Die Komplexität adäquater Entscheidungsprozesse
Entscheidungen finden häufig zwischen Rationalität und Bauchgefühl statt. Entscheidungssituationen sind oftmals unangenehm weil sie verunsichern, denn was richtig und falsch ist, zeigt sich erst in der Zukunft – und die kann niemand vorhersehen. Entscheidungen können spontan, emotional, zufällig oder rational erfolgen. Eine rational begründete Entscheidung ergibt sich aus einem logischen Entscheidungsprozess: Ziele werden abgesteckt, Bewertungskriterien definiert, Alternativen formuliert und diese mit einer logischen und nachvollziehbaren Methode bewertet. Darüber hinaus fließen immer auch Erfahrungen in Entscheidungen ein. Obwohl rational begründete Entscheidungen auch einen intuitiven Anteil haben, erhöhen die hier beschriebenen Techniken das Gefühl der Sicherheit bei den Entscheidern, auch wenn sie nie eine vollständige Sicherheit gewährleisten können.
Eine zunehmend komplexe Welt erhöht auch die Komplexität eines adäquaten Entscheidungsprozesses, aufgrund des gewachsenen Informationsbedarfs und den schier unermesslichen Informationsquellen. Hinzu kommt die Logik einer nationalstaatlich organisierten Demokratie: Von Bedeutung ist allein das Interesse der Mehrheit der Bürger innerhalb der Grenzen des Nationalstaates. Globale Relevanzen haben nur mittelbar einen Einfluss auf die Entscheidungsprozesse der Demokratie. Genau dies macht die Lösung globaler Probleme und die Bewahrung globaler Kollektivgüter – wie zum Beispiel die Umwelt – so schwierig und anfällig für nationalistische und populistische Verweigerungsstrategien. Wichtig ist, dass den Wählern deutlich gemacht wird, dass auch internationale Lösungen im nationalen Interesse sein können und häufig sind.
Und hier kommen wir auf das weiter oben gesagte zurück, dass in einer komplexen Welt Entscheidungen als Teil eines Prozesses gesehen werden müssen, der aus Denken, Experimentieren und Reflektieren besteht. Reflexionswissen aufgrund differenzierter Betrachtungsweisen ist Grundvoraussatzung zur Bewältigung der auf uns zukommenden Problemstellungen.
Chancen und Risiken des Internet als globale Daten- und Informationsquelle
Die zu beantwortende Frage ist, ob das Internet als Daten- und Informationsquelle das Verständnis für eine zunehmend komplexer werdende Gesellschaft fördert, also die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger zu kundige und verständige Wählerinnen und Wähler qualifizieren kann. Die Wissensvermittlung via Internet stößt hier an seine Grenzen.
Mit dem Internet steht heute eine globale Daten- und Informationsfülle zur Verfügung, die eine Revolution in der Informationsvermittlung hervorgerufen hat, wie sie wohl nur mit der Gutenberg´schen Erfindung der Buchdruckerkunst vergleichbar ist. Mit dem Internet ist nun weltweit eine schier unermessliche Informationsquelle erschlossen worden. Und das Internet bietet die Möglichkeit, über Suchmaschinen und Meta-Suchmaschinen das globale elektronisch dokumentierte Wissen zu erreichen. Doch selbst schnelle Suchmaschinen bewältigen die Datenflut nicht vollständig. Es ist zu beachten, dass benötigtes Wissen in den großen Datenmengen bisweilen nicht mehr gefunden wird. Problematisch ist auch, dass die Suchalgorithmen nicht bekannt sind und die Qualität der Ergebnisse von Suchanfragen vom Nutzer nicht beurteilt werden kann.
Auch ist der Zugang zum Internet unkontrolliert, der Wert von Informationen ist damit naturgemäß sehr unterschiedlich. Eine seriöse Nutzung des Internet verlangt daher eine große Aufmerksamkeit bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit von Quellen – doch wer treibt schon diesen Aufwand. Die neue Quantität der Informationsmenge erfordert eine neue Qualität ihrer Verarbeitung und Bewertung. Was wir brauchen ist eine zeitgemäße Ethik der Anwendung des Wissens. Doch dabei stecken wir noch in den Kinderschuhen.
