Ideengeschichtliche Hintergründe, politische Propaganda, reales Gefahrenpotential

Antisemitismus im Islamismus

All dies klingt wie die bekannten Auffassungen, die von einer "jüdischen Weltverschwörung" ausgehen. Die bedeutendste Schrift dazu sind "The Protocols of the Learned Elders of Zion". Ausgerechnet auf diese Fälschung beruft sich aber die "Hamas" in ihrer Charta, obwohl seit 1920 bekannt ist, dass es sich um ein Plagiat handelt. Für die Nationalsozialisten gehörten die "Protocols" zu den wichtigen antisemitischen Schriften – und eben auch Islamisten berufen sich auf sie.

2017 hat sich die "Hamas" ein neues Grundsatzpapier gegeben: "A Document of General Principles & Policies". Darin finden sich die antisemitischen Verschwörungsvorstellungen nicht mehr. Auch unterscheidet man dort zwischen "Juden" und "Zionisten". Die Existenz des Staates Israel wird aber weiterhin abgelehnt. Ob diese politische Mäßigung das Ergebnis von wirklicher Einsicht oder strategischem Kalkül ist, lässt sich kontrovers diskutieren. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Auffassungen in der Charta gab und gibt es aber in der "Hamas" nicht.

Auch im schiitischen Islamismus sind antisemitische Auffassungen verbreitet, was die "Hizb Allah" im Libanon zeigt. Dort lässt sich ebenfalls im Diskurs eine Verbindung von einerseits Anspielungen auf historische Ereignisse im Zusammenhang mit Mohammeds Konflikten mit den Juden und andererseits der gegenwärtigen Situation mit Israel und dem Nahost-Konflikt ausmachen. Mit Hinweisen auf den Koran werden Juden als hinterhältige und gefährliche Feinde des Islam dargestellt. Auch Verschwörungstheorien kursieren: Die Juden gelten als geheime Macht, die mit den Freimaurern für Kriege, Revolutionen und Wirtschaftskrisen verantwortlich seien. Auch die Krankheit Aids wird auf eine solche Verschwörung zurückgeführt.

Der "Hizb Allah" werden auch Anschläge mit antisemitischem Hintergrund im Ausland zugeschrieben: 1992 starben bei einem Anschlag auf die Botschaft von Israel in Buenos Aires 29 Menschen, 1994 bei einem Anschlag auf die Zentrale der Jüdischen Gemeinde in Argentinien ebenfalls in Buenos Aires 87 Menschen und bei einem Anschlag 2012 auf eine Gruppe von israelischen Touristen in Burgas in Bulgarien sieben Menschen. Auch wenn die Tathintergründe nicht in allen Details bekannt sind, geht man doch davon aus, dass die "Hizb Allah" die Taten ausführte und der Iran sie angeregt hatte.

Inhaltlich agitiert die "Hizb Allah" denn auch ähnlich wie Ayatollah Khomeini im Iran, hatte der doch nach 1979 die Existenz Israels abgelehnt und das Land als "kleinen Satan" geschmäht. Es wurden auch immer wieder von offiziellen Stellen antisemitische Schriften wie "The Protocols of the Learned Elders of Zion" oder Henry Fords "The International Jew" verbreitet. Bekanntlich leugnete Präsident Mahmud Ahmadinejad 2006 auch öffentlich den Holocaust. Heute findet man solche scharfen Töne bei der iranischen Staatsführung nicht mehr. Der oberste Religionsführer Ayatollah Ali Khameni hat aber bei mehreren Gelegenheiten den Holocaust geleugnet. Eine Distanz vom Antisemitismus lässt sich auch nicht feststellen. Und die Existenz des Staates Israel will man nach wie vor nicht anerkennen. Khameini spricht von einem "Krebsgeschwür", das entfernt werden müsse.

Auch im islamistischen Terrorismus kann man antisemitische Auffassungen und Handlungen feststellen. Dafür drei ältere Beispiele: "Al Qaida" plante 2002 Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Berlin und Düsseldorf. 2003 führte man terroristische Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Casablanca durch. Und 2003 kam es zu Gewalttaten gegen zwei Synagogen in Istanbul. Danach gingen derartige Angriffe zurück.

