Absonderliche Deutungen zur "Ersetzung der deutschen Kulturnation"

Der Berliner Politikwissenschaftler Martin Wagener behauptet in seinem Buch "Kulturkampf um das deutsche Volk", dass die Bundesregierung ein Projekt der Ersetzung der deutschen Kulturnation durch eine multikulturelle Willensnation betreibe. Dafür kann der Autor aber keine Belege angeben und begeht Fehldeutung auf Fehldeutung, um seine These irgendwie zu retten, geprägt wohl mehr durch seine politische Agenda und weniger durch seine wissenschaftliche Expertise.

Die Auffassung "Die Bundesregierung verfolgt das Projekt der Ersetzung der deutschen Kulturnation durch eine multikulturell strukturierte Willensnation …" (S. 253) entspricht dem "Großen Austausch"-Diskurs, der von der AfD über die Identitären bis zur Neuen Rechten betrieben wird. Die zitierte Auffassung findet sich aber bei dem Politikwissenschaftler Martin Wagener, der in Berlin hauptamtlich als Professor zu Internationalen Beziehungen lehrt. In seinem Buch "Kulturkampf um das deutsche Volk. Der Verfassungsschutz und die nationale Identität der Deutschen" soll die erwähnte These untermauert werden. Das Buch wird dezidiert als "Studie" und damit als politikwissenschaftliches Werk vorgestellt. Doch kann der erhobene Anspruch hinsichtlich derartiger Behauptungen gehalten werden? Und inwieweit unterscheidet sich der erwähnte konkrete Buchinhalt von den kursierenden politischen Narrativen? Bevor diese Fragen näher erörtert werden sollen, bedarf es zunächst noch einer Zusammenfassung. Der Autor hat sie selbst wie folgt vorgenommen:

Cover

"Die Bundesregierung unter Führung von Angela Merkel versucht, aus der deutschen Kulturnation eine multikulturelle Willensnation zu machen. Diese Politik wird gegen große Teile des Volkes durchgesetzt … Gegner des Vorhabens werden als 'rechts' etikettiert … So wird eine abschreckende Brandmauer gegenüber jenen aufgebaut, die an der deutschen Kulturnation festhalten wollen." Und: "Um die neue Willensnation zu schaffen, greift die Bundesregierung auch auf die Unterstützung des Bundesamts für Verfassungsschutz zurück" (S. 18). Demnach soll es eine erklärte politische Absicht in Kombination mit einem Plan dazu geben, aus der "Kulturnation" eine "Willensnation" zu machen. Belege dafür findet man dann im Buch nicht. Es wird über Debatten berichtet, das hauptsächlich Gemeinte bleibt aber mehr als nur diffus. Der Autor schreibt selbst: Die Bundesregierung würde "systematisch – wenngleich sicher ungewollt – an einem Konfliktimport" (S. 76) arbeiten. Wie geht das aber: eine Handlung soll systematisch und ungewollt gleichzeitig sein?

Es fehlen nicht nur die Belege für den postulierten Plan, auch zu den behaupteten Interessen der Regierung findet sich nichts Systematisches. Damit ist bereits im Ansatz die Beweisführung für den zentralen Punkt gescheitert. Die vier Hauptkapitel müssen sich dann auch anderen Themen widmen. Hier geht es zunächst um die "nationale Identität", wobei Begriffe aus dem Duden und nicht aus der Fachliteratur präsentiert werden, was für einen Professor eigentlich etwas ungewöhnlich ist. Der Autor liefert dann eine Differenzierung von "Kulturnation", "Willensnation" und "Zwangsnation". Es werden dabei aber unterschiedliche Bezugsgesichtspunkte gewählt, so kann eine "Kulturnation" auch eine "Willensnation" sein. Daher ist die Differenzierung für eine entwickelte Typologie unpassend. Und es wird auch inhaltlich immer wieder schief: Der gleich zu Beginn zitierte Fichte wollte erst eine (Kultur-)Nation schaffen (vgl. S. 23). Dies setzte aber über die Bildung einen Willensakt voraus. Insofern passen auch hier die vom Autor genutzten Begriffe nicht zusammen.

Apologie der Identitären

Im nächsten Kapitel folgt dann ein thematischer Sprung, geht es ebendort doch um das Bundesamt für Verfassungsschutz. Dieses kommt auch in den folgenden Ausführungen häufig vor, womit sich die inhaltliche Schwerpunktsetzung von Wagener immer mehr verschiebt. Er sieht in der Behörde ein Instrument, das zur Durchsetzung einer neuen Nation dienen solle. Lange Ausführungen widmen sich dabei den Identitären, wobei ihre Einschätzung als "Extremisten" kritisiert wird. In den Berichten würden ihnen die Forderung nach "Heimat", die Frontstellung gegen "Islamisierung" und Grenzblockaden in anderen Ländern vorgeworfen (vgl. S. 219). Dies sei jeweils nicht extremistisch, was so für sich auch zutreffend ist. Blickt man aber in den genannten Bericht hinein, sieht man, dass es dabei gar nicht um den Extremismusnachweis, sondern lediglich um Handlungen ging. Deskriptive Aussagen werden als normative Aussagen von Wagener fehlgedeutet. Insofern argumentiert er dort gegen Aussagen, die in einem anderen Sinne getätigt wurden.

Dann setzt sich der Autor aber doch mit einer Kernaussage des Verfassungsschutzes auseinander: Die Behörde sieht im "Ethnopluralismus", der auch von den Identitären vertreten wird, eine rechtsextremistische Position. Das müsse indessen hinsichtlich der Ausrichtung anders gesehen werden, meint mit dem Hinweis auf ein Interview hierzu Wagener. Dieses führte er als längeres Gespräch mit Martin Sellner, dem Identitären-Sprecher im deutschsprachigen Raum. Seine Aussagen wurden aber nicht kritisch hinterfragt (vgl. S. 225 f.). Es heißt zu ihnen: "Dies alles steht vollständig im Gegensatz zu den Ausführungen des BfV" (S. 225). Doch ist bei genauer Betrachtung erkennbar, dass die Identitären sich in ihren Papieren und Praktiken anders als Sellner nahelegt positionieren. Eine genauere Beschäftigung mit der Primär- und Sekundärliteratur hätte das Wagener verdeutlichen können. So hat man es objektiv mit einer Apologie der Identitären zu tun. Ob diese aus bloßer Naivität oder subjektiver Überzeugung erfolgte, lässt sich hier nicht sagen.

Derartige Absonderlichkeiten durchziehen das ganze Buch. Außerdem neigt der Autor dazu, bestimmte Auffassungen nahezulegen und sie wenige Zeilen später wieder zurückzunehmen. Solche rhetorischen Aktivitäten mögen bei Politikern üblich sein, sollten Politikwissenschaftler aber unterlassen. So heißt es: "Die in diesem Buch geübte Kritik richtet sich gegen das System." Und nur kurz danach kann man lesen: "Kritik am System wendet sich hier gegen die herrschenden Verhältnisse, die von der politisch-medialen Elite geprägt werden" (S. 335). Kritische Einwände gegen diese sind als Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit legitim. Doch sollten aus letztgenannter Blickrichtung auch die fachlichen Kompetenzen hinzukommen. Das Buch beruht nicht auf breiter Kenntnis, sei es der Extremismus-, sei es der Nationalismusforschung. Auch über manche Aussagen zur politischen Ideengeschichte kann man verwundert sein. Aber all dies hängt wohl mehr mit einer politischen Agenda und weniger mit politikwissenschaftlicher Analyse zusammen.

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