"Denn Gott hat niemand je gesehen"

Sehr detalliert geht der Autor auf biblische Widersprüche ein, insbesondere in der Genesis über die Erschaffung der Welt. Dieses Buch galt ja in der christlichen Welt für lange Zeit als historische Wahrheit… Flaschs diesbezügliche Analysen und Argumentationen sollten unbedingt in die Hand heutiger Religions- und Kirchenkritiker gehören.

Auch die “Erlösung”, also der Glaube an die Erlösung, gehört zum Kern des Christentums. Diesem Thema hat Flasch deshalb – konkreter auf die christliche Glaubenslehre eingehend – ein eigenes Kapitel gewidmet. Und dies wiederum anhand diverser Quellenzitate und ihrer Widersprüche. Er schreibt dazu ganz nüchtern: “Wo das Sündenbewußtsein [das Menschen ja absichtsvoll von Priestern eingeredet wurde und wird; SRK] fehlt, braucht es keine Erlösung. Ich bin kein Christ, denn ich finde mich zwar fehlerhaft und meine Existenz prekär, aber nicht erlösungsbedürftig.” (S. 198) Er geht auf den (einträglichen) Loskauf von den Sünden ebenso ein, wie auf den Begriff “Opfer”. Dazu heißt es: “Paulus verstand das gesamte christliche Leben als Daueropfer. Dies prägte die christliche Kloster- und Klerikerethik. Die vor der Unbill des Lebens am meiste geschützte soziale Schicht fast aller Jahrhunderte der Zeit von 313 bis 1800 – Kleriker zahlten keine Steuern, wurden nicht Soldaten, waren von Hungersnöten kaum betroffen – verschaffte sich mit der Opferideologie das [öffentliche; SRK] Bewußtsein, sie vollziehe an sich selbst das Leiden des Heilands am Kreuz. Sie übertrieben, noch voll an der Macht, in ihrer Opferrhetorik Bosheit und Stärke des Feindes. Sie ‘vergaßen’ alle Privilegien, verklärten ihren Sonderstatus und verteidigten ihn damit, sie brächten für andere ihr Leben als Opfer dar.” (S. 205) Und wie Flasch anmerkt, erklärte der Klerus im I. und im II. Weltkrieg den Soldaten und ihren Familien “als Wort Gottes, wie gut und edel es sei, sein Leben fürs Vaterland zu opfern.” (S. 205) Etwas später konstatiert er: “Weder der Jesus der Evangelien noch Paulus haben gesagt, daß Gott die Liebe sei.” (S. 207) In einem Abschnitt wendet sich Flasch noch dem Thema “Augustinus. Erlösung mit Tod und Teufel” zu.

Das aus der Sicht des Rezensenten wohl wichtigste Kapitel “Ethik” (einschließlich der Sexualethik) fällt leider viel zu kurz aus, ist aber dennoch überaus aussagekäftig. Flasch beginnt dies mit den Worten: “Es falle schwer, sagt man, die christliche Ethik zu leben. Aber es kostet auch schon reichliche Mühe herauszufinden, was die christliche Ethik eigentlich will.” (S. 215) Man kann diese Aussage durchaus mit der Frage ergänzen, was denn “christliche Ethik” überhaupt und eigentlich ist.

Flasch wendet sich zur Beantwortung nach dem Wesen der “christlichen Ethik” den “Zehn Geboten” (Dekalog) des “Alten Testaments” und der sogenannten “Bergpredigt” des “Neuen Testaments” zu.

Auf die viel gepriesene Nächstenliebe, die angeblich einzig dem Christentum innewohnen soll, eingehend, schreibt er wieder quellenbezogen, der Nächste, der “geringste Bruder, das seien “keineswegs alle Armen dieser Erde (…) der primäre ‘Nächste’ ist das Gemeindemitglied. Das ist vor allem der arme, obdachlose und vielfach verfolgte Wanderprediger…” (S. 217) Nun ja, daraus kann man durchaus das Drohnendasein einer Priesterkaste ableiten und begründen. Und das Jammern um ”verfolgte Christen“ hat ja bis in unsere Tage nicht aufgehört. Flasch beleuchtet dann jedes einzelne der ”Zehn Gebote". Von Ethik sei darin kaum etwas zu spüren, “denn vom Menschen als Menschen ist nirgends die Rede.” (S. 221)

Stattdessen dominierten Intoleranz (“Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!”) und andere patriarchalische Herrschaftsinteressen einer bereits in Klassen gespaltenen archaischen Gesellschaft. Er stellt das angebliche Verbot nicht zu töten vom Kopf auf die Füße. Denn es heiße korrekt übersetzt “Du sollst nicht morden!” Und da gehe es nur um das Tötungsverbot von Stammesgenossen, während ansonsten das Töten im Krieg – in der Bibel oftmals Gottes Wille – erlaubt war, wie auch Hinrichtungen als rechtlich gelten.

Zum sechsten Gebot “Du sollst nicht ehebrechen!” bemerkt Flasch: “Es führt nicht die Monogamie ein. Es verbietet nicht den sexuellen Verkehr des Sklavenbesitzers mit seinen Sklavinnen. (…) Geschützt wird nur die Ehe als Institution.” (S. 218) Und damit das männlich Erbrecht. Und da ist nicht zuletzt das zehnte Gebot “Du sollst nicht begehren…” Hier werden Frauen, Sklaven und das Vieh als Eigentum des (freien) Mannes auf eine Stufe gestellt. Damit wird auch die Sklaverei als gottgegeben festgeschrieben, auch wenn in moderneren Bibelversionen der Begriff “Sklave” nun mit der Formulierung “Knechte und Mägde” verfälscht wird.

