Rezension

Covid-19: Was in der Krise zählt

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Weshalb sollte sich gerade eine solch theoretische Wissenschaft wie die Philosophie mit der Coronakrise beschäftigen? Was können Philosophen erkennen, was Virologen nicht sehen? Diese und viele andere hochaktuellen Fragen versuchen Adriano Mannino und Nikil Mukerji in ihrem gerade erschienenen Essay zu beantworten.

Im Interview mit dubito antwortete Adriano Mannino auf die Frage, weshalb sich Philosophen mit der Coronakrise beschäftigen sollten: "Es braucht eine interdisziplinäre Auseinandersetzung, die alle Facetten aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet." "Ökonomen", sagt er, "beschäftigen sich etwa mit den wirtschaftlichen Konsequenzen eines Shutdowns, Juristen mit der Zulässigkeit von Grundrechtseinschränkungen und Soziologen mit den sozialen Konsequenzen der Pandemie." Die Aufgabe der Philosophie sei es, sich einen Überblick über alles zu verschaffen und daraus Schlüsse zu ziehen. Sie hoffen, "mit dem vorliegenden Essay philosophische Debattenanstöße zu liefern". Und das gelingt erfreulich gut.

Sie geben gleich eingangs zu bedenken, dass es sich auf den ersten Blick durchaus bezweifeln lässt, "dass fundierte philosophische Arbeit über die Covid-19-Krise zu einem derart frühen Zeitpunkt möglich ist". Allerdings habe sich in der politischen und gesellschaftlichen Debatte gezeigt, "dass der angemessene Umgang mit der pandemischen Katastrophe nicht allein den Virologen und Epidemiologen überlassen werden kann". Vor allem deshalb, weil diese zwar ihr Fachgebiet beherrschen, aber nicht zwingend die sich daraus ergebenen gesellschaftlichen Konsequenzen einschätzen können.

"Wir glauben", schreiben sie, dass entgegen der Haltung anderer Philosophen, "es nicht nur möglich ist, schon jetzt etwas Substantielles zur Covid-19-Pandemie zu sagen, sondern halten es sogar für geboten, dies zu tun. Denn unabhängig davon, ob die Fakten bekannt sind oder nicht: Es ist klar, dass wir – als Gesellschaft – entscheiden müssen, wie wir mit der aktuellen Situation umgehen wollen". Später ergänzen sie: "Wenn Philosophie in der Tat einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der komplexen Entscheidungsprobleme im Zusammenhang mit Covid-19 leisten kann, und wenn die entsprechenden Entscheidungen unmittelbar anstehen, dann können Philosophinnen und Philosophen sich nicht den Luxus erlauben zu warten, bis alle relevanten Daten vorliegen."

So begründen sie ihre Haltung mit Verweis auf den Risikoforscher Nassim Taleb über das Tragen von Masken: "Wir sollten nicht nur dann Masken tragen, wenn wir über starke empirische Evidenz verfügen, dass ein Virus durch die Luft übertragen wird und Masken dies behindern. Wir sollten Masken tragen, wenn und weil wir nicht wissen, ob das Virus durch die Luft übertragen wird und Masken dies behindern können." Genau diese Haltung, bei der anfangs vom Schlimmsten ausgegangen werden sollte, um ein maximales Maß an Bevölkerungsschutz zu erreichen, zieht sich als roter Faden durch das gesamte Buch. Erst wenn wir wissen, was das Virus anrichtet, wenn wir wissen, wie gefährlich es für uns Menschen ist, können wir gesicherte Aussagen über die Konsequenzen unserer Handlungen treffen. Trotzdem sei "Philosophie in Echtzeit" möglich und es auch unter Ungewissheit notwendig, über die Konsequenzen nachzudenken.

Denn genau hier greifen nach Meinung der Autoren philosophische Betrachtungen: "In bestimmten Bereichen sind also wohl oder übel philosophische Fragen zu beantworten, weil Handlungsentscheidungen vor einem bestimmten Zeitpunkt getroffen werden müssen. Das gilt auch für den Fall von Covid-19. Wenn wir nicht entscheiden, dann legen wir uns damit auf ein Ergebnis fest – ein Ergebnis, das wir womöglich hätten vermeiden sollen."

Dabei ist es zugegebenermaßen sehr schwierig, hier das richtige Maß zu finden. Sie verweisen auf Habermas, der sagte: so viel "Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie".

Nikil Mukerji ist Philosoph und Ökonom. Er forscht an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist ebendort Geschäftsführer des Studiengangs "Philosophie Politik Wirtschaft".

