die Fundamentalismen und Kriege im 20. Jahrhundert diskreditiert. Dennoch ist für mich noch nicht erwiesen, daß die Abschaffung des „Nationalen“ die Menschen glücklicher macht und ein besseres Zusammenleben gewährleistet.
Gabriele Röwer am Permanenter Link
Etliche Leser des hpd erinnern sich vielleicht noch an die Gründe der Distanzierung des kritischen Kirchenhistorikers und engagierten Tierschützers Karlheinz Deschner (1924-2014) von Peter Singer im Jahr 2011, zusamme
So sehr Deschner einst Singer, den „father of animals“, geschätzt hatte wegen seiner fundamentalen Kritik am Tier-Mensch-Speziesismus, Spiegel einer jahrtausendealten, auch im folgenreichen „Schöpfungsbefehl“ der Genesis („infernalischer Auftakt der Deformierung eines Sterns zum Schlachthaus“, so Deschner*) zum Ausdruck kommenden Hybris des Menschen („Krone der Schöpfung“) gegenüber dem Tier, so enttäuscht, teilweise entsetzt war er bei näherer Beschäftigung mit einschlägigen Texten Singers angesichts der Konsequenzen seines neuen Konzepts des „Präferenz- oder Interessen-Utilitarismus“, vorbereitet bereits in „Animal Liberation“ von 1975, zugespitzt bald darauf in „Practical ethics“ von 1979.
Indem Singer dort, für Deschner recht willkürlich, ein Kriterium zur Unterscheidung des Lebensrechts verschiedener Wesen einführt, nämlich das der „Person“, deren vorrangige Attribute Selbst- und Zukunftsbewusstsein nebst damit verbundenen Interessen Menschen wie Tiere, die darüber verfügen, abgrenzen von menschlichen wie tierischen „Nicht-Personen“, denen beides fehlt, konstruiert Singer, so Deschner, eine neuerliche Variante der bislang dem dualistischen Monotheismus eigenen selbstherrlichen Hierarchisierung bzw. Dichotomisierung des Lebens. Darin aber nimmt Deschner – wie z.B. der Hirnforscher und Medizin-Ethiker Detlef B. Linke (1945-2005) – einen neuen, einen „Person- bzw. Intellekt-Speziesismus“ wahr, auch inhärent nicht minder fatal als jener von Singer einst bekämpfte „Speziesismus“ im Wortsinn (besonders deutlich in den Kapiteln 5 – „Töten: Tiere“ – und 7 – „Töten: Euthanasie“ der Praktischen Ethik 1984/dt.; 1994/dt. betitelt: „Leben nehmen: Tiere“ bzw. „Leben nehmen: Menschen“).
Deschner sieht in den reflektiven Endlosschleifen dieser Kapitel über erlaubtes und nicht erlaubtes Töten tierischer und menschlicher Wesen je nach ihren Geistesgaben (seltsam vernachlässigt von Verteidigern Singers gegen dessen Kritiker, zuweilen verharmlost als bloße „Gedankenexperimente“) quälend-kasuistisch exemplifiziert, was schon in Animal Liberation (u.a. S. 54) vorgezeichnet war. Daraus folge, dass nun nicht mehr der „Mensch“, sondern die „Person“, ob menschlicher oder nichtmenschlicher Natur, das vom homo rationale diktierte Maß aller Dinge ist. Deschner vermag darin keinen Fortschritt zu sehen gegenüber dem einstigen, von Singer infrage gestellten Anthropozentrismus, nur dass die Trennlinie jetzt nicht mehr vertikal zwischen den Spezies verläuft, sondern horizontal mitten durch sie hindurch.
Für Deschner hingegen gilt: statt das Maß des Lebenswerts eines Wesens abhängig zu machen von seinem uns ähnlichen intellektuellen Reifegrad (dessen „Reife“, zumal bei jenen an den Hebeln der Macht in Wissenschaft und Wirtschaft, nicht selten durchaus bezweifelbar ist…), statt den Rechtsstatus von Tieren (so im Great Ape Project) abhängig zu machen von ihrer Ähnlichkeit mit uns („gleiche Rechte für Gleiche“), sollte, jenseits davon, absolute Priorität im Umgang mit Tieren – und Menschen – das Bewusstsein des ihnen eigenen Schmerzempfindens haben, unabhängig von der jeweiligen neuronalen Ausprägung.
