Wenn heute Natur – Sonne, Wolken oder Tiere – in der Literatur auftaucht, dann geschieht das auf ganz andere, nachdenklichere Weise als noch vor zehn, zwanzig Jahren. Drei Neuerscheinungen, "Der Atem der Vögel" von Klaus Böldl, "Eine allgemeine Theorie des Vergessens" von José Eduardo Agualusa und Yoko Ogawas "Der Herr der kleinen Vögel", sind dafür beispielhaft. Selbstverständlich ist nichts mehr.
Können Tiere glücklich sein, fragt ein kleines Mädchen in Böldls Roman "Der Atem der Vögel" ihre Mutter. Ja, aber sie denken es nicht, so die Mutter. Wir denken es gewöhnlich genau so wenig, so der Protagonist des Romans, der Lebensabschnittsgefährte. Ich denke auch nicht, wenn ich glücklich bin, kontert die Stieftochter darauf.
Das Kind hat den Erwachsenen eines voraus: die Kunst des Schauens. Mit ihm zusammen erkundet der freischaffende Orgelrestaurator die Insel und übt sich in "Der Atem der Vögel" vor allem in einem: im Verschwinden. Im Aufgehen in der Umgebung. Darin, von ihr nicht mehr abgesondert zu sein. Dabei erlebt er das absolute Verschwinden einer jungen Frau, die sich ins Hafenbecken der Färöerinsel stürzt, kurz nachdem sie noch mit ihm gesprochen hat. Abhanden kommt ihm selbst auch seine Lebensgefährtin und dann seine Liebe zu ihr. Er lernt, sich treiben zu lassen. Wie die Wolken, die Vögel am Himmel, der Wind, der durch die Wolle der Schafe fährt und sie aufstieben lässt. Am Ende verlässt der Orgelbauer die Insel, auf der es ihm zunächst so leicht viel, zu leben, gerade weil er nicht dazugehörte.
In "Eine allgemeine Theorie des Vergessens" kommen die verschiedensten Tiere vor. Essbare und Gefährten. Eine Frau lebt dreißig Jahre eingeschlossen in einer Wohnung in Luanda. Seit der Unabhängigkeit Angolas hat sie sich darin mittels einer eigenhändig hochgezogenen Wand verbarrikadiert. Schwester und Schwager beabsichtigten die Flucht nach Portugal, wo sie nie ankamen. Doch die Frau ist auch Gefangene eines Traumas. Als Minderjährige vergewaltigt und geschwängert, verfügte ihr Vater, ihr das Kind wegzunehmen.
Nun teilt sie mit einem albinotischen Schäferhund Speisen aus Mehl und Bohnen. Darauf angelt sie vom Balkon der Nachbarn unter ihr Hühner und züchtet sie wegen der Eier. Einzig noch unterhalten durch die regelmäßigen Besuche eines Äffchen auf der Dachterrasse, das sie, als es verletzt auftaucht, schließlich in der Not doch tötet und brät. Obwohl sie bemerkt: "An keinem Menschen hatte sie so einen menschlichen Blick bemerkt." "Sie waren Wesensverwandte, beide ein Missverständnis, Fremdkörper im überschwenglichen Organismus der Stadt."
Als schließlich ihr Hund an Altersschwäche stirbt, schreibt sie an eine der Wänd, die schon seit langen rundum mit Notaten bedeckt sind: "Seit Fantsma gestorben ist, bete ich ihn an. Ich rede mit ihm. Glaube, dass er mich hört … Unterhalte ich mich auch mit mir selbst? Möglich. Wie übrigens auch alle Heiligen, die sich damit rühmen, mit Gott zu sprechen. Nur weniger größenwahnsinnig. Wenn ich mit mir selbst rede, glaube ich, mit der guten Seele eines Hundes zu sprechen. Immerhin tut es mir gut."
Und dann war da noch ein Zwergflusspferd, das auf dem Balkon nebenan wohnt, bei einem Varieté-Künstler, der ihm angeblich das Bauchreden beigebracht hat. Und nun die Tauben, die Ludo, jene alte Dame mit den dicken weißen Zöpfen, mit Diamanten anlockt und sie dann mit dem Feuer aus verbrannten Büchern brät. Eine Brieftaube, die eine Liebesbotschaft trägt, lässt sie frei, um der Liebenden willen. Damit bewirkt sie unerwartete Zusammentreffen der zufälligsten Art.
