Das Christentum als Religion des Leidens

Schmerz und Religion

DEIDESHEIM. (hpd) Unsere subjektive Wahrnehmung unterscheidet zwischen Innen- und Außenwelt. Religionen können hier wie dort friedlich, aber auch aggressiv wirken. Dieser Bericht beschäftigt sich ausschließlich mit der Innenwelt im Monotheismus. Wie sollte der Gläubige nach dessen reiner Lehre mit sich selbst umgehen? Selbstbefriedigt oder autoaggressiv?

Schmerzen kennt jeder. Es sind subjektive Sinneswahrnehmungen eines Warn- und Leitsignals, das jeder situationsabhängig unterschiedlich intensiv wahrnimmt. So positiv ihr evolutionärer Grund ist, so sehr versuchen wir sie im täglichen Leben zu vermeiden. Doch wie steht es um gegen sich selbst gerichtete Körperverletzungen aus psychischen, kultischen oder sogar ästhetischen Gründen? Will uns Religion nicht von dem Übel erlösen? Uns in eine paradiesische Welt führen, in der es weder Krankheit, noch Leid gibt? Müssten geistliche Oberhäupter nicht eine schmerzfreie Welt predigen, als Verheißung auf eine Ewigkeit an der Seite Gottes? Religion verpasst sich selbst gerne diesen weihevollen Anstrich - siehe glückselig-ekstatische Gläubige auf religiösen Großveranstaltungen, aber auch das Komfortbedürfnis gewisser Bischöfe.

Aber was ist auf der anderen Seite mit den schmerzverzerrten Gesichtern von Säuglingen und Kindern bei religiöser Beschneidung? Sind das nur bedauerliche Begleiterscheinungen, notwendige Opfer, die man wie die Füllung des Klingelbeutels erbringen muss, um Gott zu gefallen? Oder gehören Schmerz und Entbehrung bewusst ins Diesseits, um die Hoffnung auf ein möglichst kontrastreiches Paradies zu schüren? Gibt es also eine Zweckehe zwischen Schmerz und Religion?

Ich will Antworten und beginne meine Suche in einer Kirche. Ruhe, muffiger Geruch, leise Stimmen, Düsternis und Ehrfurcht strömen mir entgegen, entschleunigen mich wohltuend vom Alltag. Wenigstens hier haben Schmerzen keinen Platz. Oder? Mein Blick geht hinauf zum Christenkreuz, einem altrömischen Hinrichtungsgerät. Ein blutüberströmter Mann schaut mich gequält aus leeren Augen an, ein ausgemergeltes Häuflein Elend. Der könnte uns gewiss etwas über Schmerzen erzählen, hätte er sein Martyrium überlebt. Jesus ist das große Vorbild christlicher Kirchen. Warum dient ausgerechnet ein derart Geknechteter, wie es Millionen Namenlose in der Geschichte der Menschheit gab - häufig genug aus religiösen Gründen - als Vorbild? Weil er litt um der Leiden und Sünden der Welt willen, wie es die Kirche sieht? Oder weil er als Underdog völlig sinnlos starb für "Romani ite domum" also "Romans go home", wie es Monty Python sah? Nun, Letzteres verströmt den Charme einer Plausibilität, denn faktisch war Jesus – so er je existierte - aus Sicht der Römer nichts als ein Terrorist, der gegen ihre großzügige Pax Romana aufbegehrte.

Das sei eine viel zu historische Sicht der Dinge, erläutern mir Pfarrer. "Jesus ist Vorbild, weil er uns in seiner Todesstunde erlöst hat. Wir, die wir ihn anerkennen, können nun fröhlich sein – dank ihm!" Fröhlich? Mir fallen spontan einige Punkte ein, die nicht nach Fröhlichkeit klingen, wenn ich an den monotheistischen Gott denke. Er bestraft uns, lediglich weil Eva Adam zum Obstverzehr verführt hat - etwas, was heute manche Frau vergeblich bei ihrem fleischgierigen Gatten versucht. Den Wahrheitsgehalt dieser Mythen lasse ich außen vor. Mir geht es um diesen Gequälten am Kreuz, der uns seine Passion hinterließ, um den Obstdiebstahl zu sühnen. Mir geht es um dieses Opfer der Religion, das erschreckend symptomatisch erscheint und in seiner Vorbildfunktion viele fatale Entwicklungen nach sich zog.

Ich forsche weiter und stoße auf Erstaunliches: Numerarier, Mitglieder bei Opus Dei, tragen ein Cilicium. Während des 2. Vatikanischen Konzils kleideten sich Kartäuser damit. Quer durch das Mittelalter trugen Mönche, Laien und hohe kirchliche Würdenträger das Cilicium. Im Neuen Testament hatte Johannes der Täufer eines an. Selbst im Alten Testament kleideten sich Könige mit einem Cilicium. Was zum Teufel ist ein Cilicium? Der Name leitet sich ab von Kilikien in Anatolien und bezeichnet einen groben, aus Ziegenhaaren gewebten Stoff, aus dem gewöhnlich Zelte hergestellt wurden. Es ist auch bekannt als Büßergewand, soll also bewusst kratzig und unangenehm zu tragen sein. Von "saq", dem hebräischen Wort dafür und dessen lateinischer Form "saccus" leitet sich unsere Redewendung "In Sack und Asche gehen" ab. Das klingt nicht besonders schmerzvoll. Jesus wurde gequält und bestialisch getötet. Ein kratziges Hemd hätte sein Leiden kaum gesteigert.

Ich bemühe medizinische Erkenntnisse: "Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebeschädigung einhergeht oder von betroffenen Personen so beschrieben wird, als wäre eine solche Gewebeschädigung die Ursache." (Definition der IASP = International Association for the Study of Pain) Nach dem biopsychosozialen Schmerzkonzept wird Schmerz als komplexe Wechselwirkung zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren empfunden. Er wird also subjektiv wahrgenommen - nicht allein durch neuronale Signale der Schmerznervenfasern. Schmerz an sich ist also keine Krankheit, sondern wird als sehr wandlungsfähig und – aus Sicht unserer Vorfahren – als unheimlich, ja mystisch wahrgenommen. Entstehung und Erkenntnisort der Schmerzen im Körper war lange Zeit unbekannt, bis Mediziner Nervenbahnen und das Gehirn in seiner tatsächlichen Funktion erkannten.