Das Christentum als Religion des Leidens

Schmerz und Religion

DEIDESHEIM. (hpd) Unsere subjektive Wahrnehmung unterscheidet zwischen Innen- und Außenwelt. Religionen können hier wie dort friedlich, aber auch aggressiv wirken. Dieser Bericht beschäftigt sich ausschließlich mit der Innenwelt im Monotheismus. Wie sollte der Gläubige nach dessen reiner Lehre mit sich selbst umgehen? Selbstbefriedigt oder autoaggressiv?

Schmerzen kennt jeder. Es sind subjektive Sinneswahrnehmungen eines Warn- und Leitsignals, das jeder situationsabhängig unterschiedlich intensiv wahrnimmt. So positiv ihr evolutionärer Grund ist, so sehr versuchen wir sie im täglichen Leben zu vermeiden. Doch wie steht es um gegen sich selbst gerichtete Körperverletzungen aus psychischen, kultischen oder sogar ästhetischen Gründen? Will uns Religion nicht von dem Übel erlösen? Uns in eine paradiesische Welt führen, in der es weder Krankheit, noch Leid gibt? Müssten geistliche Oberhäupter nicht eine schmerzfreie Welt predigen, als Verheißung auf eine Ewigkeit an der Seite Gottes? Religion verpasst sich selbst gerne diesen weihevollen Anstrich - siehe glückselig-ekstatische Gläubige auf religiösen Großveranstaltungen, aber auch das Komfortbedürfnis gewisser Bischöfe.

Aber was ist auf der anderen Seite mit den schmerzverzerrten Gesichtern von Säuglingen und Kindern bei religiöser Beschneidung? Sind das nur bedauerliche Begleiterscheinungen, notwendige Opfer, die man wie die Füllung des Klingelbeutels erbringen muss, um Gott zu gefallen? Oder gehören Schmerz und Entbehrung bewusst ins Diesseits, um die Hoffnung auf ein möglichst kontrastreiches Paradies zu schüren? Gibt es also eine Zweckehe zwischen Schmerz und Religion?

Ich will Antworten und beginne meine Suche in einer Kirche. Ruhe, muffiger Geruch, leise Stimmen, Düsternis und Ehrfurcht strömen mir entgegen, entschleunigen mich wohltuend vom Alltag. Wenigstens hier haben Schmerzen keinen Platz. Oder? Mein Blick geht hinauf zum Christenkreuz, einem altrömischen Hinrichtungsgerät. Ein blutüberströmter Mann schaut mich gequält aus leeren Augen an, ein ausgemergeltes Häuflein Elend. Der könnte uns gewiss etwas über Schmerzen erzählen, hätte er sein Martyrium überlebt. Jesus ist das große Vorbild christlicher Kirchen. Warum dient ausgerechnet ein derart Geknechteter, wie es Millionen Namenlose in der Geschichte der Menschheit gab - häufig genug aus religiösen Gründen - als Vorbild? Weil er litt um der Leiden und Sünden der Welt willen, wie es die Kirche sieht? Oder weil er als Underdog völlig sinnlos starb für "Romani ite domum" also "Romans go home", wie es Monty Python sah? Nun, Letzteres verströmt den Charme einer Plausibilität, denn faktisch war Jesus – so er je existierte - aus Sicht der Römer nichts als ein Terrorist, der gegen ihre großzügige Pax Romana aufbegehrte.

Das sei eine viel zu historische Sicht der Dinge, erläutern mir Pfarrer. "Jesus ist Vorbild, weil er uns in seiner Todesstunde erlöst hat. Wir, die wir ihn anerkennen, können nun fröhlich sein – dank ihm!" Fröhlich? Mir fallen spontan einige Punkte ein, die nicht nach Fröhlichkeit klingen, wenn ich an den monotheistischen Gott denke. Er bestraft uns, lediglich weil Eva Adam zum Obstverzehr verführt hat - etwas, was heute manche Frau vergeblich bei ihrem fleischgierigen Gatten versucht. Den Wahrheitsgehalt dieser Mythen lasse ich außen vor. Mir geht es um diesen Gequälten am Kreuz, der uns seine Passion hinterließ, um den Obstdiebstahl zu sühnen. Mir geht es um dieses Opfer der Religion, das erschreckend symptomatisch erscheint und in seiner Vorbildfunktion viele fatale Entwicklungen nach sich zog.

