BERLIN. (hpd) Politik ist keine mathematisch exakte Wissenschaft, aber sie darf auch nicht auf eine "Glaubenssache" reduziert werden! Politik hat die Aufgabe der Entschlüsselung unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Sie muss Zusammenhänge in einer anschaulichen, konkreten Sprache erklären, vorausschauend denken, Weichenstellungen vornehmen und so die Zukunft gestalten. Fortschrittliche Politik muss dabei aufklärerisch wirken und wahrhaftig sein. Keine einfache Aufgabe, deren Erfüllung man sich nur durch Diskurs und Disput angemessen nähern kann. Doch auf welche Wirklichkeit trifft Politik heute und welche Schlussfolgerungen sind daraus für verantwortungsvolles politisches Handeln zu ziehen?
Herausforderungen einer komplexer werdenden Welt.
Den Herausforderungen in einer scheinbar immer komplexer werdenden Welt gerecht zu werden ist nicht einfach. Doch müssen wir zunächst ein gemeinsames Verständnis davon haben, was wir unter einer zunehmend komplexen Welt verstehen: In einer komplexen Welt lassen sich die Dynamiken nicht genau modellieren, die aufgrund der Interaktion von Einzelelementen ausgelöst werden (als Beispiel kann die Studie "Die Grenzen des Wachstums" des Club of Rome von 1972 herangezogen werden). Veränderungen in einem solchen komplexen System führen zu nicht vorhersagbaren Aus- und Wechselwirkungen; die Folgen von Entscheidungen lassen sich also nicht mehr vorhersagen. Zur Lösung komplexer Herausforderungen brauchen wir eine Kultur des Experimentierens und des Sich-Einlassens auf dynamische Veränderungen. Experten können hier nur bedingt weiterhelfen. In einer komplexen Welt müssen Entscheidungen als Teil eines Prozesses gesehen werden, der aus Denken, Experimentieren und Reflektieren besteht.
Aber war früher unsere Welt wirklich einfacher? Betrachten wir die Geschichte Europas, so sehen wir, dass es politisch in Europa in früheren Zeiten weit aufregender und wechselhafter zuging als heute. Und auch der Siegeszug einer alles verändernden Technologie hat nicht mit dem Internet begonnen. Natürlich erhöht jede gesellschaftliche Veränderung und jede Erfindung auf einem bestimmten Gebiet die Komplexität. Jede technische Revolution seit dem Buchdruck hatte unmittelbar Auswirkungen auf den Alltag aller Menschen, nicht nur der Eliten. Die Welt war früher m. E. nicht einfacher, aber weniger komplex im Sinne von vorhersehbaren Aus- und Wechselwirkungen.
Gleichzeitig schürt so eine intuitive Vorstellung einer komplexer werdenden Welt, die häufig nicht einmal von Experten zu durchschauen ist, natürlich die Angst. Wer glaubt, dass nichts mehr sicher ist, dass wir in einer ganz besonders unsicheren Zeit leben, der fühlt sich eben verunsichert. Und hier beginnt das Problem!
Durch die Globalisierung werden nun zusätzlich die Grenzen nationalstaatlicher Souveränität verwischt. Lokale Problemursachen erzeugen globale Wirkungen, und lokaler Aktionismus ist häufig von globaler Bedeutungslosigkeit.
Die Industriegesellschaft macht auch sukzessive Elementen einer Wissensgesellschaft Platz. Wissen bekommt die Bedeutung eines primären Produktivfaktors, und Nichtwissen wird zum übergreifenden Problem für die Gesellschaft und die Demokratie.
Demokratie als beste verfügbare Regierungsform.
Nach den Krisen der letzten Jahrzehnte und den weltweiten aktuellen Krisen (Umweltschutz, Hunger in der sog. Dritten Welt, etc.), an denen unsere Gesellschaft maßgeblich beteiligt war und ist, müssen wir uns der Frage nach der Brauchbarkeit von unserem derzeitigen Demokratiemodell stellen. Wenn die "Intelligenz der Demokratie" (Helmut Willke) auf Zeiten der Prosperität und Übersichtlichkeit beschränkt ist, und die Leistungsfähigkeit der Demokratie unzureichend wird sobald die Verhältnisse unübersichtlich und komplex sind, dann ist es an der Zeit, die Grenzen des geltenden Demokratiemodells zu diskutieren und den Spielraum für Weiterentwicklungen auszuloten!
