Deutschland sucht nach einem Ausweg aus der Covid-19-Epidemie. Die Fraunhofer-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft haben gemeinsam eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie auf der Basis von Modellrechnungen verschiedene Wege durch die Corona-Epidemie skizzieren.
Viola Priesemann, die eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation leitet, ist eine Autorin dieses Positionspapiers. Ihr Team hat zwei Szenarien berechnet, wie sich das Coronavirus in den kommenden Wochen ausbreiten wird. Wir sprachen mit ihr über verschiedene Wege durch die Epidemie, welche Folgen ein Wiederanstieg der Neuinfektionen hätte und wie diese abgewendet werden können.
Frau Priesemann, wann können die Beschränkungen, die wir wegen der Corona-Epidemie hinnehmen müssen, gelockert werden?
Es gibt den Wunsch, dass wir die Beschränkungen jetzt stark lockern – damit würde man aber in Kauf nehmen, dass die Ansteckungsrate und die Anzahl der Neuansteckungen wieder steigen. Dann müssten wir uns aber wahrscheinlich in ein paar Wochen wieder drastisch einschränken, um die zweite Welle abzudämpfen. Wir wären also wieder da, wo wir Mitte März waren. Wir plädieren deshalb dafür, die große Chance zu nutzen, die wir gerade haben: Die Anzahl der Neuinfektionen ist so niedrig wie lange nicht – wenn wir sie auf täglich nur noch einige Hundert bestätigte Fälle senken, können wir die Infektionsketten nachvollziehen und die Kontaktpersonen positiv getesteter Patienten isolieren. Je mehr wir die Ansteckungen jetzt nochmal drücken, desto schneller sind wir bei einigen Hundert Fällen. Dann können wir uns auch wieder mehr Freiheiten erlauben.
Wie lange wird es dauern, bis die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf deutlich unter 1.000 Fälle sinken wird?
Wir hatten mit der Kontaktsperre einen Zustand erreicht, in dem die Zahl der täglichen Neuinfektionen recht zügig abgenommen hat. Statt über 6.000 Neuinfektionen sind wir nun bei 1.000 bis 2.000. Die effektive Reproduktionszahl lag also in den vergangenen Wochen deutlich unter 1. Wenn das so bliebe, können wir Ende Mai einige 100 Fälle pro Tag erreichen.
Ist es auch möglich, die Epidemie zu bewältigen, wenn es täglich wieder mehr Neuinfektionen gibt?
Es gibt im Prinzip nur zwei natürliche Enden einer Epidemie: Entweder wird das Virus ausgerottet oder genug Menschen sind immun. Auf eine Grundimmunität zu setzen, bringt allerdings einige Risiken mit sich. Wir wissen derzeit nicht einmal, wie lange man nach einer Corona-Infektion immun bleibt. Eine langfristige Immunität ist jedoch notwendig dafür, dass die Ausbreitung in dem Fall zurückgeht. Mit diesen Unsicherheiten über die Immunität ist eine weitere Ausbreitung sehr riskant. Außerdem wissen wir sehr wenig über mögliche gesundheitliche Spätfolgen von Covid-19.
In Deutschland konnten die Kliniken die Patienten mit schweren Covid-19-Verläufen aber bislang doch gut versorgen, manche haben sogar Kurzarbeit angemeldet …
Aber nur, weil die Krankenhäuser im Ausnahmezustand arbeiten und alle planbaren Operationen, für die Intensivbetten benötigt werden, aufgeschoben habe. Aus den Kliniken heißt es, dass mit einem Normalbetrieb in Deutschland wesentlich weniger Intensivbetten für die Versorgung von zusätzlichen Covid-19-Patienten zur Verfügung stünden. Dazu kommen auch noch die Covid-19-Verdachtsfälle, die vorsorglich auch isoliert behandelt werden müssen. Es ist außerdem sehr wichtig, dass alle nicht-Covid-Patienten mittelfristig wieder genauso behandelt werden können wie vor der Epidemie. Es ist nicht klar, wie viele Betten in einem solchen Normalbetrieb für Covid-19-Patienten zur Verfügung gestellt werden können, ohne dass die Versorgung aller anderen leidet.
Werden die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie also vorschnell gelockert?
Im Prinzip kann jede Beschränkung gelockert werden, wenn es dadurch nicht zu zusätzlichen Ansteckungen kommt. Leider wissen wir nicht, welche Risiken jede einzelne Lockerung mit sich bringt. Um damit Erfahrungen zu sammeln, sollten wir vorsichtig und schrittweise vorgehen. Wenn wir alles gleichzeitig lockern, ist das Risiko einer erneuten Infektionswelle sehr hoch. Außerdem dauert es zwei bis drei Wochen, bis wir die Effekte einer Lockerung sehen. In dieser Zeit kann es schon zu einer starken Ausbreitung kommen, ohne dass wir es merken. Damit würden wir riskieren, die Erfolge der Disziplin und Anstrengungen in den vergangenen Wochen wieder zu verspielen. Es gilt also, Maßnahmen einzeln und gezielt zu lockern und genau zu beobachten, welchen Effekt die Lockerung auf die Neuinfektionen zwei bis drei Wochen später hat. Welche Maßnahmen zuerst gelockert werden, muss allerdings in einem offenen Diskurs entschieden werden, der alle gesellschaftlich wichtigen Aspekte wie etwa die wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Effekte einbezieht.
Man hat den Eindruck, dass es bei der Eindämmung der Epidemie immer wieder neue Ziele gibt. Was muss Ihrer Meinung nach das Ziel sein?
Als die Infektionszahlen exponentiell stiegen, war das Ziel kurzfristig ganz klar, die exponentielle Ausbreitung zu stoppen. Das ist mit großem Einsatz gelungen. Die täglichen Neuinfektionen gehen seit Anfang April klar zurück. Auf den ersten Blick sieht es nun so aus, als seien wir am Ziel. Aber das ist nicht der Fall. Bei einer Entscheidung über ein Ziel muss einem bewusst sein, dass das Virus nicht einfach verschwinden wird. Er wird uns sehr wahrscheinlich noch einige Monate oder Jahre beschäftigen. Deswegen brauchen wir jetzt eine Strategie, die langfristig tragbar ist. Die einzige nachhaltige Lösung, die wir sehen, ist, das Virus so weit wie möglich zurückzudrängen, so dass die verbleibenden Infektionsketten nachverfolgt und mögliche neue Infektionsherde so schnell wie möglich aufgespürt werden können.
Das Interview führte Peter Hergersberg für die Max-Planck-Gesellschaft.