Ich forsche weiter und stoße auf Erstaunliches: Numerarier, Mitglieder bei Opus Dei, tragen ein Cilicium. Während des 2. Vatikanischen Konzils kleideten sich Kartäuser damit. Quer durch das Mittelalter trugen Mönche, Laien und hohe kirchliche Würdenträger das Cilicium. Im Neuen Testament hatte Johannes der Täufer eines an. Selbst im Alten Testament kleideten sich Könige mit einem Cilicium. Was zum Teufel ist ein Cilicium? Der Name leitet sich ab von Kilikien in Anatolien und bezeichnet einen groben, aus Ziegenhaaren gewebten Stoff, aus dem gewöhnlich Zelte hergestellt wurden. Es ist auch bekannt als Büßergewand, soll also bewusst kratzig und unangenehm zu tragen sein. Von "saq", dem hebräischen Wort dafür und dessen lateinischer Form "saccus" leitet sich unsere Redewendung "In Sack und Asche gehen" ab. Das klingt nicht besonders schmerzvoll. Jesus wurde gequält und bestialisch getötet. Ein kratziges Hemd hätte sein Leiden kaum gesteigert.

Ich bemühe medizinische Erkenntnisse: "Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebeschädigung einhergeht oder von betroffenen Personen so beschrieben wird, als wäre eine solche Gewebeschädigung die Ursache." (Definition der IASP = International Association for the Study of Pain) Nach dem biopsychosozialen Schmerzkonzept wird Schmerz als komplexe Wechselwirkung zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren empfunden. Er wird also subjektiv wahrgenommen - nicht allein durch neuronale Signale der Schmerznervenfasern. Schmerz an sich ist also keine Krankheit, sondern wird als sehr wandlungsfähig und – aus Sicht unserer Vorfahren – als unheimlich, ja mystisch wahrgenommen. Entstehung und Erkenntnisort der Schmerzen im Körper war lange Zeit unbekannt, bis Mediziner Nervenbahnen und das Gehirn in seiner tatsächlichen Funktion erkannten.

Lange davor - ab dem 4. Jh. n.u.Z., als das Christentum konstituiert wurde - trugen kirchliche Büßer dieses Cilicium. Es erzeugt permanent Reize, die als dem Schmerz verwandt wahrgenommen werden. Irgendwie passen Religion und sich wohlfühlen nicht gut zusammen, Religion und sich unwohlfühlen dafür umso besser. Selbstkasteiung aus religiösen Gründen ist hierbei die nächste wichtige Sprosse auf der Leiter zur Qual im Namen des Glaubens. Eines deren Ziele ist die Beschränkung der Triebhaftigkeit. Diese "Abtötung des Fleisches" dient dem Gläubigen innerlich frei zu werden für Höheres. Das kann geschehen durch Entzug von Nahrung oder Schlaf beim nächtlichen Gebet, aber auch durch dogmatisierte Sexualmoral - vom Verbot der Masturbation, über das Verbot außerehelichen Geschlechtsverkehrs und damit verbundener Verherrlichung der Jungfräulichkeit, bis zum Verbot der Wiederverheiratung oder homosexueller Partnerschaften. Dies alles dient der Erprobung der Leidensfähigkeit - schließlich ist der Weg ins Himmelreich steinig und hart.

Eine härtere Gangart ist die Selbstgeißlung. Die erste Notiz darüber im Christentum erwähnt den hl. Padulf, der 737 starb. Es ging den Gläubigen bei diesen Kasteiungen um "eine Transformation des Selbst, um eine Pädagogik der Existenz". Im gleichen Geist wie die schwarze Pädagogik, mit der Eltern seit alters her glaubten ihre Kinder durch Gewalt und Schläge erziehen zu können. Während das Ideal der altgriechischen Philosophie der Stoa die Leidenschaftslosigkeit war, verwandelte sich Disziplin bei frühen Mönchen in ein fatales Konzept zur Bekämpfung böser Leidenschaften: Sie meinten damit nicht nur Sexualität, der sie wegen deren Sinnenfreudigkeit etwas Teuflisches unterstellten, sondern dezidiert selbstzugefügte Schmerzen.