Bereits früh war aber klar, dass "Al Qaida" eine antisemitische Ausrichtung hatte. Dies machten mehrere Positionspapiere und Videobotschaften deutlich. In der Erklärung der "Internationalen Islamischen Front für den Dschihad gegen Juden und Kreuzritter" von 1998 wurde dazu aufgerufen, militärische wie zivile Amerikaner und Juden auf der ganzen Welt zu töten. Und 2001 sprach Osama bin Laden davon, dass es eine lange Kette der jüdischen Verschwörungen als Vernichtungskrieg gegen den Islam geben würde. Sein Sohn Hamza bin Laden vertritt ähnliche Auffassungen. 2017 forderte er zum Beispiel, dass Angriffe auf "jewish interests everywhere" durchgeführt werden sollten. Es gelte "Jews and Crusaders" eine gerechte Strafe aufzubürden.

Auch von Mohammed Atta, dem Anführer der Todespiloten vom 11. September 2001, sind antisemitische Auffassungen bekannt. Er hatte immer wieder gegenüber Freunden und Studienkollegen von einer Verschwörung des Weltjudentums gesprochen. Die Juden wären die reichen Strippenzieher der Finanzwelt, der Medien und der Politik. Das Zentrum des Weltjudentums sei New York. Und von dort aus, meinte Atta, müsste der Befreiungskrieg für einen islamischen Gottesstaat beginnen.

Auch vom "Islamischen Staat" gehen Anschläge mit antisemitischem Hintergrund aus, wofür die einleitend erwähnten Beispiele stehen. Dafür gibt es aber keine Begründungen oder Erklärungen mit Erläuterungen zu den antisemitischen Auffassungen. Die Auswahl der Anschlagsorte steht dabei für sich. Angriffe auf jüdische Geschäfte, Gotteshäuser, Museen oder Schulen werden begangen weil sie jüdische Geschäfte, Gotteshäuser, Museen oder Schulen sind. Genau das macht aus den Angriffen auch antisemitische Angriffe. Es gibt in Erklärungen oder Videos immer wieder Anspielungen auf judenfeindliche Auffassungen. So behauptete 2014 etwa Abu Muhammad al-Adnani, der Sprecher des IS, dass Barack Obama ein "mule of the Jews" sei. Und in einem Video von 2017 nennt ein englischsprachiger zehnjähriger Junge Donald Trump "the puppet of the Jews".

Damit stellt sich die dritte Frage: Welche Gefahren ergeben sich daraus für die Juden? Bedacht werden müssen zunächst zwei ganz unterschiedliche Gesichtspunkte: Gefahren bestehen nicht nur in Gewalthandlungen, sondern auch in Beleidigungen und Herabwürdigungen. Und dann muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass Antisemiten die Juden in anderen Ländern für die Politik des Staates Israel gegenüber den Palästinensern verantwortlich machen. Damit konstruieren sie – auch wenn es ihnen gar nicht richtig bewusst ist – das Bild von einem bösartigen und einheitlichen "Weltjudentum". Aus dieser Blickrichtung sind dann für Islamisten auch jüdische Schüler oder Supermarkt-Besucher als Feinde anzusehen.

Als erster Gesichtspunkt soll hier erörtert werden, inwieweit es Antisemitismus unter den Muslimen gibt. Der Berliner Soziologe Ruud Koopmans analysierte Daten von 2008 aus einer repräsentativen Umfrage in sechs westeuropäischen Ländern, wobei es um Feindlichkeit gegenüber Fremdgruppen ging. Dabei wurde auch die Frage gestellt, ob man Juden generell nicht traue. Von den befragten Christen stimmten neun Prozent zu, von den befragten Muslimen 45 Prozent. Da es sich um Muslime mit türkischer und marokkanischer Abstammung in verschiedenen Ländern handelte, kann hier von einem eindeutigen Ergebnis gesprochen werden.

