Direkte Demokratie

Landesregierung scheitert seit Jahren an Zustimmungsquorum

Standpunkte, die rational nicht begründbar sind, entspringen dem Gefühl, oftmals einem Angstgefühl. Hier wohl die Angst, von politischen Minderheiten überstimmt zu werden, obwohl jede/r die Möglichkeit hat, gegen diese Minderheiten mit Nein zu stimmen. Doch gegen Gefühle lässt sich schwerlich argumentieren, wie auch Verliebte und Religiöse immer wieder lehren. Aber vielleicht liegt dem Beharren auf Quoren nicht nur ein Angstgefühl, sondern vielmehr Bequemlichkeit zugrunde, wie es ein Kommentar auf der Facebook-Seite Volksentscheid M-V nahelegt: "Um 'NEIN' zu voten brauchte man am Sonntag die Couch nicht zuverlassen, das war in Ordnung und Bürgerfreundlich." (Fehler i. Orig.) Demnach wäre ein Quorum ein Schutz für Sofasitzer, die darauf bauen, dass es vom JA-Lager nicht erreicht wird. Diesem Effekt zufolge müsste es als demokratiefeindlich bewertet werden, denn Demokratie lebt von aktiver Beteiligung.

Oder sind die Gründe der Befürworter hoher Quoren letztendlich in der Absicherung eines Machtmonopols zu suchen, welches man selbst in Händen hält, in der Abschottung des eingespielten Parlamentsbetriebes gegen unbequeme Einflüsse von außen? Wenn man sich Bürgermitbestimmung schon allein aufgrund des Zeitgeistes nicht verweigern kann, dann soll diese sich möglichst in nicht funktionierenden Verfahren totlaufen - so könnte die Strategie formuliert werden. Das Gesetzgebungsmonopol des Parlaments soll unangetastet bleiben. Genau um eine solche Allmacht des Parlaments zu verhindern, wurde 1919 die Volksgesetzgebung in die Weimarer Reichsverfassung als direktdemokratisches Korrektiv eingefügt. Als Korrektiv gegenüber dem Parlament, welches nach dem Wegfall der es einst beschränkenden Monarchie zum Gesetzgebungsmonopolisten aufzusteigen drohte. Machtbeschränkung des Parlaments war die wesentliche Intention für die damalige Aufnahme der Volksgesetzgebung, weniger die Bürgermitbestimmung. Gerade zur Abwehr dieser Machtbeschränkung sind viele Politiker heute Verfechter von Zustimmungs- und Beteiligungsquoren, die sie mit einer angeblichen Gefahr von die Mehrheit beherrschenden Minderheiten begründen, und worin Ihnen viele Bürger infolge unreflektierter Angstgefühle zu gerne folgen.

Das die Angstmache mit politischen Minderheiten überhaupt funktioniert, liegt an einer die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse verschleiernden Wahlberichterstattung, welche ausnahmslos mit Proporzzahlen hantiert, also Verhältniszahlen, welche sich auf die Sitzverteilung in den Parlamenten beziehen, die ja vollkommen unabhängig von der Wahlbeteiligung immer zu 100% besetzt werden. Absolute Prozentzahlen, die sich auf alle Wahlberechtigten beziehen, werden nie genannt. Bei 50% Wahlbeteiligung werden auf diese Weise bescheidene absolute 19% zu respektablen 38% aufgeblasen. Und wer absolut gerade mal 5% vorweisen kann, darf sich in der medialen Berichterstattung dann immerhin mit 10 Proporzprozenten schmücken. Und Parlamentsmehrheiten beginnen immer erst bei 51%, selbst wenn sie tatsächliche nur 26% eigene Wählerschaft vertreten sollten.