1260 begann im italienischen Perugia eine spirituelle Massenbewegung von Flagellanten oder Geißlern. Sie beriefen sich zunächst auf einen Engel, der verkündet habe, dass die Stadt vernichtet werde, wenn die Bewohner nicht Buße täten. Dadurch wurde aus der privaten Bußübung eine öffentliche Inszenierung. Durch Prozessionen von Ort zu Ort breitete sich die Bewegung in Italien aus. Mit erweiterter Losung selbstverständlich: Der Grund sei nun die Rettung der ganzen Welt vor dem Zorn Gottes. In der Folge erreichte sie Deutschland. Christoph Lehmann, ein Stadtchronist Speyers, überliefert eindrucksvoll, dass Gott ein Sadist ist, der seit dem Sündenfall seine perverse Freude daran zu haben scheint, anderen beim Leiden zuzuschauen. Den Text aus dem Jahr 1349 belasse ich in altem Frühneuhochdeutsch: "Die Geißler haben fürgeben und auch zum Augenschein fürgelegt einen Brieff, den ein Engel vom Himmel zu Jerusalem in St. Peters Kirchen geliefert haben soll, des Inhalts, daß Gott über der Welt Sünde und Bosheit hefftig erzürnt darum er die Welt habe wollen lassen untergehen. Auf der Jungfrau Marien und der heiligen Engel Fürbitt derselben verschont, doch den Menschen diese Straf und Buß verkündigen lassen, daß ein jeder 34 Tag in der Frembde umbreysen, seinen Leib geißeln und hiemit Gott versöhnen soll. Auffm Platz vorm Münster haben sie einen großen Ring gemacht, in ihrer Prozession alle mit bedecktem Haupt unter sich und traurig ausgesehen, Geißeln von dreyen Seylen, und vornen mit eysen Creutzlin in Handen getragen. In dem Kreyss haben sie ihre Kleyder abgelegt, den Leib mit einem Schurz gegürt und mit sonderm Gesang und Ceremonien sich über Rücken mit den Geißeln blutrünstig geschlagen." (Fritz Klotz: Speyer - Kleine Stadtgeschichte, Speyer 1971) Diese Bewegung mutierte zur sakramentalen Liturgie und trat in Konkurrenz zum kirchlichen Bußritus. Die Kirche bestand daher darauf, dass Geißlerzüge von Geistlichen betreut würden und die Teilnehmer vorher regulär beichten müssten. Die Umzüge verselbstständigten sich zu theatralischen Passionsspielen. Diese erregten Zuschauer dermaßen, dass sie Darsteller der Juden verprügelten, was in pogromähnlicher Verfolgung ausartete. Papst Gregor XIII. verbot diese Form daher 1574 und gestattete nur noch Jesuiten ihr Lehrdrama aufzuführen.

Wurde diese Schmerzsucht kirchenintern nie kritisiert? Oh doch! Der schwerwiegendste Einwand war, hier werde eine neue Form der Beschaulichkeit eingeführt, wo doch die Befolgung der benediktinischen Regel vollkommen genüge. Zur Verteidigung wurde versucht, die Tradition bis zur Geißelung Christi zurückzuverfolgen, um eine reale Unmittelbarkeit zu dessen Leid herzustellen. Aber soll Jesus uns nicht vom Leid erlöst haben? Steckt also mehr hinter dieser Sucht nach Kasteiung, als eine Imitation des Gottessohnes? In der Tat: Flagellanten waren nicht die ersten, die glaubten sich fürchterliche Schmerzen zufügen zu müssen, um Gott zu gefallen. Es begann lange vor dem Christentum: Der ägyptische Isis-Kult und der griechische Dionysos-Kult praktizierten ebenfalls Selbstgeißelungen. Juden betrieben sie bei großen Tempelzeremonien. Auch im Islam, der Jesus zum Propheten degradiert, gibt es Selbstkasteiung. Bekannte Beispiele sind die Trauer- und Bußrituale bei schiitischen Passionsspielen, besonders am Märtyrer-Gedenktag Aschura. Die dabei stattfindenden Selbstgeißelungen sind regional sehr unterschiedlich. Während in einigen Regionen mit scharfen Schwertern eine Wunde in die Stirngegend geschlagen oder mit Rasierklingen geritzt wird, bis über das Gesicht Blut strömt, wird anderswo der nackte Rücken mit einer Kettengeißel blutig geschlagen. Besonders heftige Formen sind aus Pakistan bekannt. Also ist der Ritus nicht originär christlich.