Adriano Mannino ist Philosoph und Sozialunternehmer. Er forscht an der Ludwig-Maximilians-Universität und leitet das Solon Center for Policy Innovation der Parmenides Stiftung in München.

Die derzeit besten verfügbaren Informationen stammen auch in der aktuellen Krise aus der Wissenschaft. "Allerdings sollten wir […] nicht erwarten, in einer dynamischen Katastrophenlage mit vollständig gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen arbeiten und uns auf den Goldstandard der begutachteten Fachveröffentlichung stützen zu können." Deshalb gebe es vielfach Unsicherheit, sich tageweise widersprechende Stellungnahmen führender Virologen. Doch das sei kein Grund, um an der Wissenschaft zu zweifeln. Sondern im Gegenteil genau das, was man von evidenzbasierter Wissenschaft zu erwarten hat: Dass Fehler schnell revidiert werden und durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse ersetzt werden. Mannino und Mukerji nennen das "Wissenschaft in Echtzeit".

Genauso gebe es auch eine "Philosophie in Echtzeit". "Eine solche Philosophie erfordert eine grundlegende Neujustierung epistemischer Normen, die Philosophinnen und Philosophen normalerweise vertreten würden, denn der Katastrophenfall ist nicht der Normalfall. Da wir uns nicht in der glücklichen Lage befinden, auf hochwertiges Datenmaterial zurückgreifen zu können, müssen wir stattdessen die besten verfügbaren Informationen verwenden." Für diese gelten die gleichen Regeln wie für die "Wissenschaft in Echtzeit".

Sie wissen, dass "aus wissenschaftlicher Sicht […] viele Fragen, die Covid-19 betreffen, noch nicht zufriedenstellend beantworter [werden können]. Daraus folgt aber nicht, dass wir praktische Fragen noch nicht klar oder dass wir sie deshalb überhaupt nicht beantworten können."

Die Autoren werfen der Politik (und den Politikern, hier insbesondere dem Gesundheitsminister Spahn) vor, viel zu spät auf die sich anbahnende Krise reagiert zu haben. Nachdem die ersten Meldungen über den Ausbruch der (damals noch) Epidemie in China und etwas später dann in Italien bekannt wurden, hätte schon reagiert werden können und müssen. Zu diesem Zeitpunkt "war also durchaus vorhersehbar, dass die Welt früher oder später eine schwerwiegende virale Pandemie erleben würde. Dennoch haben die Entscheidungsträger nahezu aller westlichen Länder nicht mit hinreichender Alarmbereitschaft auf den Ausbruch von Covid-19 im chinesischen Wuhan reagiert". Dadurch, dass erst mit Verzögerung und dann noch falsch reagiert wurde, konnte aus der (den) Epidemie(n) eine Pandemie entstehen. "Hätten wir die Warnzeichen ernst genommen und bereits früh entsprechende Schritte eingeleitet, hätten wir bis zum jetzigen Zeitpunkt in Deutschland über 1000 Menschen vor dem Tod bewahren können (Stand: 3. April 2020)."

Dabei war aus den Erfahrungen mit SARS im Jahr 2003 klar, dass die Gefahr einer weltweiten Pandemie besteht. Zumal hätten Südkorea und Taiwan zeitnah "durch eine risikoethisch sinnvolle Kombination von Maßnahmen vorgemacht, wie man der Praxis Vorrang geben kann". Andere Länder – darunter auch Deutschland – "hätten die Möglichkeit gehabt, rechtzeitig aus den Erfahrungen dieser Länder zu lernen. Leider haben sie dies mehrheitlich nicht getan".

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So lehnte Gesundheitsminister Spahn Fiebermessungen aus dem Grunde ab, "dass nicht alle Infizierten Fieber hätten – eine Logik, nach der man auch den Druck seiner Autoreifen nicht regelmäßig kontrollieren müsste, weil nicht alle Unfälle durch Reifenprobleme entstehen. Deutschland testet zwar deutlich mehr als andere Länder und konnte dadurch eine Eskalation der Situation wie in Italien bisher verhindern".

Unsere Erfahrungen funktionieren leider nicht als verlässlicher Kompass, um einschätzen zu können, was wir in einer Situation wie der momentanen erwarten und wie wir handeln sollten. "Dazu müssen wir erst unsere Vorstellungskraft bemühen, und wir müssen dies aktiv tun, uns also auch in gedankliche Räume vortasten, mit denen wir bisher keine Erfahrungen gemacht haben." So mache der "Mangel an Vorstellungskraft einen Teil der Fehlurteile, die unserer Gesellschaft im Umgang mit Covid-19 unterlaufen sind", aus.

