Eine Stellungnahme aus effektiv-altruistischer Sicht

Singer vs. Schmidt-Salomon: Wer hat Recht?

Die Rede vom abstrakten “Kollektiv” verschleiert die Fakten, um die es geht. Sie suggeriert, Individuen würden einer von ihnen verschiedenen Grösse – dem “Kollektiv” – unterstellt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Individuen sind das Kollektiv. Ethische Entscheidungsfälle vom Typ “Individuum vs. Kollektiv” sind, klarer formuliert, Fälle vom Typ “ein Individuum vs. mehrere Individuen”. Es ist merkwürdig, dass man hier offenbar den Impuls verspürt, zu sagen, die Interessen eines Individuums seien höher zu gewichten als die Interessen mehrerer (!) Individuen – von denen also jedes weniger zählt bzw. die zusammen weniger zählen als das eine Individuum? Dieser Impuls scheint mit einem objektiven Blick auf die Problemlage, d.h. mit dem Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleicher Interessen unvereinbar. Denn nur wenn so gehandelt wird, dass die größte Anzahl Individuen von Schäden frei bleibt, wird jedem einzelnen Individuum a priori (hinter dem “Schleier des Nichtwissens”) die höchste Wahrscheinlichkeit zuteil, verschont zu bleiben.

Schmidt-Salomon hat uns in persönlicher Korrespondenz erläutert, dass sich seine Kritik im Zusammenhang “Individuum versus Kollektiv” besonders auf die Suizidfrage beziehe. Es geht dabei um die folgende Singer-Passage, an der er – trotz des theoretischen Vorrangs der größeren Anzahl Individuen – zu Recht Anstoß nimmt:

“Empfindet sich jemand als Belastung für seine Familie, ist es nicht unbedingt unvernünftig, dass er sein Leben beendet. Wenn seine Lebensqualität eher schlecht ist und er sieht, wie seine Tochter viel Zeit aufwendet, um sich um ihn zu kümmern, und dabei ihre Karriere vernachlässigt, dann ist es vernünftig, ihr nicht weiter zur Last fallen zu wollen.”

Erstens sollte Singer das Beispiel im Rahmen seiner eigenen Prämissen anders wählen: Aus altruistischer Sicht rational und nobel wäre es allenfalls, am Lebensende auf die Ressourcen zur Erhaltung des eigenen Lebens zu verzichten und zu verfügen, dass diese an die effektivsten Hilfsorganisationen zu spenden seien. Empirische Studien belegen, dass es in armen Ländern möglich ist, mit lediglich $100 ein gesundes Lebensjahr zu finanzieren bzw. mit $3000 ein Leben zu retten. Die entsprechenden medizinischen Interventionen fördern die Gesellschaft nachweislich auch nachhaltig, etwa im Bildungs- und Wirtschaftsbereich. In reichen Ländern kostet die Rettung eines Lebens in der Regel mindestens das Hundertfache. Wenn jedes Menschenleben – unabhängig vom Geburtsort – gleich zählt, ist es geboten, dort prioritär zu helfen, wo bei gegebenen Hilfsressourcen die meisten Leben gerettet werden können, d.h. in den ärmsten Ländern.

Zweitens sollte Singer unbedingt davon absehen, hyperaltruistische Selbstaufopferung zu fordern, die mit der menschlichen Psychologie inkompatibel ist: Wenn der Altruismus effektiv sein soll, muss er gut praktikabel und lebbar sein. Das sollte Singer eigentlich wissen. Natürlich wäre es altruistisch nobel, auf kleinstmöglichem Fuß zu leben und 50% des eigenen Einkommens an die effektivsten lebensrettenden Organisationen zu spenden. Doch Singers Organisation “The Life You Can Save” fordert von ihren Mitgliedern nicht 50%, sondern rund 10%. Warum? Wenn uns der Altruismus überfordert, wird er als Bewegung nicht wachsen können und insgesamt bedeutend weniger effektiv sein, als er andernfalls gewesen wäre.

Solidaritätsbruch mit den Hilfsbedürftigen “unserer” Gesellschaft?

Schmidt-Salomon schreibt:

“[Es kann] doch wohl nicht im Sinn des von Peter Singer propagierten ‘effektiven Altruismus’ sein, die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen in unserer Gesellschaft aufzukündigen, um mehr Hilfsbedürftige in anderen Teilen der Welt zu retten. Es [ist] geradezu absurd, das eine gegen das andere auszuspielen, da die Hilfsgelder nicht aus demselben Topf stammen würden und die finanziellen Ressourcen nach ihrem Einsatz keineswegs aus der Welt verschwunden seien, sondern bloß bei anderen Marktteilnehmern landen würden, die sie wieder einsetzen könnten – nicht zuletzt auch zu altruistischen Zwecken.”