Das Internet hat in der Informationsvermittlung einen gleichberechtigten Platz neben Presse, Rundfunk und Fernsehen eingenommen, deshalb muss diese Technologie als Teil der "vierten Gewalt" hinsichtlich ihrer gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen kritisch hinterfragt werden. Insbesondere muss eine zeitgemäße Ethik der Anwendung des Wissens das Augenmerk auf die erhaltenen Daten professioneller Suchmaschinen richten, denn sie sind das Ergebnis einer intransparenten Selektion durch Dritte. Eine wichtige Nutzungsvoraussetzung ist die Kompetenz zur Abschätzung der Relevanz bzw. Zuverlässigkeit der erhaltenen Daten, sowohl im Hinblick auf die Quellen als auch die Aussagekraft der Inhalte.
Wenn auch nicht alle Erwartungen an das Internet hinsichtlich Transparenz und Bürgerbeteiligung eingelöst wurden, so birgt sie doch auch Chancen für ein Mehr an partizipativem Verständnis von Politik. Dies sollte die Politik nutzen um mehr Bürgerbeteiligung zu erreichen und der Krise der Partizipation unserer Demokratie entgegenzuwirken.
Die Krise der Partizipation
Dass die Demokratien mit einer Krise der Partizipation konfrontiert sind, lässt sich nur schwerlich bestreiten. Die eher optimistische Variante einer Ausweitung der Partizipation (Liquid Democracy) gründet häufig auf technologischer Euphorie und basisdemokratischer Romantik. Die Aufwendungen einer Differenzierung der Partizipation müssen gegen die verheerenden Auswirkungen einer Politik- und Parteienverdrossenheit aufgewogen werden, die inzwischen dramatische Ausmaße annimmt. Alle Vorschläge müssen willkommen sein, die die Partizipation und das Engagement von Bürgern für Beteiligung an politischen Entscheidungen fördern. Dagegen ist es wenig hilfreich, aus formalen Gründen auf allgemeiner Partizipation dort zu bestehen, wo sie nicht zielführend ist.
Vor allem Volksentscheide sollen dabei unterstützen, in den politischen Entscheidungen dem jeweiligen Willen der Abstimmenden zu entsprechen. Nicht erst der Absturz der Piratenpartei zeigt deutlich, dass hier ein kurzfristiger Hype zu romantischen Erwartungen führen kann. Zu Recht werden jedoch die engen Grenzen parlamentarischer Repräsentation immer wieder betont. Zu fordern ist eine Durchdringung der repräsentativen Demokratie mit einer Fülle möglicher Partizipationsformen. Aber auch die Problematik allgegenwärtiger Ignoranz und kurzsichtiger oder gar irrationaler Wähler darf nicht verharmlost werden.
Die Politik hat auf die kognitive Überforderung in einer zunehmend komplexen Welt bereits reagiert. So hat sie für schwierige Politikfelder fachlich autonome Institutionen geschaffen, die aber dennoch einer indirekten Aufsicht durch die Politik unterstehen, wie die Zentralbanken, die TÜVs, Rechnungshöfe, Ärzte-, Rechtsanwalts- und Therapeutenkammern, etc.. Im Hintergrund stand die Einsicht Pate, dass diese spezifischen Problemfelder die “normalen” Prozesse demokratischen politischen Entscheidens überfordern und daher alternative Formen zu entwickeln sind, welche die in einer autonomen Institution gebündelte professionelle Kompetenz mit einer indirekten demokratischen Kontrolle – etwa durch das Parlament – verknüpfen.
Die Delegation öffentlicher Autorität an beauftrage professionelle Institutionen ist kein Patentrezept und kein Allheilmittel. Sie nimmt ein Absenken des Anspruchsniveaus formaler Demokratie bewusst in Kauf, um problematische Verzerrungen des demokratischen Entscheidungsprozesses zu vermeiden – etwa massenmediale Verdummung, populistische Trivialisierung oder die Bevorzugung kurzfristiger Erfolge auf Kosten langfristiger Katastrophen.
Sind Volksentscheide als Ergänzung der Demokratie die ultimative Lösung?
Als Beispiel für eine funktionierende repräsentative Demokratie mit einer starken basisdemokratischen Komponente wird häufig (und sicherlich zu Recht) die Schweiz angeführt. Aber auch dort muss einiges kritisch gesehen werden und nachdenklich machen.