Es geht dabei nicht darum, die Demokratie auf eine Expertokratie zu reduzieren! Ausgangspunkt aller Überlegungen ist vielmehr die Überzeugung, dass für komplexe dynamische Gesellschaften Demokratie zwar die beste aller verfügbaren Steuerungsformen ist, aber dennoch nicht gut genug angesichts der neuen Herausforderungen. Also muss sie nicht abgeschafft, sondern weiterentwickelt werden.
Die systemische Stärke des demokratischen Modells liegt - nach Helmut Willke[1] - in der Organisation des Entscheidungsprozesses. Ergänzt wird diese systemische Stärke durch die Bedeutung der Demokratie für Wert- und Rechtsstellung der Person, die vor allem in den Grund- und Menschenrechten zum Ausdruck kommt. Das Zusammenspiel von personenbezogenen und systemischen Stärken macht die Demokratie einzigartig in Bezug auf die Steuerung komplexer moderner Gesellschaften und allen anderen Regimen überlegen. Diese Verknüpfung macht laut Helmut Willke gleichzeitig ihren einzigartigen Charakter aus.
Der Mythos des rationalen Wählers und das Problem des Populismus
Demokratie war bisher immer eng an den Rahmen des souveränen Nationalstaates gebunden. Und Demokratie setzt voraus, dass wahlberechtigte Bürger und Bürgerinnen einschätzen und verstehen können, worüber sie abstimmen. Beide maßgeblichen Bedingungen für Demokratie erweisen sich zunehmend als Fiktion und somit ist der Mythos des rationalen Wählers in den letzten Jahrzehnten entzaubert worden.
Unvermeidbare Unwissenheit ist flächendeckend zu beobachten und bringt eine Demokratie in Verlegenheit, die auf den öffentlichen Diskurs der öffentlichen Angelegenheiten durch kundige und verständige Bürger setzt. Faktisch aber produziert die umfassende kognitive Überforderung der Wähler einen Zwang zur Simplifizierung (Vereinfachung) und Trivialisierung (Vergröberung), die einen brandgefährlichen Populismus Vorschub leisten. "Unwissenheit war von jeher und ist noch die Quelle aller Barbarei", lautet ein immer noch aktueller Aphorismus von Theodor Körner.
Problematisch für die demokratische Steuerung komplexer Gesellschaften ist der Populismus auch deshalb, weil er Komplexität als prägendes Merkmal moderner Gesellschaften negiert. Er forciert stattdessen eine Simplifizierung und Trivialisierung gesellschaftlicher Probleme und ist eifrig darum bemüht, der Gesellschaft Sündenböcke für ihre Probleme zu liefern. Das Grundaxiom des Populismus ist die Berufung auf den "common sense". Aus populistischer Sicht ist der "gesunde Menschenverstand" dem Reflexionswissen von Intellektuellen nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen, weil er auf konkreter, lebensweltlicher Erfahrung beruhe und daher noch einen unverfälschten "gesunden" Zugang zu Recht und Wahrheit habe.
2 Kommentare
Kommentare
Philo am Permanenter Link
Georg Schramm wurde mal gefragt, ob er Politiker sei und antwortete darauf mit dem schlichten Satz: "Nee, ich bin ein anständiger Mensch."
Und was Herr Schramm innerhalb kurzer Zeitramen nicht allumfassend aufschlüsseln kann, kann auch kein Berufspolitiker verarbeiten und öffentlich vermitteln, darum sie in zahlreichen Zuständigkeitsbereichen aufgegliedert Tag für Tag, Frage um Frage, Sorge an Sorge u.s.w. u.s.f. zunehmend mehr überfordert werden, ansonsten wir nicht vor jenen soziologischen Schwierigkeiten ständen, die unseren Alltag bestimmen.