Damit weist er zu Recht darauf hin, dass falsche Signale ausgesandt werden, wenn zuerst bei den Hilfsbedürftigen der eigenen Gesellschaft gespart wird. Gleichzeitig ist es aber ethisch legitim und wichtig, mit Singer die provokative Frage aufzuwerfen, ob es denn an sich gerechtfertigt ist, das Leid im eigenen Land monetär zur priorisieren. Der eine Topf, den die Gesellschaft zum aktuellen Zeitpunkt für altruistische Zwecke aufzuwenden bereit ist, ist beschränkt. Und das Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleicher Interessen gebietet es, das Maximum aus ihm herauszuholen. Weil materielle Ressourcen einen abnehmenden Grenznutzen haben, ist es geboten, Hilfsleistungen an diejenigen Menschen zu priorisieren, die aktuell über die wenigsten Ressourcen verfügen und am stärksten leiden. 850 Millionen Menschen sind nach wie vor permanent unterernährt, 20.000 Kinder sterben täglich an den Folgen. Der Gegensatz zwischen “unserer Gesellschaft” und “anderen Teilen der Welt” scheint aus humanistischer Sicht ungerechtfertigt. Gleiche Interessen sind gleich zu berücksichtigen, unabhängig von ihren räumlichen Koordinaten – jeder Mensch ist Teil unserer Gesellschaft. Man stelle sich vor, die 20.000 Kinder würden jeden Tag in Deutschland sterben. Würde dann irgendjemand bestreiten, dass der Verhinderung dieser Katastrophe allerhöchste ethisch-politische Priorität gebührt – und nicht den übrigen sozialstaatlichen Maßnahmen? Warum sollte die räumliche Distanz nun einen Unterschied machen? Leid wird nicht dadurch weniger schlimm, dass es sich in der Ferne ereignet. Vorstellungen von Solidarität mit “unserer” Gesellschaft enthalten implizit oft (nationalistische) Gruppenegoismen, die mit humanistisch-altruistischen Zielen unvereinbar sind.

Die schlechtestgestellten Mitglieder der Weltgesellschaft (in der aktuellen täglichen Katastrophensituation) grundsätzlich zu priorisieren, zeugt von ethischem und ökonomischem Sachverstand. Politischer Sachverstand – und diesen Aspekt betont Singer in seiner Analyse nur ungenügend – gebietet es hingegen tatsächlich, von Forderungen abzusehen, die gesellschaftlich schlicht überfordernd und untragbar wären. Schmidt-Salomons Singer-Kritik trifft in diesem wesentlichen Punkt zu: Maximal effektiv ist der Altruismus nicht etwa dann, wenn er politisch für die Senkung der lokalen Hilfsressourcen eintritt oder zu entsprechenden Missverständnissen einlädt – sondern dann, wenn er für eine Erhöhung des altruistischen Hilfstopfs insgesamt plädiert und eine Allokation der neu hinzugefügten Hilfsressourcen auf die ärmsten Weltregionen vorschlägt. So wie es die Effektivität gebietet, Individuen nicht zu überfordern, dürfen auch (lokale) Gesellschaften nicht überfordert werden: Um effektiv helfen zu können, müssen privilegierte Gesellschaften ein hinreichendes Mass an interner Solidarität und Stabilität aufrechterhalten. Wiederum gilt: Die deontologische Intuition (“Eigengruppe und Nahbereich zuerst!”) und der Utilitarismus (“Priorisiere diejenigen Weltregionen, die das meiste Leid enthalten!”) stehen nicht im zwingenden Widerspruch, sondern treffen sich in der praktischen Anwendung des EA.

Was ist von Schmidt-Salomons Argument zu halten, dass lokal – statt global – eingesetzte Hilfsressourcen ja nicht aus der Welt verschwänden, sondern bloß bei anderen Marktteilnehmern landeten, die sie auch zu altruistischen Zwecken einsetzen könnten? Aus ökonomischer Sicht leider nicht viel: Man stelle sich vor, ein Spital sollte sich (mit höchster Priorität) bessere chirurgische Instrumente anschaffen. Wäre es rational bzw. nutzenmaximierend, stattdessen in neue Betten zu investieren und darauf zu hoffen, dass die Bettenproduzenten danach an die Anschaffung chirurgischer Instrumente spenden werden? Schmidt-Salomons Argument scheint von analoger Struktur zu sein.

Empirische Studien zeigen, dass in den ärmsten Regionen unserer Weltgesellschaft mit gegebenen altruistischen Ressourcen hundertmal (!) mehr Menschenleben gerettet werden können als in reichen Regionen. Es ist nicht zielführend, in reichen Regionen zu investieren und danach auf Spenden zu hoffen, die höchstwahrscheinlich ausbleiben werden. Zudem: Die effektiv lebensrettenden Maßnahmen in den ärmsten Regionen bewirken nachweislich auch positive Fortfolgen. Randomisiert-kontrollierte Studien belegen, dass die Entwurmung von Kindern nicht nur einen hohen medizinischen Nutzen hat, sondern auch dazu führt, dass die Kinder rund 25% weniger Schultage verpassen und später rund 20% mehr verdienen. Diese Ressourcen können dann auch wieder (altruistisch) investiert werden. Und weil sie sich in den ärmsten Weltregionen befinden, ist es wahrscheinlicher, dass sie wiederum dort investiert werden, wo sie am dringendsten benötigt werden.

