Der bekannte Fachjournalist Andreas Speit legt mit seinem Essay "Die Entkultivierung des Bürgertums" einen Kommentar zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung nach "rechts" vor. Darin macht er berechtigt auf Gefahren aus der Mitte und nicht nur von den Rändern her aufmerksam, wenngleich dies etwas feuilletonistisch und gelegentlich überspitzt geschieht.
Die AfD erhält mitunter ein Viertel der Wählerstimmen. Dabei sind die Anteile aus sozialen Rändern und unteren Schichten besonders hoch. Gleichwohl kann man nicht eine derart hohe Anzahl von Stimmen mobilisieren, wenn sie nicht auch aus dem Bürgertum oder der Mittelschicht kommen. Diese Feststellung ist nur ein Indiz für das, was den Fachjournalisten Andreas Speit zu einem besonderen Titel motivierte. Sein neues Buch erschien als "Die Entkultivierung des Bürgertums".
Der Autor ist durch Recherchearbeit zum Rechtsextremismus bekannt geworden. Meist konzentriert er sich auf die Entwicklung einschlägiger Organisationen. Hier steht mehr die Gesellschaft im Zentrum. Dabei muss indessen schon jetzt angemerkt werden, dass es sich um eine essayistische Betrachtung und nicht um eine wissenschaftliche Studie handelt. "Bürgertum" und "Entkultivierung" werden etwa auch gar nicht genauer definiert. Gemeint sind dortige politische Änderungen.
Darauf geht der Autor anhand von alltäglichen Beobachtungen, sozialwissenschaftlichen Erhebungen, besonderen Gewalttaten, soziologischen Klassikern, einzelnen Prominenten oder populären Songs ein. Hierbei wird die gesellschaftliche Polarisierung von Speit durchgängig hervorgehoben. Immer wieder betont er, dass die gemeinten Entwicklungen eben auch in höheren Schichten immer mehr akzeptiert würden. Es sind manchmal nur Beobachtungen in kurzen Sätzen, wozu hier als Beispiel genügen mag: "Dass die Gutmenschen Meinungsdiktatoren seien, klingt heute auch in manch bürgerlichen Feuilletons an" (S. 17). Dass Aussagen wie "Ich bin ja kein Nazi, aber man muss doch mal sagen dürfen …" immer mehr zugenommen haben, dürfte eine Alltagsbeobachtung nicht nur von Speit sein. Nach einleitenden Ausführungen zu "der laufenden Rechtsverschiebung" (S. 17) geht es dann um die unterschiedlichsten Themen in diesem Zusammenhang.
Dabei geht es etwa um Daten aus der Einstellungsforschung, insbesondere aus dem "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit"-Projekt. Die Aktualität von soziologischen Klassikern, womit Adorno, Fromm, Lipset oder Löwenthal gemeint sind, wird anhand von deren frühen Studien verdeutlicht. Der Autor sieht in Neoliberalismus und Ökonomisierung einen wichtigen Zusammenhang, wenn man die gemeinte Entwicklung nachvollziehen wolle. Bei alldem findet auch immer wieder Aufmerksamkeit, dass es eine intellektuelle Neue Rechte gibt. Für die Rechtsentwicklung erblickt Speit darin Vorreiter. Gleiches gelte aber für prominente Buchautoren, Journalisten oder Philosophen, wobei Matussek, Sarrazin oder Sieferle genannt werden. Mit einem Appell schließt der Text: "Die Toleranz endet, wo Vereinfachungen und Verallgemeinerungen, Hass und Hetze beginnen. Brandmauern müssen gezogen und Grenzen neu ausgehandelt werden" (S. 100).
Bei dem Essay handelt es sich um einen Essay. Das muss man sich immer wieder vergegenwärtigen. Denn der Autor springt thematisch hin und her. Er neigt auch gelegentlich zu Überspitzungen und Verallgemeinerungen. Manche Einschätzungen kann man kritisieren: Hat sich Erika Steinbach wirklich "nach rechts" (S. 14) entwickelt, war sie nicht schon früher so? Eine Aussage wie "Ein Umdenken in der Extremismustheorie, die nur die Ränder betrachtet, ist nicht auszumachen" (S. 46) lässt sich nur formulieren, wenn man die neuere Fachliteratur nicht kennt.
Gleichwohl macht das kleine Buch auf bedenkliche Veränderungen aufmerksam. "Die Entkultivierung des Bürgertums" ist dafür ein guter Titel. Denn es lässt sich bei den politischen Anhängern der gemeinten Entwicklung ein sittlicher Verfall feststellen. Das beginnt schon damit, dass gutes Benehmen in der Kommunikation nicht mehr gepflegt wird. Der Autor macht somit berechtigt auf bedenkliche Tendenzen aufmerksam.
