Europäisches Gericht weist Litauen in die Schranken

LGBTQI-Märchen sind für Kinder nicht gefährlich

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Ein Märchenbuch mit Geschichten über gleichgeschlechtliche Partnerschaft ist nicht schädlich für Kinder. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg in der vergangenen Woche. Das Land Litauen hatte den Band zunächst aus dem Verkehr gezogen, später mit einem Warnhinweis versehen. Beides verletzte nach Ansicht der Richter das Recht auf freie Meinungsäußerung. Das Land Litauen muss der Mutter der 2020 verstorbenen Autorin 12.000 Euro Entschädigung zahlen. Es war der erste Fall, in dem der EGMR über die Verbreitung von Kinderliteratur zum Thema gleichgeschlechtliche Beziehungen verhandelt hat.

Der Stein des Anstoßes: Ein Kinderbuch mit dem Titel "Gintariné Širdis" ("Bernsteinfarbenes Herz"), verfasst von der Autorin Neringa Dangvydé Macaté, die bis zu ihrem frühen Tod offen lesbisch lebte. Der 2013 erschienene Band versammelt Märchen für Kinder zwischen neun und zehn Jahren. Die sechs Geschichten behandeln Themen wie Behinderung, Marginalisierung, Mobbing, Familie und Scheidung sowie Migration, zwei Erzählungen schildern gleichgeschlechtliche Ehen.

Veröffentlicht von einer litauischen Universität mit einem Zuschuss des Kultusministeriums, löste der Band bereits kurz nach Erscheinen einen Eklat aus. Das Ministerium erhielt eine Beschwerde, das Buch "ermutige zu Perversionen". Mehrere Parlamentsmitglieder verwiesen auf die Besorgnis unter Interessenverbänden von Familien. Man befürchte dort, dass das Buch "Kindern die Idee vermitteln sollte, die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Personen sei ein willkommenes Phänomen". Und die Aufsichtsbehörde stufte die beiden fraglichen Märchen als potenziell gefährlich für Kinder unter 14 Jahren ein. Auf ihre Empfehlung hin kam das Buch wieder in den Handel – jedoch versehen mit einem warnenden Aufkleber.

Dagegen klagte die Autorin, scheiterte jedoch vor den litauischen Gerichten, zuletzt 2019 vor dem Obersten Gerichtshof des Landes. Die Richter bestätigten die Ansicht staatlicher Stellen, indem sie in der positiven Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungen ein Schädigungspotenzial für Kinder und eine Herabsetzung anderer Familienmodelle sahen. Weiter monierten sie, dass einige Textpassagen sexuell zu explizit seien.

Daraufhin zog Macaté mit Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen vor den EGMR, vor dem ihre Mutter den Prozess weiterführte, nachdem die Autorin im Jahr 2020 im Alter von nur 44 Jahren verstorben war. Nun haben die Straßburger Richter ihr Recht gegeben: nach Ansicht des EGMR verletzten der Verkaufsstopp und der Warnhinweis das Recht der Autorin auf freie Meinungsäußerung.

Der EGMR widersprach damit der Auffassung litauischer Gerichte, dass der Band sexuell explizite Passagen enthalte. Namentlich nannte er eine Szene, in der eine Prinzessin und die Tochter eines Schuhmachers nach ihrer Hochzeit in den Armen der jeweils anderen einschlafen. Weiter verneinte das Gericht auch das Argument der Regierung, dass das Buch gleichgeschlechtliche Familien gegenüber anderen Lebensformen positiv heraushebe. Im Gegenteil setzten sich die Märchen für Respekt und Akzeptanz gegenüber allen Mitgliedern der Gesellschaft ein.

Vorangegangen war eine mündliche Verhandlung im März 2022. Darin bekräftigte die litauische Regierung ihren Standpunkt, dass das Buch "homosexuelle Beziehungen zu emotional" beschreibe und nicht berücksichtige, "wie Kinder natürlicherweise denken". Dem widersprach der Anwalt der Klägerin. Es sei "schwer zu verstehen, was für einen negativen Effekt die referenzierten Stellen auf Kinder im Alter von neun oder zehn Jahren haben könnten". Er wies darauf hin, dass Kinder doch wüssten, "wie Erwachsene ihre Liebe ausdrücken. Sie würden hier einfach lernen, dass zwei Frauen oder zwei Männer das auch tun."

Im Urteil wiesen die Richter ausdrücklich darauf hin, dass die bloße Erwähnung von Homosexualität oder die gesellschaftliche Debatte über den sozialen Status sexueller Minderheiten sich nicht nachteilig auf Kinder auswirke. Dazu verwiesen sie auf den aktuellen Forschungsstand und verschiedene internationale Gremien. Zudem sähen die Gesetze vieler Mitgliedsstaaten des Europarats – darunter Litauen – in ihren Lehrplänen die Aufklärung über gleichgeschlechtliche Beziehungen oder das Verbot von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung vor.

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