"Denn Gott hat niemand je gesehen"

WEIMAR. (hpd) Kurt Flasch (geb. 1930 in Mainz) ist emeritierter Philosophiehistoriker mit Spezialisierung auf Spätantike und Mittelalter. Als Lehrstuhlinhaber in Bochum oder als Gastprofessor an der Pariser Sorbonne befasste er sich eingehend u.a. mit den Werken des Augustinus von Hippo. Seine Sicht der intellektuellen Entwicklungen in der europäischen Philosophie faßte er 1994/95 in seinen Abschiedsvorlesungen “Warum ich nicht mehr Christ sein kann” zusammen.

Diese bilden die Grundlage für sein 2013 vorgelegtes Buch “Warum ich kein Christ bin” – das mittlerweile bereits in fünfter Auflage vorliegt. Dennoch richtet sich dieses Buch nicht an die Fachwelt, sondern an breiteste Leserschichten. Mit wissenschaftlicher Akribie begründet Flasch darin seine ihm sicherlich nicht einfach gefallene Abkehr von Christentum und christlichen Kirchen.

So stellt er zunächst klar, dass sein “Auszug wenig mit dem Zustand der Kirchen, aber viel mit ihrem Anspruch auf Wahrheit zu tun” habe. (S. 9) Nicht die Missbrauchsskandale, nicht die Protzbauten von Prälaten und auch nicht die Kirchensteuer seien der Grund, sondern die kirchliche Lehre an sich. Wobei es ihm nicht um Religion im allgemeinen geht, sondern um klerikale Ansprüche im Hier und Heute: “Sie fordern öffentlich politischen und gesellschaftlichen Einfluß, z.B. auf die Gesetzgebung des Bundestages, auf die Gesundheits-, die Schul- und Medienpolitik.” (S. 10)

Flasch stellt zunächst die Frage “Was heißt hier ‘Christ’?” und konstatiert, dass sich die Mitglieder christlicher Konfessionen auf die verschiedensten Arten definieren würden. Er könne sich mit keiner dieser Definitionen anfreunden, zumal man “an der Eigentumslosigkeit, also am Liebeskommunismus, die Christen schon lange nicht mehr erkennen” könne. (S. 25)

Der Autor beginnt mit einem autobiographischen Abriss und teilt mit, dass er in einer Familie praktizierender Katholiken aufgewachsen ist und bereits als Kind und Jugendlicher in Gesprächsrunden von Laien, Priestern und sogar Bischöfen einbezogen wurde. Diese Menschen erlebte er als sehr honorig, die ihm viel für seinen Lebensweg mitgaben. Dennoch, anderes erlebte er stärker: “Freilich wurde mir schon in den fünfziger Jahren klar: Die privilegierte Stellung der Kirchen in der frühen Bundesrepublik beruhte auf einer Lebenslüge, sie hätten insgesamt Widerstand gegen die Nazis geleistet. Aber die Kirchen als Körperschaften haben mich wenig interessiert, mich beschäftigte das, was ihr Inhalt sein sollte und es selten genug war, nämlich die Frage: Ist das Christentum wahr?” (S. 30)

Flasch wendet sich im ersten Kapitel den historischen Umbrüchen und intellektuellen Entwicklungen seit der Aufklärung und Napoleon zu. Und geht dabei auf den Beginn der historisch-kritischen Bibelforschung ein und damit auf die neuen Glaubensbegründungen seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart: “Christliche Wortführer von heute präsentieren ihr Christentum gern als den Erlebnisinhalt: Religion der Liebe. Dann sagen sie, das einzig Wesentliche sei die Liebe zu Gott und dem Nächsten.” (S. 72) Der Autor antwortet: “Das sind höchst diskutable Annahmen. [Der Christ; SRK] setzt voraus, daß sein Gott existiert. Nehmen wir an, es gäbe keinen Gott, dann wäre die Forderung nach Gottesliebe wenig sinnvoll. (…) Gottes Liebe wird in Zusammenhänge gestellt, in die sie argumentativ nicht gehört.” (S. 72) Flasch merkt an, dass z.B. in den Evangelien bei Jesus-Zitaten an keiner Stelle davon die Rede ist, dass Gott die Liebe sei.