Der Gott der Bibel, so Flasch, “hat keine ethischen Bedenken gegen Sippenhaftung. Er verkündet Volksgesetze, aber keine ndividuelle Moral. (…) Das heißt aber nicht, der Dekalog gehöre nicht in die Geschichte der Ethik. Aber er ist eine Ethik von Rechtsregeln. Er steht im Rahmen einer Religion, die den Zusammenhang von Familie, Verwandtschaft und Kult ordnet, und er gehört zur historischen Sage vom militärischen Sieg über die Ägypter und der Ausrottung der Bewohner Kanaans.” (S. 220 – 221). Es sei angemerkt, daß erst die Kanaaniter ausgerottet werden mussten, damit das “Volk Gottes” dieses “gelobte Land” in Besitz nehmen konnten.

Auch die jesuanische “Bergpredigt” kommt bei Flasch nicht viel besser weg als die “Zehn Gebote”. Die angeblich von Jesus gepredigte “Goldene Regel” sei bereits lange vor dieser Zeit z.B. im antiken Griechenland, in Indien und in anderen Kultukreisen zu finden, sei also nichts originär Christliches. Diese Regel “formuliert allgemein-menschliche Ethik, keine spezielle Vorschrift der frühchristlichen Gemeinde. (…) Sie nennt keine religiösen Prämissen.” (S. 225)

Und, das sei bemerkt, damals vermuteten die frühen Christen den baldigen Weltuntergang, die Errichtung des Reiches Gottes. Ihre Rhetorik war nicht viel anders als die der unzähligen Endzeitsekten der Neuzeit. Flasch schreibt diesbezüglich: die Bergpredigt “beruht auf dem Irrtum, das Ende sei nahe. Wer davon absieht, erzeugt nur Radikalrhetorik. An kohärente Weltgestaltung ist in der Bergpredigt nicht gedacht.” (S. 229) Demzufolge auch nicht an eine menschenbezogene Ethik im Diesseits!

In Kapitel VIII “Seele, Himmel und Hölle” kommen die “Letzten Dinge. Tod und Unsterblichkeit” zur Sprache. Er schreibt dazu u.a., dass “die Theologen Mühe hatten zu erklären, wieso der Gott der Liebe ewige Höllenqualen eingerichtet hat und auf ewig unterhält. (…) Sie entwickelten dazu gescheite bis bizarre Theorien. (…) Die Höllentheologie endete im gedanklichen Fiasko. Sollen doch die Toten ihre Toten begraben.” (S. 252)

“Wie es sich anfühlt, kein Christ zu sein”, darüber berichtet Kurt Flasch im abschließenden Kapitel IX: “Wie fühlt es sich an, wenn man kein Christ mehr ist? Jedenfalls anders als Prediger behaupten. Sie sagen gern, ein Leben ohne Gott und ohne glauben sei sinnlos. (…) Ich habe Gott gesucht und habe ihn nicht gefunden. Ich habe dabei meine rheinische Fröhlichkeit nicht eingebüßt; ich lebe und arbeite in Heiterkeit. (…) Ich habe nichts fortgeworfen außer Formeln; mir fehlt nichts.” (S. 254 - 255) Und er listet dann eine Reihe von Proben des “Christentums der Unvernunft” auf.

Schließlich folgert er: “Die Lehren des Christentums sind keineswegs in der Hauptsache tiefsinnige uralte Menschenweisheit oder ehrwürdige Mythen. Sie sind kein kostbares Schatzhaus ethischer Regeln jenseits aller Kritik. Es gibt dabei Unsinniges und ethisch Unhaltbares. Sie waren auch Instrument zur Machtsicherung von Institutionen. Diese legten die Hand auf die Texte und sagten, was sie zu bedeuten haben. Das geschieht heute noch.” (S. 260) Ohne Christentum könne man frei(er) denken und als ein Mensch unter anderen Menschen handeln. Mit diesen Zeilen deutet Flasch dezent an, worin der Kern des paulinischen Christentums liegt: als ein ideales Beherrschungsinstrument und zur Begründung des Machtanspruchs einer Priesterkaste und der dieser wohlgelittenen weltlichen Obrigkeit.

Flaschs Buch und seine Argumentationsweise zeigen nicht zuletzt, wie schlimm frühkindliche kirchliche Indoktrination wirken kann. Das zeigt sich in seinem intensiven Bemühen, seine Abkehr von Christentum und Kirche auf das ausführlichste zu erklären.

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass dieses Argumentationsbuch und das fast gleichnamige Buch des emeritierten Naturwissenschaftlers Uwe Lehnert (“Warum ich kein Christ sein will”) einander auf fast ideale Weise ergänzen. Was der eine aus der historisch-kritischen Bibelforschung schließt, das begründet der andere von den Naturwissenschaften her: Zwei verschiedene Blickwinkel, ein gleiches Ergebnis!

 


Kurt Flasch: Warum ich kein Christ bin. Bericht und Argumentation. 280 S. Hardcover m.Schutzumschl. Verlag C.H. Beck. München 2013. 19,95 Euro. ISBN 978–3–406–65284–4