Der Antisemitismus ist unter Muslimen offenkundig weitaus höher verbreitet als unter Christen. Ein wichtiges Ergebnis war darüber hinaus, dass der Antisemitismus bei den Muslimen mit einer stark fundamentalistischen Neigung bedeutend höher war als bei den Muslimen mit nur geringer religiöser Neigung.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch andere Studien: Eine Umfrage der Anti-Defamation League von 2015 ebenfalls in sechs europäischen Ländern macht dort Antisemitismus bei zwischen 49 und 68 Prozent der Muslime und zwischen 12 und 29 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Judenfeindschaft hat offenkundig auch etwas mit der Deutung des Islam zu tun. Dadurch erklärt sich aber nicht allein der höhere Antisemitismus bei Muslimen. Es kommen noch andere Aspekte hinzu wie z.B. der Sozialneid.

Berücksichtigt man Studien zur Judenfeindschaft in verschiedenen Ländern, so zeigt eine andere ADL-Studie, dass der Antisemitismus in den muslimisch geprägten Ländern in der Nähe Israels höher ist als in den Ländern, die weiter entfernt liegen. Dies erklärt wohl mit, warum der Antisemitismus im asiatischen Islamismus einen bedeutend geringeren Anteil als im arabischen Islamismus hat. Offenbar führt die Wahrnehmung von Israel im Nahost-Konflikt zu einem Anstieg des Antisemitismus in den muslimisch geprägten Ländern.

Demnach kommen beim Antisemitismus unter Muslimen zwei Ursachen zusammen: erstens die in einer bestimmten Deutung des Islam angelegte Judenfeindlichkeit, die bei einem höheren religiösen Fanatismus und Fundamentalismus noch ansteigt, und zweitens die Deutung des Nahost-Konflikts und der Politik Israels durch eine antisemitische Weltsicht, welche die Juden pauschal für den Nahost-Konflikt allein verantwortlich macht. Genau das sind die Anknüpfungspunkte von Islamisten, um Muslime mit dem Antisemitismus als Anhänger oder Sympathisanten werben zu können.

Daraus ergeben sich unterschiedliche Gefahrenpotentiale für die Juden in Europa: Antisemitismus spielt unter Muslimen eine bedeutend höhere Rolle als in der Gesamtbevölkerung. Gleichzeitig bestehen dort geringere Hemmungen, die Judenfeindschaft in Aussagen oder Handlungen auszudrücken. Dies erklärt mit das Ansteigen von Beleidigungen und Gewalthandlungen gegen Juden. Dazu bedarf es nicht unbedingt der Islamisten, die aber in ihrer Propaganda an bekannte Feindbilder, Stereotype und Vorurteile anknüpfen können. Sie nutzen nicht allein, aber auch den Antisemitismus, um junge Muslime für die islamistische Bewegung zu werben.

Damit werden jüdische Einrichtungen und Personen auch zu möglichen Zielen terroristischer Anschläge. Berücksichtigt man, dass sowohl Al Quida wie der Islamische Staat zu den Formen des Leaderless Jihad und des Lone Wolf-Terrorismus übergangen sind, entscheiden Kleingruppen und Einzelpersonen eigenständig über ihre Anschlagsziele. Für die Auswahl kommt den konkreten politischen Einstellungen dabei eine hohe Bedeutung zu. Und wenn Antisemitismus einen hohen Stellenwert hat, liegen eben auch Anschläge gegen jüdische Einrichtungen und Personen nahe.

Dies ist kein beruhigendes Ergebnis der vorgenommenen Analyse, ganz im Gegenteil, wird auf ein besonderes Gefahrenpotential aufmerksam gemacht. Darauf weisen die Entwicklungen und Gewalthandlungen der letzten Jahre hin. Der kritische Blick auf den Antisemitismus von Islamisten will aber nicht davon ablenken, dass die Judenfeindschaft auch im Rechtsextremismus, aber auch in Teilen der Gesamtgesellschaft in den europäischen Ländern verbreitet ist. Eine erfolgreiche Bekämpfung des Antisemitismus muss sich aber gegen alle Formen von judenfeindlichen Bedrohungen richten. Eine solche Gefahr geht eben auch von den Islamisten aus.