So verdiene jeder Mensch, jedes Tier, da empfindungsfähig, grundsätzlich (wenn auch oft nicht konsequent realisierbar) allen erdenklichen Schutz, sofern wir uns nicht selbst davor schützen müssen. Hier weiß sich Deschner einig mit Denkern wie Schopenhauer und Schweitzer, mit Einstein, H. H. Jahnn und Theodor Lessing (Belege im Essay, s.o.). Mit Jeremy Bentham etwa, englischer Sozialreformer und Begründer des klassischen Utilitarismus, sieht er die Zeit kommen, „in der die Menschheit ihren schützenden Mantel über alles, was atmet, erweitert …“
Wenn nun die drei Autoren dieser „Stellungnahme aus effektiv-altruistischer Sicht“ am Schluss, gegen Singer, im Sinne Deschners, eine Erweiterung des Lebensrechts auch „auf die nicht-menschlichen Tiere“, ja, „auf alle empfindungsfähigen Wesen“ fordern, zugleich aber nur „einige Positionen Singers“ für „philosophisch zweifelhaft“ halten, so verkennen sie m.E., dass, was an diesem, dem präferenz-utilitaristischen Teil von Singers Werk kritisierbar ist, nicht einzelne Züge darin betrifft, sondern dessen zentrale Basis. Aus ihr resultieren zudem schon seit ihren Anfängen in den 1970er Jahren und nicht erst, wie inzwischen oft hervorgehoben, seit dem NZZ-Interview vom 24.5.2015, folgerichtig all jene Konsequenzen, welche den Atem stocken lassen, nicht schön zu reden durch ihre Deklarierung als bloß „hypothetisch-spekulative Gedankenexperimente“.
Zwei Beispiele dieser stringenten Konsequenzen (keine bedauerlichen, Singers einstigem Denken konträren Auswüchse also), die Deschner empören, mögen abschließend für viele stehen (nachzulesen in o.g. Essay):
Verständnis äußerte der „flexible Veganer“ Singer nicht nur für den Tierverzehr vieler Menschen, sofern die Tiere artgerecht (also nicht industriell) gehalten und schmerzlos getötet werden (so schon in „Animal Liberation“, S. 367), sondern auch für die Überzeugung des Oxforder Neurochirurgen Tipu Aziz, mit Parkinson-Tests an 100 Primaten (entsetzlich qualvoll, da ohne Betäubung während der Experimentierphasen!) 40.000 Menschen helfen zu können (Sunday Times vom 26.11.2006). Das Statement ist zwar „utilitaristisch-logisch“, sofern die „Lust-Leid-Bilanz“ stimmt, die positiven Folgen also die negativen übersteigen. Es lässt indes zum einen den Protest des einstigen „father of animals“ vermissen gegen die Blockierung längst entwickelter Alternativen zu Tierversuchen (vor allem in vitro- und in silico-Verfahren – Untersuchungen an ausgeklügelten menschlichen Zellkulturen, Tests im Reagenzglas, Computersimulationen/Einsatz von Mikrochips etc.) durch die von Tierversuchen Profitierenden; zum andern und vor allem vermissen wir seine Weigerung, Tiere zu benutzen zur Minderung menschlichen Leidens bzw. zur Mehrung menschlichen Glücks, als Mittel also zur Befriedigung unserer Bedürfnisse.
Singers Umkehrschluss aber lehnt Deschner, der das – ihm allein wichtige, wenngleich unterschiedlich ausgeprägte – Schmerzempfinden der Lebewesen betont, nicht minder heftig ab: Um Tieren Qualen zu ersparen, legt Singer, bei Überwindung der „Voreingenommenheit“ von Speziesisten, nahe, Menschen mit einem ähnlichen geistigen Niveau wie bisherige Versuchstiere oder irreversibel hirngeschädigte Kleinstkinder mit einem noch geringeren Niveau (oder senile Menschen!) solchen Qualen auszusetzen. Und dies auch, weil man hierdurch „mehr Informationen über die menschliche Reaktion“ erhalte als in Tierversuchen, deren Anzahl man dadurch „bedeutend reduzieren“ könne („Praktische Ethik“ 1994, S. 97): „Trotz der geistigen Defizite sind Anatomie und Physiologie dieser Kleinstkinder in nahezu jeder Hinsicht mit der normaler Menschen identisch. Würden wir sie also mit großen Mengen Bodenpolitur zwangsernähren [?] oder ihnen konzentrierte Kosmetiklösungen in die Augen tropfen [?], so bekämen wir viel verläßlichere Hinweise auf die Verträglichkeit [?] dieser Produkte beim Menschen als bei der jetzigen Methode“ („Animal Liberation“ 1975, S. 138; auch S. 53).
