67. Berlinale

Filme zu Menschenrechten, Flucht und LGBTI

Unsere Top-5-Filme zum Themenkomplex LGBTI

Ri Chang Dui Hua / Small Talk von Hui-chen Huang

Anu ist ein Tomboy. Zwar wurde sie, wie im Taiwan der 1970er-Jahre üblich, früh verheiratet und bekam zwei Kinder, ließ sich jedoch bald von ihrem gewalttätigen Mann scheiden und zog die Töchter alleine auf. Seitdem hatte sie ausschließlich Beziehungen zu Frauen, die wie sie ihren Lebensunterhalt als Seelenbegleiterinnen bei Beerdigungen verdienen. Eine ihrer Töchter ist die Filmemacherin Hui-chen Huang. Zweifel an der Bedingungslosigkeit von Mutterliebe sind in der chinesischen Kultur tabu, doch genau die macht Huang zum Thema des intimen Porträts. Gemeinsam begeben sich Mutter und Tochter auf eine Reise in die Vergangenheit und Anu wird mit Fragen konfrontiert, die die Tochter seit Jahren quälen. In langen Einstellungen werden Themen wie Vertrauen, Missbrauch und Mitwisserschaft behandelt, sie münden jedoch fast immer in einer schmerzhaften Sprachlosigkeit. Die Tiefe des abgebildeten Raumes durch Schärfenverlagerungen auslotend, versucht die Regisseurin, sich ihrer Mutter in Gesprächen mit deren Geschwistern und Ex-Liebhaberinnen anzunähern, und zeichnet nebenbei ein Bild der sich wandelnden Lebenssituation von Frauen dreier Generationen in Taiwan.

Mein wunderbares West-Berlin von Jochen Hick

Im West-Berlin der 1960er-Jahre gab es Lokale, in denen Männer unter sich sein konnten, und es wurde zum Magneten für junge Schwule. Heute noch aktive Protagonisten von damals lassen Erinnerungen an ihre ersten Jahre in der Stadt aufleben. Es sind Erinnerungen an eine Szene, die sie sich unentwegt erkämpften, und an deren Wandel bis zum Mauerfall. Aus der Konfrontation mit massiver gesellschaftlicher Repression erwächst in den 1970ern ein schwules Selbstbewusstsein: Die "Homosexuelle Aktion Westberlin" setzt sich für eine Streichung des § 175 und die Überwindung des Patriarchats ein. In Ruinen entstehen neue Wohn- und Lebensformen wie Männerkommunen oder das Tuntenhaus. Klappensex, Ost-West-Beziehungen, Lederbars, Drag-Aktionen in der U-Bahn: Eine anarchische Freude überstrahlt die Leiden der Vergangenheit. Ein Jahrzehnt später trifft die Krankheit Aids auch Berlin. Nach Out in Ost-Berlin erkundet Jochen Hick die queere Lebenssituation im damaligen Westteil der Stadt und die Wurzeln jener Faszination, die die Metropole bis heute zum Zufluchtsort nicht nur für schwule Männer macht. Spannende Zeitreise mit zum Teil noch unveröffentlichtem Archivmaterial.

The Misandrists von Bruce LaBruce

Somewhere in Ger(wo)many ... Eine weiblich-radikale "Army of Lovers" rüstet sich zur letzten Revolution. Man, nein, frau diskutiert, agitiert, menstruiert, sinniert über den Untergang des Patriarchats, paukt eingeschlechtliche Fortpflanzung und hat Sex. Dass ausgerechnet ein junger Soldat im Feminist*innenkloster Zuflucht sucht, bringt die strenge Vorsteherin aufs Parkett. Und "Big Mother" is not amused. Doch eine Frage bleibt: Kann es innerhalb eines korrupten Systems überhaupt Gleichheit geben? Oder müssen vorher ein paar Schwänze rollen?! Als ob Valerie Solanas einen "Schulmädchenreport" inszeniert hätte: Bruce LaBruces neuester Streich handelt von der Utopie einer männerlosen Welt. Der kanadische Regisseur, erfahrener Berlinale-Gast und Teddy-Award-Gewinner (für Pierrot Lunaire) präsentiert eine anarchistische Protagonist*innenriege, der politische Parolen genauso leicht von den Lippen gehen wie religiöse Akklamationsformeln: Ihre Predigten schließen sie natürlich mit "A(wo)men". Sarkastisch, urkomisch – und as queer as it gets.

Dream Boat von Tristan Ferland Milewski

Dream Boat

Eine Woche auf einem Kreuzfahrtschiff, mit Partys, Spaß und neuen Freundschaften: Es handelt sich um eine exklusiv schwule Reisegesellschaft und Themen wie Identität, Körperlichkeit und die Suche nach Sex spielen eine besondere Rolle. Jeden Abend fordert ein neues Motto die Passagiere zu extravaganten Verkleidungen und knappen Outfits heraus, doch in den Kabinen geht es auch unter die Oberfläche, und ganz Privates kommt zutage. So will der junge Pole Marek als Mensch akzeptiert und geliebt werden, und nicht wegen seines gestählten Körpers. Dipankar aus Indien, der erst seit kurzem zu seiner Homosexualität steht, und der Palästinenser Ramzi nutzen den Freiraum aus, den sie aus den homophoben Gesellschaften ihrer Heimatländer nicht kennen. Der HIV-positive Martin reflektiert über Hedonismus, während Philippe aus Frankreich das Treiben auf dem Boot abgeklärt aus seinem Rollstuhl beobachtet. In seinem Kinofilmdebüt gelingt Regisseur Tristan Ferland Milewski ein Blick hinter die Kulissen einer zunächst oberflächlich erscheinenden Welt. Er baut mit Witz eine Nähe zu den Männern auf, die offen über schwules Begehren, freie Liebe und ganz altmodische Zweierbeziehungen reden.

Bones of Contention von Andrea Weiss

Kilometerlang säumen ungekennzeichnete Massengräber Spaniens Landstraßen, in denen über 120.000 Opfer des Franco-Regimes verschüttet liegen. Unter ihnen ist auch der weltberühmte spanische Schriftsteller Federico García Lorca, der in den ersten Tagen des Spanischen Bürgerkriegs von Faschisten erschossen wurde. Das Rätsel um den Verbleib seiner sterblichen Überreste macht ihn zur Symbolfigur im Bemühen um das Erinnern und Aufdecken verborgener Schicksale von Schwulen und Lesben unter Franco, die weit über das Ende der Diktatur hinaus gewaltsamen Repressionen ausgesetzt waren. Spanien, das heute im Umgang mit Homosexualität zu den fortschrittlichsten Ländern gehört, verweigert nach wie vor eine umfassende strafrechtliche Aufarbeitung seiner dunklen Vergangenheit. Einfühlsam verschafft Andrea Weiss Francos Opfern aus der LGBTIQ*-Community Gehör. Der Film zeigt ihre Lebensgeschichten im Kampf um Aufklärung, Gerechtigkeit und Menschenrechte sowie den anhaltenden Streit um eine würdige Neubestattung der verschwundenen Ermordeten. Beeindruckendes Archivmaterial dokumentiert die verdrängte historische Realität, die in Lorcas Dichtungen und Musik schmerzvollen Widerhall findet.