Die Hausbewohner wechseln wie die Regierungen: Kolonialzeit, Kommunismus und dann der Kapitalismus. Wer Opfer ist und wer Täter, ist schwer auseinanderzuhalten. Das Haus der Ludo wird zum Panoptikum der jüngeren angolanischen Geschichte. Hier geben sie sich schließlich alle ein Stelldichein. Da sind die, die das Vergessen üben, und die, die nicht vergessen können. Die Zeit und das Erinnern bringen Ludo schließlich ihre Tochter wieder, die nicht vergessen will. Das Vergessenkönnen einen Adoptivenkel, ein Straßenjunge, der eines Tages bei ihr eindrang, als beide einander einfach brauchten.
Ist es Zufall, dass in diesem verschlungenen Roman voller Abreviaturen die Frage nach Gott in einem Zug damit gestellt wird, wie wir Menschen zu den Tieren stehen? - Wohl nicht. Es ist eine Frage nach Augenhöhe oder oben und unten, die es ohne einander nicht geben kann, und noch wichtiger, weil ein Grundbedürfnis, nach einem Du in der Stunde der Not.
Zwei Romane zeigen ganz unterschiedliche Wege auf: Verzicht auf das Ego oder auf das Du, das von irgendeiner Seite verbunden ist mit einer Verfügungsmacht bis hin zu der über Leben und Tod. Gemeinsam ist ihnen die gewollte Ohnmacht – man könnte es auch Hingabe nennen. Hingabe an das Leben an und für sich. Sie wird in diesen wunderbar traumhaften Romanen gefeiert, in denen die Protagonisten wie Schlafwandler agieren.
"Der Herr der kleinen Vögel" schildert die unverbrüchliche Geschwisterliebe zweier alter Männer. Als der eine stirbt, der, welcher die Sprache der Vögel sprach, verstanden einzig von ihnen und seinem Bruder, und der ein verborgenes Leben führte, das darin bestand, seinem Bruder den Haushalt zu führen und Vögel zu beobachten, setzt der Übriggebliebene das Leben seines Bruders fort. Auch er wird zum Birder. Er betreut die Voliere einer Schule, wird aber bald der Pädophilie verdächtigt. Er hegt daraufhin daheim einen Brillenvogel, eine Art, die in Japan gerne gehalten wird und die stolze Besitzer dieser Vögel in hochdotierten Gesangswettbewerben gegeneinander antreten lassen. Der sanfte fragile Mann wird schließlich zum Befreier eines ganzen Schwarms dieser Vögel, auf einem Gesangswettbewerb, wohin es auch das ihm geraubte Exemplar verschlagen hat. Soviel Aufregung überlebt der alte Herr selbst freilich nicht.
Tradition und Rebellion liegen in diesem bezaubernden japanischen Buch der leisen Töne nahe beieinander, in dem Menschen und Tiere einander wortlos so nahe sein können. Eine Elegie auch auf den Verzicht und die Selbstbeschränkung, ganz einfach und schlicht gelebt, so skizziert es der Roman in schnörkellos minimalistischer Sprache. So minimalistisch wie der Gesang der Vögel.
Alle drei Romane sind auf der Suche nach dem Leben, dort wo es von Sprache in Stille übergeht, dem Raum, in dem sich auch Mensch und Tier bisweilen begegnen können.
Klaus Böldl: "Der Atem der Vögel", Roman, S. Fischer Frankfurt am Main 2017, 140 S., 18 Euro
José Eduardo Agualusa: "Eine allgemeine Theorie des Vergessens", Roman, aus dem Portugiesischen von Michael Kegler, C. H. Beck Verlag München 2017, 197 S., 19,95 Euro
Yoko Ogawa: "Der Herr der kleinen Vögel", Übersetzung von Sabine Mangold, (Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2015), Aufbau Verlag Taschenbuch 2017, 288 S. 9,99 Euro