So scheiterte im Schweizer Parlament und Bundesrat die SVP (Schweizerische VolksPartei) regelmäßig mit Anliegen wie z.B. der Minarett-, Ausschaffungs-, Verwahrungs- oder Masseneinwanderungs-Initiative. Das Stimmvolk sagte in Volksentscheiden hingegen viermal "Ja"! Das Parlament muss nun diese Verfassungsnormen gegen seine Überzeugung umsetzen. Da diese Verfassungsnormen auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, hat die SVP nun eine Initiative gestartet mit dem Ziel, dass die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keine maßgebende Richtschnur mehr für die Schweiz ist. Es ist zu befürchten, dass auch diese Initiative durch die Wahlbürger durchgewunken wird.
Resümee für verantwortungsvolles Handeln der Politik
Im Fokus unserer Demokratie stehen nach wie vor die Belange unseres Nationalstaates. Angesichts der geschilderten aktuellen Herausforderungen ist dieser Fokus jedoch nicht mehr ausreichend. Zur Lösung globaler Probleme wie Klimawandel und Migrationsströme - um nur zwei zu nennen – müssen globale Steuerungsmöglichkeiten vermehrt geschaffen werden. Dies wird zu einer Aufwertung von "Global Governance"-Lösungen[2] führen.
Weder Demokratie noch Global Governance sind perfekte Steuerungsmechanismen. Aber die Kombination zweier nicht perfekter Steuerungskonzepte könnte für die demokratische Gesellschaft zu etwas Besserem führen. Ziel ist, dass nationale Demokratien in Kooperation mit globalen Steuerungsinstrumenten in die Lage versetzt werden, universellen Erfordernissen gerecht zu werden. Schon heute gibt es zahlreiche, ermutigende Beispiele von Institutionen, die erfolgreich über nationalstaatliche Grenzen hinaus denken und agieren.
Um es nochmals zu sagen: Alle angedachten Maßnahmen sollen mehr Demokratie, nicht weniger, ermöglichen. Es geht um die Anpassung demokratischer Steuerungssysteme an veränderte Rahmenbedingungen durch eine zunehmend komplexer werdende Welt. Unsere Demokratie muss weiter entwickelt werden um den Anforderungen der heutigen Zeit gerecht werden zu können. Aufgabe der Politik ist, dies in einer anschaulichen und konkreten Sprache so zu erklären, dass die Notwendigkeit dem Souverän verständlich wird.
Die Ideen der Aufklärung können uns dabei Vorbild sein! Triebfeder der Aufklärung im 18ten Jahrhundert war die Kritik am Bestehenden und der Wille zu Reformen. Die Begriffe "Vernunft" und "Freiheit" wurden zu Waffen und müssen heute wieder geschärft und gegen Ignoranz und Behäbigkeit ins Feld geführt werden. Immanuel Kant hat die Aufklärung auf eine griffige Formel gebracht: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen."
[1] Helmut Willke, Demokratie in Zeiten der Konfusion, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2131
Helmut Willke untersucht in diesem - sehr zu empfehlenden - Buch die Folgen der Globalisierung für demokratische Staaten. Er kommt zu den Ergebnissen: Globale Institutionen werden seit drei Jahrzehnten unter dem Stichwort Global Governance verhandelt. Besonders bedeutsam sind dabei Verschiebungen in Bezug auf die Schaffung von Legitimität. Zum einen die Verschiebung von formaler Legitimität hin zu einer Legitimierung durch Leistung. Zum anderen eine Verschiebung von rein rechnerischer Legitimität (Mehrheit / Minderheit) zu einer inhaltlichen Fundierung von Legitimität durch Wissen und Expertise. Unter den Vorbehalten klassischer Demokratie sind beide Verschiebungen brisant und prekär. Zugleich sind sie allerdings unter den Bedingungen einer globalisierten Wissensgesellschaft notwendig, und sie deuten nach Ansicht von Willke die Richtung an, in die sich die Demokratie entwickeln könnte.
[2] "Als politisches Programm meint Global Governance die kooperative, multilaterale Gestaltung der Globalisierung." Wikipedia
2 Kommentare
Kommentare
Philo am Permanenter Link
Georg Schramm wurde mal gefragt, ob er Politiker sei und antwortete darauf mit dem schlichten Satz: "Nee, ich bin ein anständiger Mensch."
Und was Herr Schramm innerhalb kurzer Zeitramen nicht allumfassend aufschlüsseln kann, kann auch kein Berufspolitiker verarbeiten und öffentlich vermitteln, darum sie in zahlreichen Zuständigkeitsbereichen aufgegliedert Tag für Tag, Frage um Frage, Sorge an Sorge u.s.w. u.s.f. zunehmend mehr überfordert werden, ansonsten wir nicht vor jenen soziologischen Schwierigkeiten ständen, die unseren Alltag bestimmen.