Aber nicht nur gegen sich selbst richteten Gläubige zu allen Zeiten ihre Marterinstrumente: Während des römischen Hauptfestes des Herdengottes Faunus wurden z.B. Frauen gegeißelt, um ihre Fruchtbarkeit anzuregen. Später ließen sich auch Christen gerne quälen. Aber was passiert denn eigentlich bei einer solchen Geißelung? Nun, ein Mönch bittet einen Priester ihn zu geißeln, macht den Rücken frei und betet dreimal das Confiteor. Während der ersten beiden Gebete antwortet der Priester mit Miseratur tui und schlägt mindestens dreimal zu. Beim dritten Mal spricht er das Indulgentiam, die Kurzformel der priesterlichen Absolution, und abschließend das Absolve Domine. Danach folgen noch drei Schläge. Jeder Mönch darf täglich um drei solcher Bußsitzungen bitten – also 18 Schläge pro Tag! Diese Prozedur ist auch Vorbild privater Selbstgeißelung in Betsaal oder Kirche. Man singt den Psalm 6, der so beginnt "Ach HERR, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!" und fällt dabei auf die Knie. Dann beginnt die Geißelung, gefolgt von drei Bittgebeten für die Mitglieder des Ordens, alle Gläubigen und die ganze Menschheit. Der Prior beendet die Geißelung durch Händeklatschen. Na Gott sei Dank!

Eine weitere Steigerung durch sozialen Druck fremdgesteuerter Selbstkasteiung ist die Anwendung eines Bußgürtels: Eine mehrgliedrige Kette, deren eine Seite mit scharfen Metallteilen besetzt ist. Er wird straff um den nackten Oberschenkel gelegt, bohrt sich tief in die Haut und verursacht besonders im Sitzen große Schmerzen – bis hin zu Vereiterungen und Entzündungen. Noch heute tragen manche Mitglieder der katholischen Laienorganisation Opus Dei solche Bußgürtel. Falls das Christentum - wie Gläubige oft behaupten - keine Leidensphilosophie wäre, was hat dann zu den bisher geschilderten Abarten geführt? Ich gelange zur Überzeugung, dass Leid keine Abart, sondern das Glaubenszentrum ist – mit einem höchst weltlichen Hintergedanken. Noch heute werden, insbesondere am Karfreitag, Leiden und Qual zum Vorbild erhoben. Aber wäre Jesu Opfertod nicht umsonst gewesen, wenn wir uns jetzt sogar selbstkasteien? Was also steckt hinter dieser Sucht nach Schmerz? Die Symbolik des Leidenskreuzes jedenfalls ist in unserer Gesellschaft tief verwurzelt. Noch heute wird es in jeder Kirche, in vielen Schulen, in öffentlichen Gebäuden und Krankenhäusern zur Schau gestellt und angebetet.

Apropos Krankenhäuser: Mutter Teresa gilt vielen als positives Beispiel religiös motivierter Menschen. Hat der Engel von Kalkutta nicht den Schmerz der Armen bekämpft? Im Gegenteil: sie soll sogar die Gabe von Schmerzmitteln untersagt haben. Laut Mutter Teresa sei durch das Leid eine besondere Nähe zu Jesus erfahrbar. Schmerzen und Leiden seien daher positiv zu bewerten. Ist der Vatikan also doch für den qualvollen Weg zu Gott? Immerhin hat Johannes Paul II., zum Ende hin selbst leidend, Mutter Teresa 2005 selig gesprochen. Muss wirklich jeder die Passion nacherleben, wenn er ins Paradies will? Wer im Mittelalter Schmerzmittel anbot, schloss in den Augen der Kirche einen Pakt mit dem Teufel und wurde als Hexe oder Hexer verbrannt. Das galt auch für denjenigen, der auf diese Mittel hoffte. Schmerz war die Strafe Gottes und musste zur Errettung der Seele ertragen werden. Das Erdulden der Qual gibt Gott die Chance, sich barmherzig zu zeigen und zu erlösen. Steckt dahinter die Erkenntnis, dass uns Jesu Opfertod doch nicht erlöst hat, da es weiterhin Sünden gab? Erübrigte sich deshalb für syrische Christen sein Opfertod und bestreiten folgerichtig deren muslimische Nachfolger Kreuzestod und Gottessohnschaft Jesu?

Die Wiederentdeckung der griechischen Antike in der Renaissance leitete den Wandel zur Moderne ein: Der Philosoph Epikur hatte bereits im dritten Jh. v.u.Z. gefolgert, dass Furcht, Schmerz und Begierden die drei großen Klippen seien, die umschifft werden müssten, damit dauerhaft Lebenslust und Seelenruhe herrschen können. Im diesem Sinne gehört Schmerz zur sinnlich wahrnehmbaren Erfahrung jedes Einzelnen, also eine total moderne Sicht der Dinge. Die erste Äthernarkose 1846, die Entdeckung der Acetylsalicylsäure 1898 sowie weiterer Schmerzmittel im 20. Jh. hätten Epikur sicher erfreut. Sie haben den Schmerz zur lästigen Begleiterscheinung von Krankheit oder Verletzung degradiert. Er wird nicht mehr als Fügung höherer Mächte missverstanden, sondern als neurologisches Phänomen, dem mit modernen Mitteln beizukommen ist.

