Kollateralnutzen der Pandemie

Brauchen wir Weihnachtszirkusse?

Weihnachtszeit ist bekanntlich die "besinnliche" Zeit des Jahres. In jeder Stadt und Kommune, die auf sich hält, gibt es daher einen eigens abgeholzten Weihnachtsbaum vor dem Rathaus, drumherum einen Weihnachtsmarkt mit Bratwurstständen und Billigglühwein, und, seit einigen Jahren rapide um sich greifend: einen sogenannten Weihnachtszirkus.

Pandemiebedingt sind heuer fast alle Weihnachtsmärkte im Lande abgesagt worden, viele schon zum zweiten Mal, desgleichen die meisten Weihnachtszirkusse. Schade? Naja. Während EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen es offenbar für einen "unersetzlichen Verlust europäischen Kulturgutes" hält, wenn das endlosschleifige "Oh du fröhliche..." rund um die Geburt des Heilands nicht durch FlicFlacs, auf dem Kopf stehende Elefanten und krampfhaft auf lustig getrimmte Pappnasen angereichert wird, gibt es andere, die darin ebensowenig einen Verlust sehen wie im Ausfallen der Kölner Karnevalssession.

Während also die "traditionellen" Weihnachtszirkusse heuer dutzendweise flachfallen – Dresden, Offenburg, Leipzig, Ulm, Stuttgart... -, lohnt doch ein Blick darauf, was das eigentlich ist: ein Weihnachtszirkus. Worin unterscheidet er sich von den Gastspielen der einzelnen Zirkusunternehmen zu anderen Zeiten des Jahres? Antwort: in gar nichts, außer dass im Eingang des Chapiteau vielleicht ein paar Weihnachtsbäume herumstehen und die Kartenabreißer eine Weihnachtsmannmütze aufhaben.

Artistik, Clownerie, Tierdressur

Zirkus, zumindest in seiner "klassischen" Form, setzt sich bekanntermaßen aus Artistik, Clownerie und der Vorführung dressierter Tiere zusammen. Insofern gelten auch "Weihnachtszirkusse" als "klassisch" oder wenigstens "traditionell", auch wenn es sie, wie gesagt, flächendeckend erst seit ein paar Jahren gibt.

Bis weit in die Nachkriegszeit hinein traten in Zirkussen quer durch die Lande mithin mit schwarzer Gesichtsfarbe bemalte Clowns auf – blackfacing nennt man das heute –, die sich besonders tölpelhaft zu gerieren hatten. Noch in den ausgehenden 1950ern gab es etwa im berühmten Circus Sarrasani eine vielbejubelte Nummer, bei der ein entsprechend geschminkter Clown auf einem dressierten Schwein durch die Manege ritt.

In der Tradition der sogenannten "freak shows", wie sie bis ins frühe 20. Jahrhundert auf Jahrmärkten, in Panoptiken und Kuriositätenkabinetten zu sehen waren, wurden in Zirkussen bis herauf in die 1980er "missgebildete" Menschen als Attraktionen vorgeführt. Im weltbekannten Münchner Circus Krone etwa trat noch Ende der 1970er ein Kleinwüchsiger als Pausenclown auf.

Derlei offen rassistische beziehungsweise ableistische Zirkusdarbietungen gibt es heutzutage nicht mehr. Die obligaten "Dumme-August"-Nummern stellen indes nach wie vor und nahezu durchgängig auf die Diskriminierung gesellschaftlich Benachteiligter oder am Rande Stehender ab. Wenigstens einer der meist zu zweit oder zu dritt in der Manege auftretenden "Spaßmacher" sieht aus und benimmt sich so, als käme er eben aus einer Notunterkunft für alkoholkranke Obdachlose – torkelnder Gang, verwaschen-delirante Sprache, rote Schnapsnase und abgerissene Klamotten aus der Altkleidersammlung –: zum schadenfrohen Vergnügen des Publikums stolpert er über seine eigenen Schuhe oder wird, haha, von einem anderen nassgespritzt. Bis vor wenigen Jahren gab es in vielen Zirkussen auch noch unverhohlen homophobe Clownsnummern, bei denen der dümmste August unverkennbar "schwul" war.

Sex sells

Kaum eine der "artistischen" Nummern des klassischen wie auch des modernen Zirkus kommt ohne teils hypersexualisierte Geschlechterklischees aus. Zu den Dauerbrennern in jedem Zirkus zählen junge Frauen, die im Glitzertanga ihre Beine zu einem 200-Plus-Grad-Spagat spreizen können. Kompletter Irrsinn für Gelenke und Bänder, aber was für ranzige Altmännerphantasien. Auch die sogenannte Kontorsionsartistik, bei der junge Frauen ihre Körper in anatomisch aberwitzigste und potentiell schwer wirbelsäulenschädigende Positionen verbiegen, bedient derlei Phantasien.

Im schweizerischen Erotikzirkus Ohlala, einem Ableger der traditionsreichen Zirkusdynastie Knie, treten die weiblichen Darstellerinnen nicht nur in Lack- und Ledermonturen auf, wie sie aus der SM-Szene bekannt sind, sondern in jederart Ouverts, Strapsen und Strings; teilweise auch (fast) völlig nackt und in eindeutigen Posen. Tatsächlich kommt selbst der altbackenste Traditionszirkus immer schon in ausdrücklich sexistischem Subtext daher: man denke etwa an die sogenannten Schlangentänzerinnen, wie es sie in gefühlt jedem zweiten Zirkus gibt – Höhepunkt einer entsprechenden Darbietung im DDR-Zirkus Aeros war es, wenn ein vier Meter langer Tigerpython zwischen den Beinen der halbnackten Tänzerin hervorkam – oder an den Klassiker, bei dem eine leichtbekleidete junge Frau auf ein sogenanntes "Todesrad" geschnallt und mit Messern beworfen wird.

Bedauernswerte Karikaturen

In fast allen der rund 350 Zirkusse hierzulande werden bis heute dressierte Tiere vorgeführt, in gut einem Drittel davon immer noch Wildtiere. Derartige Zirkusse, wie Tierschützer seit langem monieren, dienen als "primäre Konditionierungseinrichtungen des Speziesismus". Sie konditionieren Menschen schon in frühestem Kindesalter darauf, dass die Gefangenhaltung, Unterdrückung und Ausbeutung nicht-menschlicher Tiere nicht nur völlig in Ordnung ist, sondern gar dem eigenen Vergnügen zu dienen vermag. Es macht Spaß, so lernen Kinder im Zirkus, Tiere zu sehen, die, ihrer Freiheit beraubt und zu art- und naturwidrigstem Verhalten genötigt, zu bedauernswerten Karikaturen ihrer selbst verkommen sind. Sie lernen, das hinter der glitzernden Zirkusfassade stehende Leid der Tiere komplett auszublenden, gar zu glauben, dass es den in der Manege vorgeführten Elefanten selbst Spaß bereitet, etwa auf dünnen Stahlseilen zu balancieren oder Tigern, wenn sie auf Kommando "Männchen" machen oder durch hingehaltene Reifen springen müssen.

"Zirkus NEIN!"

Der "klassische" Zirkus mit seinem Dreiklang aus Rassismus, Sexismus und Speziesismus, erfunden Anfang des 19. Jahrhunderts in den USA und erst Ende des Jahrhunderts flächendeckend auch nach Europa gekommen, gehört längst auf die Müllhalde der Geschichte.

Nicht nur Tierschützer sehen es als eine Art kulturellen Kollateralnutzens der Pandemie, dass wenigstens in diesem Jahr das Gros der "Weihnachtszirkusse" ausfällt.

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