All dies: „bloß hypothetisch-spekulative Gedankenexperimente“? Wohl kaum! Und wären sie es? Nicht minder entsetzlich!
Deschner lehnt – unterschiedslos – strikt beides ab, Qualen für Tiere genauso wie solche für Menschen, zumal für jene, die nicht autonom entscheiden können. (Die juristisch flankierte Entscheidung autonomer Menschen für den assistierten Suizid hingegen, für ein Sterben ohne Qualen, steht für ihn auf einem andern Blatt, sie findet seinen ungeteilten Respekt.)
Nicht nachvollziehbar sind für Deschner ebenfalls Singers Reflexionen darüber, inwieweit schwerbehinderte Säuglinge – Singer nennt in „Practical ethics“ explizit mit Hämophilie oder Spina bifida Geborene (die ich unterrichtete) sowie Babies mit einem Down-Syndrom (die hohe Emotionalität mongoloider Menschen ist bekannt, meist sehr viel höher als die der Geschwister) – ein Lebensrecht haben sollten oder nicht (vgl. auch das mit Helga Kuhse verfasste Buch „Should the baby
live“, 1985, dt. 1993 – hier wird ganz allgemein als „entscheidend für das Recht auf Leben“ der „Beginn des Lebens einer Person, nicht eines physischen Organismus“ bezeichnet (S. 179). Singers Reflexionen kulminieren in dem oft zitierten Satz: „Der Kern der Sache ist freilich klar: die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht.“ („Praktische Ethik“ 1984, S. 188; 1994, S. 244; 1985 heißt es bei Singer/Kuhse lapidar: „We think that some infants with severe disabilities should be killed.“ In der „Praktischen Ethik“, Kapitel „Rechtfertigung von Infantizid und nichtfreiwilliger Euthanasie“, merkt Singer zudem an, er konzentriere sich „der Einfachheit halber“ auf Säuglinge, was er über sie sage, lasse sich „auch auf ältere Kinder oder Erwachsene anwenden“, die „auf der geistigen Reifestufe eines Säuglings stehengeblieben sind“ („Praktische Ethik“1984, S.179; 1994, S. 232).
Demgegenüber betonten Freunde Deschners aus dem gbs-Vorstand am 30.5.2011 (analog vier Jahre später nach dem Zürcher Singer-Interview): „Wir gehen selbstverständlich davon aus, dass JEDER Mensch von Geburt an ein unbedingtes Lebensrecht besitzt – und dabei ist es gleichgültig, ob dieser Mensch in irgendeiner Form behindert ist oder nicht!“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Gern schließe ich mich der Hoffnung von Adriano Mannino, Tobias Pulver und Jonas Vollmer aus der GBS Schweiz an (ohne ihren „effektiven Altruismus“ durchweg zu teilen geschweige ihre streckenweise spürbare Sympathie für das m.E. in der Praxis hochfatale Konzept des „Präferenz- oder Interessen-Utilitarismus“), dass Peter Singer in nicht allzu ferner Zukunft sich auf diejenigen Themenbereiche aus seinem Gesamtwerk konzentriert, „bei denen das meiste Leid auf dem Spiel steht“ – Tierleid und Weltarmut. Denn es gibt auf unserem Globus „genug für jedermanns Bedürfnisse“, z.B. Lebensqualität auch der Allerschwächsten, „aber nicht für jedermanns Gier.“ (Gandhi)
* Vgl. Karlheinz Deschners 1998 in der ASKU-Presse (Bad Nauheim, Sven Uftring) erschienene Schrift „Für einen Bissen Fleisch – Das schwärzeste aller Verbrechen“.
Siegfried Bahr am Permanenter Link
Was der Vermehrung des Glücks und Verminderung von Leid sicher abträglich ist, ist diese technische Debatte hier.