Jahrhunderte zuvor kamen die Schriften der Philosophen noch auf den christlichen Index. Das führte zu deren systematischen Vernichtung im Mittelalter. Ab dem Jahr 380 n.u.Z. rückte stattdessen die klassische Auffassung vom heldenhaften Schmerz der Kulturheroen, wie Prometheus oder Herakles, ins Zentrum eines "Heilsgeschehens". Es versah nach der konstantinischen Wende mit Erhebung des Christentums zur römischen Staatsreligion das menschliche Leiden mit einem Sinn - einem Folgenreichen. Epikurs Umschiffung des Schmerzes war vergessen. Ist er also deshalb so tief in Religion eingebettet, weil er sowieso unvermeidbar scheint und jeder sich ihm gegenüber positionieren muss? Zumindest das scheinen Studien zu belegen: Religiosität hilft tatsächlich beim Aushalten von Schmerz, doch dafür ist kein höheres Wesen oberhalb der siebten Kristallschale zuständig, sondern der wissenschaftlich bekannte Placebo-Effekt. Falls dies trotzdem eines der ursprünglichen Motive gewesen sein sollte, geriet es im Christentum völlig außer Kontrolle und Qual wurde zum pädagogischen Mittel, das dem Einzelnen einen Vorgeschmack auf eine Fortdauer in höllischer Verdammnis vermittelt. Das "Jammertal" des irdischen Daseins wurde Durchgangsstation zur eigentlichen Wirklichkeit: der Ewigkeit im Angesicht Gottes. Ganz ähnlich denken heute noch viele Muslime, für die das einzig Erstrebenswerte das Paradies ist. Die diesseitige Welt ist höllisch.

Dem neuen Christengott fiel recht schnell das Denken zum Opfer, das im Hellenismus die erstaunlichsten wissenschaftlichen Ergebnisse hervorbrachte, denn die alten Götter setzten den Menschen keine Schranken. Im 3. Jh. v.u.Z. berechnete Eratosthenes von Kyrene den Umfang der Erdkugel. 700 Jahre später interessierte das die Kirchenväter nicht mehr die Bohne. Von nun an galt der Satz des Augustinus "glaube, damit du erkennst". Die Leidensphilosophie ersetzte die Naturphilosophie. Mehr denn je galt, was Gott Eva bei ihrer Verbannung aus dem Garten Eden anhexte: "Viel Mühsal bereite ich dir, so oft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder." Das Martyrium wurde im Mittelalter zum Leuchtturm auf dem Weg ins Himmelreich. Auch die Frauenmystik mit ihren Visionen, ihrer spirituellen Erotik bis hin zur Hysterie, zeigte eine Affinität zum Schmerz.

Die Trennlinie zwischen Qual und Lust ist in der Tat sehr dünn. Bei Experimenten zeigte sich, dass die Strukturen für Lust- oder Schmerzempfinden im gleichen Hirnareal angesiedelt sind. Auch unser Belohnungszentrum antwortet schneller auf Schmerzimpulse als die eigentlichen Schmerzzentren. Ein erster Hinweis darauf, wie masochistisches Lustempfinden physiologisch funktioniert. Jetzt fehlt noch die soziale Komponente: Völkerkundler erfuhren, dass Leid in allen Kulturkreisen ein sozialer Kitt zur Sicherung der eigenen Identität ist. Kollektiv zugefügte Pein durch Schmucknarben, genitale Verstümmelungen bei Jungen und Mädchen und Auspeitschungen bei einigen afrikanischen Stämmen während der Initiationsriten markieren einen höheren gesellschaftlichen Status im Leben eines Individuums. Aber was unterscheidet die Schmiss-Narbe im Gesicht des Studenten einer schlagenden Verbindung von der Schmucknarbe eines jungen Afrikaners? Wenig, denn beiden bestätigt es ihren neuen Status innerhalb der Gruppe. Schmerzen sind bei Initiationsriten Pflicht. Nicht nur bei Selbstgeißelung, sondern auch, wenn Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen werden.