Kapitel II ist überschrieben mit “Der wahre Glaube”. Flasch beginnt mit Ausführungen zum Wahrheitsbegriff und schreibt mit Bezug auf Religionen: “Der ‘Realismus’ im Wahrheitskonzept religiöser Reden erzeugt folgenden Zwiespalt: unwahrscheinlich oft haben Glaubensverkünder zuerst den Tatsachencharakter ihrer Geschichten behauptet und breiteten dann, von Argumenten gegen das Unwahrscheinliche bedrängt, den Schleier der Bildhaftigkeit über das früher als faktisch Behauptete. Was sie zunächst als ‘real passiert’ gepredigt haben, reduzierten sie zuletzt auf ein ‘Zeichen’.” (S. 86)

Wie “wahr” biblische Geschichten sind, das macht Flasch ganz lapidar mit dieser Feststellung klar: “Schon im ‘Neuen Testament’ stellen die Schriftsteller, die Jesus nie gesehen haben, sich als Augen und Ohrenzeugen vor.” (S. 88) Davon ausgehend sucht der Autor Antworten auf Fragen wie: “Muß Religion wahr sein?”; “Woran erkennt man die wahre Religion?” und was ist “heute religiöse Wahrheit”?“ Eine seiner Antworten lautet, auch mit Blick auf ”Ratzingers feine Sprache“: “Kirchen wollen, daß sie eine göttliche Wahrheit für alle vermitteln.” (S. 108) Denn darauf gründe sich der universale Machtanspruch des Klerus. Mit seinen Ausführungen will er aber auch helfen, zu einem klareren Begriff des ”Fundamentalismus" zu kommen. Fundamentalismus sei übrigens allen monotheistischen Religionen eigen und nicht nur dem Islam.

In Kapitel III geht Flasch auf den Komplex “Weissagungen und Wunder” sowohl im “Alten” als auch im “Neuen Testament” ein und stellt fest: “die christliche Religion ohne Wunder gibt es nicht. (…) es gibt irdisch-reale Interessen derer, die sie erzählen.” (S. 119) Denn mit ihnen wurden seit der Spätantike und besonders im Feudalismus Eigentumsansprüche, staatliche Machtansprüche und Privilegien des Klerus begründet.

Ausführlich schreibt Flasch über das “Wunder der Auferstehung”, das “das zentrale Ereignis christlichen Glaubens” sei. Dazu untersucht er die Texte der “Neuen Testaments”. Allerdings würden sich diese Berichte über das angebliche Ereignis nicht decken, sondern einander sogar widersprechen.

In den Kapiteln IV (“Gott”) und V (“… und die Welt”) wendet der Autor sich den Hauptinhalten des christlichen Glaubens sowie dessen Verhältnis zur Welt zu. Ausführlich geht es um die diversen angeblichen Gottesbeweise und um das alte Problem der Theodizee, also dem Widerspruch zwischen dem Übel in der Welt und dem guten und allmächtigen ‘Gott’ der Christen.

Er beginnt der Frage, wie man “Gott” definiere bzw. definieren wolle. Er unterscheidet dabei den “Gott der Philosophen” von dem biblischen “Gott der Väter”. Zu beiden schreibt Flasch kurz und bündig: “Denn Gott hat niemand je gesehen.” (S. 146) Und er schreibt insbesondere zum Gott der Bibel, dass alle Erzählungen über diesen doch sehr differieren würden.

Auch wenn Flasch sich in seinem Buch speziell dem Gott der Bibel, dem Gott der Juden und der Christen, zuwendet, so unterstellt er jedoch auch anderen religiösen Auffassungen (Naturreligionen, polytheistischen Religionen) den Begriff “Gott” anstelle des richtigeren Begriffs “Götter”. In dieser Frage ist er leider zu sehr dem mediterranen Monothismus mit “Gott” verhaftet und verkennt damit das Denken anderer Kulturkreise.

Sehr detalliert geht der Autor auf biblische Widersprüche ein, insbesondere in der Genesis über die Erschaffung der Welt. Dieses Buch galt ja in der christlichen Welt für lange Zeit als historische Wahrheit… Flaschs diesbezügliche Analysen und Argumentationen sollten unbedingt in die Hand heutiger Religions- und Kirchenkritiker gehören.