Und genau diese nicht mehr überschaubare und beherrschbare Komplexität ist es, die nach anderen Arbeitskriterien zur Regulierung gesellschaftlicher Anliegen verlangt, denn politische Aktivitäten haben mit kritisch rationalen Auslotungen überhaupt nichts zu tun.
Dazu gehören auch sprachliche Entwicklungen, die - wie ich finde - mit nur zu vielen unscharfen Begriffen, meist entstanden aufgrund irriger Thesen, durchwuchert sind.
Dazu auch der Terminus "Politik" gehört, denn: Was bedeutet dieser Begriff tatsächlich?
Und schlimmer noch! Was bedeutet der Begriff "Staat"?
Ist etwa das Volk eines Landes der Staat?
Wenn ja, warum ruft dann das Volk nach dem Staat?
Ruft es quasi nach sich selbst?
Politische Gruppierungen stellen jedenfalls keinen Staat dar, sondern sind als Volks- oder Staatsbedienstete definiert.
Und wer bitte regiert ein Volk?
Regiert etwa das Volk über sich selbst?
Oder regieren eher Volksvertreter?
Nach Analysen anderer besorgter Bürgerinnen und Bürger sollen weder Völker, noch Politiker, sondern Wirtschaftseliten darüber bestimmen, was sowohl national und darüber hinaus auch international gelebt werden soll, und was nicht.
Nach weiteren - schon recht alten - Überlegungen heißt es auch, Geld regiere die Welt, womit alle Staaten, die sich ein Geldsystem pflegen, angesprochen sind.
Oder stimmen möglicherweise alle genannten Ingredienzien, die über Jahrtausende hinweg tradiert und daher nach hierarischen Denkgewohnheiten um Vormachtsstellungen kämpfen?
Wie intelligent sind "Staaten" in Wirklichkeit, wenn mitunter ein expotentiell wachsendes Finanzwesen kaum bekannt gibt, dass es nicht wegen der Zinsidee unaufhörlich wächst, sondern vielmehr das Gen bzw. Mem des Zinseszins dafür verantwortlich ist?
Letztere Frage formulierte ich nicht unbedacht in Form eines "Pathetischen Trugschlusses", zumal Milliarden von Menschen sich noch größere Geistesverirrungen leisten.
Zumindest aber versuche ich damit klar zu machen, was sich Menschen nicht alles leisten können, und das schließt selbstverständlich sämtliche Energieverschwendungen mit ein.
Es stimmt tatsächlich, dass Politik keine mathematisch exakte Wissenschaft ist, zumal Mathematik ohnehin eine Sprachmethodik definiert.
Aber dass Politik nicht auf eine "Glaubenssache" reduziert werden darf, stimmt absolut nicht, denn soziologische Probleme ließen und lassen sich einzig naturwissenschaftlich arbeitend lösen.
Und nichts anderes hat die bisherige Menschheitsgeschichte aufgezeigt, und das völlig unabhängig davon, was mitunter Politiker dazu meinen, denn Wirklichkeiten sind grundsätzlich selbsterklärend.
MfG, Philo
Hans Arnold am Permanenter Link
<Kultur des Experimentierens>
<wahlberechtigte Bürger>
Das ist erste Stufe der Demokratie, die Wahlberechtigung für Regierungen.
Demokratie als Ziel aber, muss die Bürger zunehmend in sämtliche Entscheidungen miteinbeziehen, über die Ausgestaltung der Referundums- und Initiativkompetenz. Nur damit gelingt die Heranbildung politisch fähiger Bürger und damit statistisch hohe Wahrscheinlichkeit für zielorientierte richtige Entscheide.
Langsamkeit in gesellschaftlichen, nicht wirtschaftlichen, Prozessen ist dabei eher Vorteil als Nachteil.
Wozu wäre das digitale Zeitalter besser prädestiniert, als die Schaffung, grossräumiger direkter Demokratien, die bedeutendste Forderung an diese Erungenschaft der Technik im Dienste des Menschen.
Der Hauptwiderstand gegen eine solche Entwicklung sehe ich im destruktiven Machtstreben des Menschen und diesen zurück zu bilden, dazu wird ein weiterer, langwieriger Evolutionsprozess von Nöten sein.