Paul Spiegel, ehemaliger Zentralrat der Juden in Deutschland, schrieb in seinem Buch "Was ist koscher? Jüdischer Glaube - jüdisches Leben" (München 2003) zur Beschneidung: "Das Baby wird nicht betäubt, es erhält nicht einmal eine örtliche Narkose, denn den Bund mit Gott muss man sozusagen bei vollem Bewusstsein vollziehen. Natürlich schreit das Baby, natürlich tut ihm der Eingriff weh." Nicht nur die Markierung als Gottes Sklave ist also von Bedeutung, auch der Schmerz ist es, durch den das religiöse Opfer gehen muss. Dieser Schmerz wird weitergegeben an die Frau, die hin und wieder unter dem gröberen Sex mit einem beschnittenen Mann leidet. Dänische Studien belegen dies. Warum aber begehren kaum welche auf, denen als Kinder solches angetan wurde? Nun, der Ritus macht den Jungen zum vollwertigen Mitglied der Gemeinde, es ist seine unfreiwillige Solidaritätsbekundung für sozialen Schutz. Falls ein Mann Probleme mit seinem beschnittenen Penis hat, wird er dies selten zugeben. Er wäre die Lachnummer seiner patriarchalischen Community und stünde im Ansehen vermutlich noch unterhalb der Frauen. Ein richtiger Kerl hält den Verlust seiner Empfindungsfähigkeit klaglos aus. Es ist eben ein soziologisches Phänomen.

"Der Begriff Sadist wird heutzutage im allgemeinen Sprachgebrauch […] für Personen verwendet, welche sich am Leid anderer erfreuen können." (Wikipedia) In diesem Sinne tritt uns aus allen "heiligen" Büchern ein sadistischer Gott entgegen. Und der gläubige Mensch folgt ihm blind. Ein Widerspruch? Nein! Da dieser Gott sowieso nur eine schlechte Arbeitshypothese zur Erklärung der Natur ist, haben ihn Führer exakt so für ihre eigenen Zwecke erfunden: Sie brauchen Gefolgsleute als Schutzmantel und Ernährer. Zu was religiös indoktrinierte Menschen fähig sind, zeigen beispielhaft die großen Pyramiden in Ägypten. Das Gros der Arbeiter waren Freiwillige, die unter fürchterlichsten Bedingungen Frondienste leisteten, um diese Kolossalbauten zu errichten - weil der Pharao gottgleich schien. Wer ihm zu Diensten war wurde mit himmlischen Freuden belohnt. Ebenso jene, die Mohammed in den Krieg oder Konrad III. auf den Kreuzzug folgten und dabei ihr Leben als Märtyrer verloren. Es ging immer um ein Maximum an Belohnung – allerdings erst nach dem Leben, von wo niemand zurückkehrte um zu berichten. Aus diesem Grund musste das Leben auf Erden karg und entbehrungsreich sein. Darum müssen wir im Diesseits sexuell enthaltsam leben, fasten und oft auf Genuss verzichten. Das kompensiert laut Versprechungen der Kleriker das Jenseits im Überfluss. Würden Religionen dafür sorgen, dass wir bereits hier ohne Armut, sexuell erfüllt und schmerzfrei leben könnten, wäre die Verlockung des Paradieses untauglich als Motivation, den Feldherren in religiöse Kriege zu folgen oder ihnen einen Teil der Ernte, des Viehs oder der Töchter abzuliefern.

Deshalb müssen Gläubige entbehren, deshalb müssen sie Qualen bis hin zum Märtyrertod erleiden, um auf das Himmelreich zu hoffen, auf ihre religiöse Rente. Deshalb sind Schmerz und Armut essentielle Bestandteile des monotheistischen Prinzips. Ein wesentliches Rezept dagegen ist Demokratie mit ihrer diesseitigen Orientierung, die den Weg zum persönlichen Wohlstand noch im Leben möglich machte. Dies ist einer der Gründe, warum vor allem der Islam als am wenigsten aufgeklärte Religion derart massiv gegen die Moderne zu Felde zieht. Gleichheit, Freiheit und gutes Auskommen (= weniger Leid) lassen das Interesse am Paradies sinken – und damit die pekuniäre Unterstützung der Kleriker. Wenn es Menschen durch Bildung und Aufklärung im Diesseits besser geht, wird ihre Bereitschaft schwinden, einem bronzezeitlichen Aberglauben zu folgen und dabei ihr eigenes oder fremdes Leben auf Basis jenseitiger Heilsversprechungen wegzuschmeißen.