Rationaler Diskurs

Die Rationalität des aktuellen Diskurses um die oben thematisierten Fragen leidet unter der Singer-Kontroverse. Die Medien konzentrieren sich auf die umstrittensten Aussagen und lassen Singers Argumente im Bereich der Weltarmut oder des Tierschutzes – den leidquantitativ wichtigsten Themen – untergehen. Die Wellen sind hoch und die Gemüter erregt, so dass sich viele KritikerInnen gar nicht mehr mit Singers Argumenten auseinandersetzen, sondern bloß mit einer oft tendenziösen Auswahl seiner kontraintuitivsten Konklusionen. Dabei wird ignoriert, dass diese nicht selten im Kontext philosophischer Gedankenexperimenten aufgestellt wurden und somit auch von Singer selbst – der als Philosoph spricht – im politisch-rechtlichen Kontext nicht ohne Berücksichtigung gesellschaftlicher Realitäten gefordert würden. Man muss Singers philosophischen Aussagen nicht zustimmen, um der Meinung zu sein, die KritikerInnen müssten dieser Tatsache besser Rechnung tragen. Dass Singer gute Absichten hat, steht zudem außer Frage: Sein persönliches altruistisches Engagement und sein philosophisches Lebenswerk zeigen zweifelsohne, dass er sich aufrichtig und unparteilich um das Wohl anderer sorgt.

Schmidt-Salomon hätte unseres Erachtens stärker herausstellen sollen, dass Singer als Philosoph – nicht als Politiker – spricht und dass viele seiner kontroversen Aussagen philosophisch zutreffend sind. Zugleich hat Schmidt-Salomon insofern Recht, als man nicht alle Aussagen Singers damit entschuldigen kann, dass er als Philosoph zu sehr an die philosophische Methodik und den entsprechenden Diskurskontext gewöhnt ist. Als öffentlichkeitswirksame philosophische Stimme müsste sich Singer darüber im Klaren sein, wie seine Interview-Aussagen gesellschaftlich-politisch wirken. Wir raten ihm, die heftige Kritik, die ihm aktuell entgegenschlägt, ernst zu nehmen und seine Aussagen im Licht von Kriterien wie der Praktikabilität, der moralischen Überforderung von Individuum und Gesellschaft sowie der Missverständnis- und Missbrauchsgefahr zu überdenken.

Nicht zuletzt sind einige Positionen Singers aber auch philosophisch zweifelhaft. Es ist – oder wäre – ein Kernelement des rationalen gesellschaftlichen Diskurses, diese Positionen argumentativ fundiert zu kritisieren. Beispielsweise sprechen die philosophischen Argumente dafür, die aktuelle Spätabtreibungspraxis nicht zum Anlass zu nehmen, das Lebensrecht von Frühgeburten gleichen Alters auch infrage zu stellen, sondern das Lebensrecht im Gegenteil auf alle empfindungsfähigen Wesen zu erweitern – denen der Tod schließlich alle künftigen Glückserfahrungen nimmt. Singers Werk attestiert ihm eine außerordentliche Fähigkeit, überraschende logische Schlussfolgerungen zu akzeptieren. Vielleicht wird er sich damit anfreunden können, dass die für den EA charakteristische Orientierung an Glück und Leid ein starkes Argument dafür liefert, das Lebensrecht auf Föten in der späten Schwangerschaftsphase sowie auf die nicht-menschlichen Tiere auszudehnen.

Die Philosophie des EA impliziert zudem, dass diejenigen Themenbereiche zu priorisieren sind, bei denen das meiste Leid auf dem Spiel steht – vgl. dazu die folgende Vorlesung über EA:
 

Aufgrund der riesigen Opferzahlen in den Bereichen Weltarmut und Tierleid sollte Singer seine Positionen dazu prioritär (und kontrovers!) vertreten und die übrigen – d.h. die bedeutend umstritteneren – zurückstellen, selbst wenn er mit ihnen Recht hätte.

Wenn diese Kritik stichhaltig ist, sind einige Aufdatierungen der Singer’schen Gesamtposition angezeigt, philosophisch-theoretisch und gesellschaftlich-praktisch. Peter Singer selbst beschreibt das kritisch-rationale Denken als Fahrtreppe ganz besonderer Art: “Reason’s capacity to take us where we did not expect to go…”, und Michael Schmidt-Salomon fügt an, Kritik sei ein Geschenk, denn wir hätten nicht mehr zu verlieren als unsere Irrtümer. In diesem Punkt haben die beiden zweifelsohne Recht.


1 In Abgrenzung zu den Begriffen “Beihilfe zum Suizid” und “Tötung auf Verlangen”, da in diesem Fall das Subjekt keinen expliziten Wunsch äussern kann.