Und genau diese nicht mehr überschaubare und beherrschbare Komplexität ist es, die nach anderen Arbeitskriterien zur Regulierung gesellschaftlicher Anliegen verlangt, denn politische Aktivitäten haben mit kritisch rationalen Auslotungen überhaupt nichts zu tun.
Dazu gehören auch sprachliche Entwicklungen, die - wie ich finde - mit nur zu vielen unscharfen Begriffen, meist entstanden aufgrund irriger Thesen, durchwuchert sind.
Dazu auch der Terminus "Politik" gehört, denn: Was bedeutet dieser Begriff tatsächlich?
Und schlimmer noch! Was bedeutet der Begriff "Staat"?
Ist etwa das Volk eines Landes der Staat?
Wenn ja, warum ruft dann das Volk nach dem Staat?
Ruft es quasi nach sich selbst?
Politische Gruppierungen stellen jedenfalls keinen Staat dar, sondern sind als Volks- oder Staatsbedienstete definiert.
Und wer bitte regiert ein Volk?
Regiert etwa das Volk über sich selbst?
Oder regieren eher Volksvertreter?
Nach Analysen anderer besorgter Bürgerinnen und Bürger sollen weder Völker, noch Politiker, sondern Wirtschaftseliten darüber bestimmen, was sowohl national und darüber hinaus auch international gelebt werden soll, und was nicht.
Nach weiteren - schon recht alten - Überlegungen heißt es auch, Geld regiere die Welt, womit alle Staaten, die sich ein Geldsystem pflegen, angesprochen sind.
Oder stimmen möglicherweise alle genannten Ingredienzien, die über Jahrtausende hinweg tradiert und daher nach hierarischen Denkgewohnheiten um Vormachtsstellungen kämpfen?
Wie intelligent sind "Staaten" in Wirklichkeit, wenn mitunter ein expotentiell wachsendes Finanzwesen kaum bekannt gibt, dass es nicht wegen der Zinsidee unaufhörlich wächst, sondern vielmehr das Gen bzw. Mem des Zinseszins dafür verantwortlich ist?
Letztere Frage formulierte ich nicht unbedacht in Form eines "Pathetischen Trugschlusses", zumal Milliarden von Menschen sich noch größere Geistesverirrungen leisten.
Zumindest aber versuche ich damit klar zu machen, was sich Menschen nicht alles leisten können, und das schließt selbstverständlich sämtliche Energieverschwendungen mit ein.
Es stimmt tatsächlich, dass Politik keine mathematisch exakte Wissenschaft ist, zumal Mathematik ohnehin eine Sprachmethodik definiert.
Aber dass Politik nicht auf eine "Glaubenssache" reduziert werden darf, stimmt absolut nicht, denn soziologische Probleme ließen und lassen sich einzig naturwissenschaftlich arbeitend lösen.
Und nichts anderes hat die bisherige Menschheitsgeschichte aufgezeigt, und das völlig unabhängig davon, was mitunter Politiker dazu meinen, denn Wirklichkeiten sind grundsätzlich selbsterklärend.
MfG, Philo
Hans Arnold am Permanenter Link
<Kultur des Experimentierens>
<wahlberechtigte Bürger>
Das ist erste Stufe der Demokratie, die Wahlberechtigung für Regierungen.
Demokratie als Ziel aber, muss die Bürger zunehmend in sämtliche Entscheidungen miteinbeziehen, über die Ausgestaltung der Referundums- und Initiativkompetenz. Nur damit gelingt die Heranbildung politisch fähiger Bürger und damit statistisch hohe Wahrscheinlichkeit für zielorientierte richtige Entscheide.
Langsamkeit in gesellschaftlichen, nicht wirtschaftlichen, Prozessen ist dabei eher Vorteil als Nachteil.
Wozu wäre das digitale Zeitalter besser prädestiniert, als die Schaffung, grossräumiger direkter Demokratien, die bedeutendste Forderung an diese Erungenschaft der Technik im Dienste des Menschen.
Der Hauptwiderstand gegen eine solche Entwicklung sehe ich im destruktiven Machtstreben des Menschen und diesen zurück zu bilden, dazu wird ein weiterer, langwieriger Evolutionsprozess von Nöten sein.