Jetzt jedoch – in der Krise – sei es unerlässlich, "nicht die Orientierung zu verlieren. Das bedeutet zunächst, dass man sich das Ausmaß der Katastrophe immer wieder neu vergegenwärtigt – in Zahlen". Das zentrale Problem liegt nach Ansicht der Autoren darin, "dass wir die tatsächliche Gesamtzahl der Infektionen weder genau kennen noch zuverlässig schätzen können. Wir kennen lediglich die Gesamtzahl der bestätigten Infektionen, die wir über verschiedene Quellen erhalten (etwa die Fallzahlstatistiken des RKI oder die Corona-Datenbank der Johns-Hopkins- Universität). Zwischen der gemessenen Zahl und der echten Zahl liegt eine Dunkelziffer." Insofern sind alle Maßnahmen – auch die der Lockerung der Einschränkungen – in einem gewissen Maß risikobehaftet.

"Hätten wir den Shutdown nicht eingeleitet oder noch länger zugewartet, wäre uns die Kontrolle über die epidemische Dynamik entglitten. Im schlimmsten Fall hätten wir während mehrerer Wochen machtlos zusehen müssen, wie Menschen sterben, die man unter normalen Umständen hätte retten können. Der Shutdown war also gut begründet. Er sollte sicherstellen, dass wir Leben retten und Triage-Entscheidungen vermeiden können. Er hat uns Zeit gegeben und Handlungsoptionen bewahrt. Das bedeutet jedoch noch lange nicht, dass der Shutdown eine dauerhafte Lösung darstellt. Er hat hohe ökonomische Kosten, verursacht Leid und schränkt die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern erheblich."

Vorübergehend war die Einschränkung dieser Rechte legitim. Das "verdankt sich dem Umstand, dass die 'Katastrophenethik' in weit stärkerem Maße als die 'Normalethik' durch eine Orientierung an den Handlungskonsequenzen geprägt ist. Man kann dies neben den bereits genannten negativen Aspekten als den moralischen Preis des Shutdowns betrachten". Es sei aber völlig klar, dass diese Grundrechtseinschränkungen keinen Bestand haben dürfen. Allerdings sollte bei den Lockerungen das angewandt werden, was man anfangs sträflich versäumte: Entscheidungen auf Grundlage von aktuellen Ergebnissen der Wissenschaft abhängig zu machen.

In dem oben genannten dubito-Interview sagt Adriano Mannino: "Wir unterscheiden drei Strategien, die einen Weg aus dem Shutdown weisen könnten. Zum einen wäre es mit einem Delay (Verzögerung) möglich, die Infektionskurve über einen sehr langen Zeitraum abzuflachen, damit das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Die zweite Strategie ist das Containment (Eindämmung), dessen Ziel es ist, die effektive Reproduktionszahl des Virus durch geeignete Maßnahmen auf einen Wert unter 1 zu senken, um die Epidemie einzudämmen und im Idealfall gänzlich zu stoppen. Schließlich könnten drittens mit einem Cocooning (Einigelung) die Hochrisikogruppen bestmöglich vor Infektionsrisiken geschützt werden, während die Gesellschaft ansonsten weitgehend normal funktionieren kann. Alle drei Strategien sind mit Vor- und Nachteilen verbunden. Wir schlagen vor, das Beste insbesondere aus Containment und Cocooning herauszudestillieren und in einer Strategie zu kombinieren, die wir Cocooning Plus nennen."

Der Essay ist gut lesbar und erschien zur rechten Zeit. Nach einem (hier nicht dargestellten) Ausflug in die Tierrechtsdebatte und den Auswirkungen der Massentierhaltung auf die Verbreitung von Pandemien fassen die Autoren unter anderem diese Ergebnisse des sehr empfehlenswerten Buches zusammen:

  • Vermeide es, in Echtzeit philosophieren zu müssen. Denke lieber auf Vorrat.
  • Vermeide Philosophie und Wissenschaft in Echtzeit vor allem dort, wo viel auf dem Spiel steht.
  • Sorge dafür, dass Informationen in Echtzeit zur Verfügung stehen.
  • Gib der Praxis Vorrang.
  • Versuche durch kluge Entscheidungen, möglichst viel Zeit zu gewinnen und möglichst viele Optionen offenzuhalten.

Adriano Mannino und Nikil Mukerji: Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit, Reclams Universal-Bibliothek, 2020, 6,00 Euro

Anmerkung: Dem Rezensenten lag das Buch als eBook vor. Daher wird bei den Zitaten auf eine Seitenangabe verzichtet.

Webseite zum Buch: katastrophenethik.de

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