Auch die “Erlösung”, also der Glaube an die Erlösung, gehört zum Kern des Christentums. Diesem Thema hat Flasch deshalb – konkreter auf die christliche Glaubenslehre eingehend – ein eigenes Kapitel gewidmet. Und dies wiederum anhand diverser Quellenzitate und ihrer Widersprüche. Er schreibt dazu ganz nüchtern: “Wo das Sündenbewußtsein [das Menschen ja absichtsvoll von Priestern eingeredet wurde und wird; SRK] fehlt, braucht es keine Erlösung. Ich bin kein Christ, denn ich finde mich zwar fehlerhaft und meine Existenz prekär, aber nicht erlösungsbedürftig.” (S. 198) Er geht auf den (einträglichen) Loskauf von den Sünden ebenso ein, wie auf den Begriff “Opfer”. Dazu heißt es: “Paulus verstand das gesamte christliche Leben als Daueropfer. Dies prägte die christliche Kloster- und Klerikerethik. Die vor der Unbill des Lebens am meiste geschützte soziale Schicht fast aller Jahrhunderte der Zeit von 313 bis 1800 – Kleriker zahlten keine Steuern, wurden nicht Soldaten, waren von Hungersnöten kaum betroffen – verschaffte sich mit der Opferideologie das [öffentliche; SRK] Bewußtsein, sie vollziehe an sich selbst das Leiden des Heilands am Kreuz. Sie übertrieben, noch voll an der Macht, in ihrer Opferrhetorik Bosheit und Stärke des Feindes. Sie ‘vergaßen’ alle Privilegien, verklärten ihren Sonderstatus und verteidigten ihn damit, sie brächten für andere ihr Leben als Opfer dar.” (S. 205) Und wie Flasch anmerkt, erklärte der Klerus im I. und im II. Weltkrieg den Soldaten und ihren Familien “als Wort Gottes, wie gut und edel es sei, sein Leben fürs Vaterland zu opfern.” (S. 205) Etwas später konstatiert er: “Weder der Jesus der Evangelien noch Paulus haben gesagt, daß Gott die Liebe sei.” (S. 207) In einem Abschnitt wendet sich Flasch noch dem Thema “Augustinus. Erlösung mit Tod und Teufel” zu.

Das aus der Sicht des Rezensenten wohl wichtigste Kapitel “Ethik” (einschließlich der Sexualethik) fällt leider viel zu kurz aus, ist aber dennoch überaus aussagekäftig. Flasch beginnt dies mit den Worten: “Es falle schwer, sagt man, die christliche Ethik zu leben. Aber es kostet auch schon reichliche Mühe herauszufinden, was die christliche Ethik eigentlich will.” (S. 215) Man kann diese Aussage durchaus mit der Frage ergänzen, was denn “christliche Ethik” überhaupt und eigentlich ist.

Flasch wendet sich zur Beantwortung nach dem Wesen der “christlichen Ethik” den “Zehn Geboten” (Dekalog) des “Alten Testaments” und der sogenannten “Bergpredigt” des “Neuen Testaments” zu.

Auf die viel gepriesene Nächstenliebe, die angeblich einzig dem Christentum innewohnen soll, eingehend, schreibt er wieder quellenbezogen, der Nächste, der “geringste Bruder, das seien “keineswegs alle Armen dieser Erde (…) der primäre ‘Nächste’ ist das Gemeindemitglied. Das ist vor allem der arme, obdachlose und vielfach verfolgte Wanderprediger…” (S. 217) Nun ja, daraus kann man durchaus das Drohnendasein einer Priesterkaste ableiten und begründen. Und das Jammern um ”verfolgte Christen“ hat ja bis in unsere Tage nicht aufgehört. Flasch beleuchtet dann jedes einzelne der ”Zehn Gebote". Von Ethik sei darin kaum etwas zu spüren, “denn vom Menschen als Menschen ist nirgends die Rede.” (S. 221)

Stattdessen dominierten Intoleranz (“Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!”) und andere patriarchalische Herrschaftsinteressen einer bereits in Klassen gespaltenen archaischen Gesellschaft. Er stellt das angebliche Verbot nicht zu töten vom Kopf auf die Füße. Denn es heiße korrekt übersetzt “Du sollst nicht morden!” Und da gehe es nur um das Tötungsverbot von Stammesgenossen, während ansonsten das Töten im Krieg – in der Bibel oftmals Gottes Wille – erlaubt war, wie auch Hinrichtungen als rechtlich gelten.

Zum sechsten Gebot “Du sollst nicht ehebrechen!” bemerkt Flasch: “Es führt nicht die Monogamie ein. Es verbietet nicht den sexuellen Verkehr des Sklavenbesitzers mit seinen Sklavinnen. (…) Geschützt wird nur die Ehe als Institution.” (S. 218) Und damit das männlich Erbrecht. Und da ist nicht zuletzt das zehnte Gebot “Du sollst nicht begehren…” Hier werden Frauen, Sklaven und das Vieh als Eigentum des (freien) Mannes auf eine Stufe gestellt. Damit wird auch die Sklaverei als gottgegeben festgeschrieben, auch wenn in moderneren Bibelversionen der Begriff “Sklave” nun mit der Formulierung “Knechte und Mägde” verfälscht wird.

Der Gott der Bibel, so Flasch, “hat keine ethischen Bedenken gegen Sippenhaftung. Er verkündet Volksgesetze, aber keine ndividuelle Moral. (…) Das heißt aber nicht, der Dekalog gehöre nicht in die Geschichte der Ethik. Aber er ist eine Ethik von Rechtsregeln. Er steht im Rahmen einer Religion, die den Zusammenhang von Familie, Verwandtschaft und Kult ordnet, und er gehört zur historischen Sage vom militärischen Sieg über die Ägypter und der Ausrottung der Bewohner Kanaans.” (S. 220 – 221). Es sei angemerkt, daß erst die Kanaaniter ausgerottet werden mussten, damit das “Volk Gottes” dieses “gelobte Land” in Besitz nehmen konnten.