Andreas Speit, Die Entkultivierung des Bürgertums, Zürich 2019 (Orell Füssli Verlag), 101 S., 12,00 Euro
6 Kommentare
Kommentare
Klaus D. Lubjuhn am Permanenter Link
Dass die Gutmenschen Meinungsdiktatoren seien, klingt heute auch in manch bürgerlichen Feuilletons an". Dieses Zitat steht im Fokus der Rezension. Zu recht.
Warum wird bestimmten Aktivisten das Etikett "Gutmensch" denn zugeschrieben?
Etwa weil sie wirklich "gut" wären? Doch wohl, weil sie im Vollegefühl des Richtigen (Political Correctness =PC) meinen, gut zu sein. Weil sie die Dialektik von Gesinnungs - und Verant-
wortungsethik (Max Weber) nicht verstehen und sich - ideologisch motiviert - mit Glaubenssätzen zufrieden geben. Ohne die Probe auf die Folgen.
(Dieser Vorwurf trifft auch Teile der Sozialwissenschaften.)
Wenn der Rezensierte, Andreas Speit, von “Entkultivierung” spricht, fragt man sich angesichts der wachsenden Unfähigkeit - selbst an unseren Universitäten - ob nicht manche der sich “gut” fühlenden Studenten bereits Unbehagen verspüren in der Kultur des wissenschaftlichen Meinungsstreits. Schließlich haben sie schon eine. Andreas Speit aber sieht “das Bürgertum” auf dem Weg nach rechts. Diese politische Kategorie - ohne inhaltliche Bestimmung - wird aber in 2.0 immer farbloser. Schließlich kommt man, wenn man nur weit genug nach rechts geht, bis zum Faschismus. Einen linken Faschismus gibt es allerdings auch.
Sogar in manch bürgerlichen Feuilletons macht er Kritik an den sogenannten Gutmenschen aus. Auch diese auf dem Weg nach rechts?
Roland Reichenbach, Uni Zürich, hat herausgearbeitet, dass der Begriff der autoritären Persönlichkeit (Adorno) gerade in Deutschland eine starke Schlagseite bekommen hat. Autoritativ und autoritär haben denselben Wortstamm - bedeuten aber völlig Gegensätzliches, werden völlig verschieden bewertet.
Mainstreamhörigkeit, die als PC identifiziert wird, verhindert eigenes Denken, den Ausweg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, bleibt letztlich autoritär verhaftet. Wenn den vermeintlich “Guten” aber - anders als Andreas Speit vermutet - von vielen Medien geradezu unkritisch Autorität zugeschrieben wird, gibt ihnen das ein Gefühl von Macht, die auch autoritär genutzt werden kann.
Diese Meinungsmacht ermutigt sie dazu, was ihnen als die einzig richtige Meinung erscheint, auch anderen meinungsdiktatorisch aufzuzwingen. Gerade auch inneruniversitär greift diese Meinungsdiktatur bereits um sich, wie die Fallbeispiele Hamburg und Humboldt, Berlin vor Augen führen. Die keineswegs bloß verbalen Ausfälle von Studentenseite gegen Barberowski und Münkler sind dafür ein abschreckendes Beispiel. Der Rezensierte appelliert schließlich an Toleranz: “Die Toleranz endet, wo Vereinfachungen und Verallgemeinerungen, Hass und Hetze beginnen. Brandmauern müssen gezogen und Grenzen neu ausgehandelt werden”. Wohl wahr. Aber bitte nach allen Seiten. Toleranz ist keine Einbahnstraße
Martin Mair am Permanenter Link
Mauern ziehen ist zwecklos, wir sind ja selber Teil der GLEICHEN Gesellschaft. Nicht das Übel ausgrenzen, sondern sich damit auseinandersetzen, das ist Demokratie!
Bruder Spaghettus am Permanenter Link
"Der bekannte Fachjournalist......"
wenn man das betonen muss, dann.....?
"Der sittliche Verfall...."
Schön, dass es wieder Richter in Sachen Sitte gibt.
David Z am Permanenter Link
"Gleiches gelte aber für prominente Buchautoren, Journalisten oder Philosophen, wobei Matussek, Sarrazin oder Sieferle genannt werden."
Spaetestens hier disqualifiziert sich der Autor selbst.
"Denn es lässt sich bei den politischen Anhängern der gemeinten Entwicklung ein sittlicher Verfall feststellen. Das beginnt schon damit, dass gutes Benehmen in der Kommunikation nicht mehr gepflegt wird"
Sprechen Sie von den zahlreichen kleinen Meinungsdiktatoren, die in unseren Unis den Meinungsaustausch niederbruellen und mit Polizeigewalt unter Kontrolle gebracht werden muessen?
Martin Mair am Permanenter Link
Wo wird der "Meinungsaustausch" mit Polizeigewalt verhindert?
David Z am Permanenter Link
Keine Ahnung. In Venezuela, China oder Russland womöglich.