Dieser beständige Gebrauch der höheren Proporzzahlen gaukelt eine Legitimation des repräsentativen Systems und der Regierenden vor, welche von den absoluten Zahlen nicht bestätigen wird. Heutige Parlamentspolitik ist nicht durch Mehrheiten in der Wählerschaft legitimiert, sondern der Minderheitenstatus ist der Normalfall! Wäre dieses Faktum dank einer transparenten Kommunikation Bestandteil des allgemeinen politischen Bewusstseins, würde kaum jemand ein Problem mit Volksentscheiden haben, bei denen wie im Fall M-V, die Entscheidung von einer Minderheit von 19,7% der Wahlberechtigten getroffen wird. Eine Argumentation gegen entscheidende Minderheiten, wie die eines Herrn Hartmann, würde ins Leere laufen und könnte nicht gegen Volksabstimmungen gerichtet werden, um deren Regelung zum Nachteil der Anwender restriktiv zu gestalten.

19,7% JA-Stimmen aller Wahlberechtigten in M-V liest sich wie eine Bestätigung des Vorwurfes, Minderheiten könnten in Volksentscheiden Mehrheiten über den Tisch ziehen, wenn nicht ein Quorum dies verhindern würde. Abgesehen davon, dass keine Partei in M-V eine Wählerschaft dieser Größe vorweisen kann, wäre auch der mögliche Fall einer deutlich höheren Zustimmung, z.B. 32% Ja-Stimmen zu einem Gesetzentwurf zu untersuchen. In diesem würden 32% der Abstimmungsberechtigten, was mehr sind als die amtierende Regierung an eigenen Wählern vorweisen kann(!), in einem Volksentscheid zwar die Mehrheit für einen Gesetzentwurf bilden, aber trotzdem am Quorum von 33% scheitern. Hier stellt sich die grundsätzliche Frage, ob Quoren bei Volksentscheiden überhaupt mit dem Prinzip der Volkssouveränität, welches dem GG zugrunde liegt, vereinbar sind und ob darüber hinaus noch eine Ungleichbehandlung zweier Gesetzgebungsverfahren vorliegt?

Denn das Zustimmungsquorum auf das Parlament übertragen zeigt, dass die Landesregierung von M-V seit vier Jahren selbst an diesem scheitert, denn sie ist nur von 30,2% der Wahlberechtigten gewählt. Trotzdem gelten die von ihr erlassenen Gesetze als legitim. Auch die Regierungen in Bayern (30,6%), Baden-Württemberg (31,3%), Berlin (31,1%), Brandenburg (26,3%), Bremen (24%), Hamburg (25,8%), Niedersachsen (27,6%), NRW (30%), Rheinland-Pfalz (31,2%), Sachsen-Anhalt (27,6%), Schleswig-Holstein (29%), Thüringen (32,5%) würden an einem Zustimmungsquorum von 33% aller Abstimmungsberechtigten, wie in M-V gültig, scheitern. Lediglich die Regierungen in Hessen (36,1%) und dem Saarland (40%) könnten derzeit mit ihrer Wählerschaft dieses erfüllen. Kann es verfassungskonform sein, dass für den Gesetzgebungsweg per Volksentscheid Hürden gelten, an denen fast alle Landesregierungen scheitern würden? Ist es mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Willkürverbot vereinbar, dass an das parlamentarische und das direktdemokratische Gesetzgebungsverfahren zweierlei Maß bzgl. ihrer Legitimierung angelegt werden? Der allgemeine Gleichheitssatz besagt, der Staat darf nicht wesentlich Gleiches ungleich behandeln.

Ob die Zustimmungs- und Beteiligungsquoren bei Volksentscheiden mit den Verfassungsgrundsätzen der Volkssouveränität und des Gleichheitssatzes vereinbar sind, müssten Juristen klären. Vielleicht gerade die aus Mecklenburg-Vorpommern, halten sie doch aktuell einen justiziablen Fall in eigener Sache in den Händen.

Anmerkung: Die dreistufige Volksgesetzgebung besteht aus Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid. Die ersten beiden Stufen beinhalten auch Quoren, bei denen es sich um Unterschriftenzahlen handelt, die gesammelt werden müssen. Zustimmungs- und Beteiligungsquoren betreffen nur die Abstimmung beim Volksentscheid. Der Begriff Volksabstimmung bezeichnet entweder Volksbegehren und Volksentscheid als Einheit, oder steht synonym nur für die Abstimmung beim Volksentscheid.

[1] DNN vom 21.3.2015