Interview mit dem türkischen HDP-Politiker Mithat Sancar

"Erdogan nutzt die Religion, um seine Macht auszubauen"

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Mithat Sancar
Mithat Sancar

Mithat Sancar sitzt als Abgeordneter der Oppositions-Partei HDP im türkischen Parlament. Sancar ist Professor für öffentliches Recht und Verfassungsrecht an der Universität Ankara. Studiert hat er unter anderem in Deutschland. Auf Einladung der Partei Bündnis 90 / Die Grünen hielt er eine Gastrede auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Partei in Münster am vergangenen Wochenende. hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg sprach mit Mithat Sancar am 12. November am Rande des Parteitags.

hpd: Herr Sancar, wie erleben Sie persönlich derzeit die Situation als Oppositioneller in der Türkei?

Mithat Sancar: Wie alle anderen Mitglieder meiner Partei erfahre ich Repressalien. Unter denen leiden ja nicht nur die Mitglieder der HDP, sondern auch Personen und Organisationen, die uns nahe stehen. Viele Zeitungen wurden geschlossen, Vereine verboten. Zehn Abgeordnete meiner Partei sitzen derzeit im Gefängnis, davon zwei Parteivorsitzende. Und eben habe ich erfahren, dass gestern einige meiner Mitarbeiter festgenommen wurden. Mein Chauffeur und ein Leibwächter. Offiziell wirft man ihnen die Unterstützung einer terroristischen Organisation vor.

Und trotzdem wollen Sie morgen in die Türkei zurückfliegen?

Ja sicher.

Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie dort verhaftet werden, ist doch ziemlich groß.

Das ist sie für alle Abgeordneten meiner Partei, weil unsere Immunität aufgehoben wurde.

Sie sind zum Parteitag der Grünen gekommen, um über die Situation in der Türkei zu berichten. Was wünschen Sie sich von der Politik in Deutschland?

Ich wünsche mir eine Solidarisierung aller demokratischen Kräfte. Wir brauchen kein Mitleid, wir brauchen den demokratischen Kampf. Ich wünsche mir mehr öffentliche Aufklärung über das, was derzeit in der Türkei passiert und ich wünsche mir, dass Politiker auf die deutsche Regierung einwirken. Die Regierung hat beim Flüchtlingsdeal viel zu viele Zugeständnisse gemacht. Dabei darf man die Politik Erdogans nicht belohnen. Wie gesagt, ich hoffe, dass sich die Menschen und die Politiker in Deutschland für den demokratischen Kampf entscheiden. Denn wahrscheinlich kann man sich hier in Deutschland noch am besten vorstellen, was dort gerade passiert.

Sie spielen auf die Nazi-Zeit an. Den Vergleich zwischen Hitler und Erdogan hört man ja immer häufiger. Glauben Sie wirklich, dass man die beiden vergleichen kann?

Es ist natürlich ein sehr spektakulärer Vergleich, der vielleicht auch etwas zu häufig benutzt wird und deshalb ein wenig an Wirkung verloren hat. Aber ich finde, dieser Vergleich ist für die derzeitige Situation in der Türkei sehr geeignet. Es gibt sehr viele Ähnlichkeiten zur Situation in Deutschland Anfang der 1930er Jahre. Die Entwicklungen dieser Zeit kenne ich sehr gut, weil ich mich beruflich damit beschäftigt habe. In gewisser Weise finde ich es als Akademiker auch irgendwie interessant, all diese Prozesse hautnah zu erleben, die ich bisher nur in der Theorie studiert habe.

Was glauben Sie, wie es mit der Türkei jetzt weitergehen wird?

Das Schlimmste, was passieren kann, ist ein Bürgerkrieg. Und dass es dazu kommt, ist nicht auszuschließen. Leider. Erdogans Gewaltpolitik schürt diese Kräfte. Erdogans Ziel ist es, eine rechtliche Grundlage für den gegenwärtigen Zustand zu schaffen. Er strebt eine Verfassungsänderung an, durch die ein autoritäres Präsidialsystem festgeschrieben wird. Um die Kräfte, die er dafür braucht, zu vereinen, braucht er einen Sündenbock. Und das einzige, was die islamistischen, nationalistischen und chauvinistischen Kräfte des Landes gemeinsam haben, ist nun mal der Kurdenhass. Das ist der Grund für seine Anti-Kurden-Politik.

Welche Rolle spielt Ihrer Ansicht nach die Religion für Erdogan?

Die Religion kann zur Waffe werden, aber man darf den Islam nicht automatisch mit Gewalt gleichsetzen. Wir haben in unserer Partei auch kopftuchtragende Frauen und Muslime, genauso wie Leute, die nichts mit dem Glauben am Hut haben. Erdogan dagegen nutzt die Religion, um seine Macht auszubauen. Und er scheint auch die Vorstellung zu haben, dass er ein einflussreicher Führer innerhalb des Islam ist oder sein sollte.

Das Interview führte Daniela Wakonigg für den hpd.