Auch die jesuanische “Bergpredigt” kommt bei Flasch nicht viel besser weg als die “Zehn Gebote”. Die angeblich von Jesus gepredigte “Goldene Regel” sei bereits lange vor dieser Zeit z.B. im antiken Griechenland, in Indien und in anderen Kultukreisen zu finden, sei also nichts originär Christliches. Diese Regel “formuliert allgemein-menschliche Ethik, keine spezielle Vorschrift der frühchristlichen Gemeinde. (…) Sie nennt keine religiösen Prämissen.” (S. 225)

Und, das sei bemerkt, damals vermuteten die frühen Christen den baldigen Weltuntergang, die Errichtung des Reiches Gottes. Ihre Rhetorik war nicht viel anders als die der unzähligen Endzeitsekten der Neuzeit. Flasch schreibt diesbezüglich: die Bergpredigt “beruht auf dem Irrtum, das Ende sei nahe. Wer davon absieht, erzeugt nur Radikalrhetorik. An kohärente Weltgestaltung ist in der Bergpredigt nicht gedacht.” (S. 229) Demzufolge auch nicht an eine menschenbezogene Ethik im Diesseits!

In Kapitel VIII “Seele, Himmel und Hölle” kommen die “Letzten Dinge. Tod und Unsterblichkeit” zur Sprache. Er schreibt dazu u.a., dass “die Theologen Mühe hatten zu erklären, wieso der Gott der Liebe ewige Höllenqualen eingerichtet hat und auf ewig unterhält. (…) Sie entwickelten dazu gescheite bis bizarre Theorien. (…) Die Höllentheologie endete im gedanklichen Fiasko. Sollen doch die Toten ihre Toten begraben.” (S. 252)

“Wie es sich anfühlt, kein Christ zu sein”, darüber berichtet Kurt Flasch im abschließenden Kapitel IX: “Wie fühlt es sich an, wenn man kein Christ mehr ist? Jedenfalls anders als Prediger behaupten. Sie sagen gern, ein Leben ohne Gott und ohne glauben sei sinnlos. (…) Ich habe Gott gesucht und habe ihn nicht gefunden. Ich habe dabei meine rheinische Fröhlichkeit nicht eingebüßt; ich lebe und arbeite in Heiterkeit. (…) Ich habe nichts fortgeworfen außer Formeln; mir fehlt nichts.” (S. 254 - 255) Und er listet dann eine Reihe von Proben des “Christentums der Unvernunft” auf.

Schließlich folgert er: “Die Lehren des Christentums sind keineswegs in der Hauptsache tiefsinnige uralte Menschenweisheit oder ehrwürdige Mythen. Sie sind kein kostbares Schatzhaus ethischer Regeln jenseits aller Kritik. Es gibt dabei Unsinniges und ethisch Unhaltbares. Sie waren auch Instrument zur Machtsicherung von Institutionen. Diese legten die Hand auf die Texte und sagten, was sie zu bedeuten haben. Das geschieht heute noch.” (S. 260) Ohne Christentum könne man frei(er) denken und als ein Mensch unter anderen Menschen handeln. Mit diesen Zeilen deutet Flasch dezent an, worin der Kern des paulinischen Christentums liegt: als ein ideales Beherrschungsinstrument und zur Begründung des Machtanspruchs einer Priesterkaste und der dieser wohlgelittenen weltlichen Obrigkeit.

Flaschs Buch und seine Argumentationsweise zeigen nicht zuletzt, wie schlimm frühkindliche kirchliche Indoktrination wirken kann. Das zeigt sich in seinem intensiven Bemühen, seine Abkehr von Christentum und Kirche auf das ausführlichste zu erklären.

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass dieses Argumentationsbuch und das fast gleichnamige Buch des emeritierten Naturwissenschaftlers Uwe Lehnert (“Warum ich kein Christ sein will”) einander auf fast ideale Weise ergänzen. Was der eine aus der historisch-kritischen Bibelforschung schließt, das begründet der andere von den Naturwissenschaften her: Zwei verschiedene Blickwinkel, ein gleiches Ergebnis!

 


Kurt Flasch: Warum ich kein Christ bin. Bericht und Argumentation. 280 S. Hardcover m.Schutzumschl. Verlag C.H. Beck. München 2013. 19,95 Euro. ISBN 978–3–406–65284–4