Der Publizist Reinhold Schlotz legt mit "Von Golgatha nach Auschwitz. Die Mitverantwortung des Christentums für den Holocaust" eine kurze Geschichte des christlichen Antisemitismus vor, welcher für den Massenmord an den Juden im Zweiten Weltkrieg mit verantwortlich sei. Einerseits macht der Autor deutlich, dass von einem christlich-jüdischen Abendland angesichts der christlichen Judenfeindschaft schwerlich die Rede sein kann, andererseits zieht er etwas ahistorisch und monokausal eine gerade Linie "Von Golgatha nach Auschwitz".
In den letzten Jahren kursierte immer häufiger die Rede von einem "christlich-jüdischen Abendland" in der Öffentlichkeit. Man muss kein Historiker sein, um sich hier verwundert die Augen zu reiben. Denn die abendländische Geschichte ist von einer Feindschaft der Christen gegenüber den Juden geprägt gewesen. Damit einhergehende Aversionen und Stereotype dominierten das alltägliche wie politische Denken der Menschen durch die Jahrhunderte. An die Bedeutung eines christlichen Antisemitismus erinnert das Buch "Von Golgatha nach Auschwitz. Die Mitverantwortung des Christentums für den Holocaust", das der Physiker und Publizist Reinhold Schlotz vorgelegt hat. Die Formulierung von Titel und Untertitel enthält bereits die zentrale These des Verfassers. Sie lautet in seinen Worten: "Für die Katastrophe des Holocaust war der christliche Antisemitismus zwar keine hinreichende, aber eine notwendige Voraussetzung. Ohne die fast zweitausendjährige christliche Judenfeindschaft wäre Auschwitz nicht möglich gewesen" (S. 8).
Der Autor will in seinem Buch gegen die Verleugnung dieser Tatsache an argumentieren. Dazu wirft er zunächst einen Blick in das Neue Testament, wo Juden nicht nur als Gottesmörder, sondern auch als Teufelsanhänger dargestellt wurden. Dem folgen Ausführungen zum Judenhass bei den frühen Kirchenvätern, in den Heiligen Konzilien und während der verschiedenen Kreuzzüge. Auch Martin Luthers Forderungen nach einer Verbrennung der Synagogen und Vertreibung der Juden, die bei ihm zu einem Maßnahmenkatalog gehörten, finden kritische Aufmerksamkeit: "In der Tat kann man dieses Sieben-Punkte-Programm Luthers als ein Drehbuch zum Holocaust sehen. Die Nazis haben es Punkt für Punkt umgesetzt. Genau vierhundert Jahre vor Beginn der Judenvernichtung durch die Nazis, liefert Luther ein Rechtfertigungspotential zur Judenverfolgung, das Hitler gerne aufgenommen hat" (S. 33). Danach springt der Autor nach Ausführungen zum Antisemitismus im 19. Jahrhundert direkt in das 20. Jahrhundert.
Er deutet Hitler, Goebbels und Himmler als "katholische Judenhasser" (S. 56) und erinnert an die Unterstützung der Nationalsozialisten durch die christlichen Kirchen. Auch das Schweigen von Papst Pius XII. und die NS-Hilfe für Kriegsverbrecher nach 1945 werden thematisiert. Schlotz verweist in diesem Kontext auf ein weniger bekanntes Adenauer-Zitat: "Ich glaube, dass, wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tage öffentlich von den Kanzeln aus dagegen Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhüten können. Das ist nicht geschehen und dafür gibt es keine Entschuldigung" (S. 99). Nach 1945 setzte die Verdrängung ein. Darum geht es in den letzten Abschnitten des Buchs. Deutlich wird darin auch, dass die gemeinte Geschichte noch nicht zu Ende ist: 2007 erlaubte Benedikt XVI. wieder die Karfreitagsfürbitte in seiner traditionellen antisemitischen Liturgieform, ohne diesen geschichtlichen wie theologischen Kontext kritischer zu reflektieren. Das positive Bild von der christlichen Leitkultur muss für den Autor auch darauf bezogen überdacht werden.
Die Einschätzung über die Schrift fällt ambivalent aus: Einerseits hat der Autor souverän deutlich gemacht, dass die Rede von einem "christlich-jüdischen Abendland" ein historisches Zerrbild ist und die Geschichte des Christentums in hohem Maße auch von Judenfeindschaft geprägt war. Deutlich wurde dabei: Es gibt in dieser Hinsicht eine Relativierung und Verdrängung. Dazu gehört auch die diesbezüglich genutzte Unterscheidung von einem nur religiösen "Antijudaismus" und einem dann rassistischen "Antisemitismus". Schlotz gelingt es auf engem Raum die wichtigsten Informationen in aufklärerischem Sinne zusammenzutragen. Andererseits argumentiert der Autor aber allzu eindimensional: Wenn er wie im Buchtitel eine gerade Linie von "Golgatha nach Auschwitz" zieht und die Entwicklung der mittelalterlichen Judenfeindschaft mit "Der Countdown zum Holocaust läuft weiter" (S. 37) überschreibt, entsteht ein monokausales und schiefes Bild. Der christliche Antisemitismus spielte eine Rolle, aber nicht für die direkte Vernichtungspolitik.
Reinhold Schlotz, Von Golgatha nach Auschwitz. Die Mitverantwortung des Christentums für den Holocaust, Aschaffenburg 2016 (Alibri-Verlag), 125 S., ISBN 978-3-86569-242-9, 10,00 Euro
4 Kommentare
Kommentare
Norbert Schönecker am Permanenter Link
Eine Rede von einem "christlich-jüdischen Abendland" ist tatsächlich zumindest irreführend. Die Juden waren in Europa die meiste Zeit der Geschichte zwar anwesend, aber ein Fremdkörper.
Eine Judenfeindlichkeit der Kirche ist auch nicht zu leugnen. Teils sogar ganz massiv bei verschiedenen Kreuzzugspredigten, die knapp an Mordaufrufe grenzen. (z.B. Petrus Venerabilis)
Eine seriöse historische Berichterstattung wird aber auch kirchlichen Schützer der Juden wie Berhard von Clairvaux (wenn auch mit heute höchst anstößigen Argumenten) oder die Bischöfe von Mainz, Trier und Köln nicht vergessen. Es fällt auf, dass der Judenhass beim einfachen Volk meistens größer war als bei den Bischöfen und Theologen.
Eine echt christlich-jüdische Mischkultur kann ich (als historischer Laie) allenfalls knapp vor den Weltkriegen in manchen Städten (im deutschsprachigen Raum: Wien, Berlin, Prag) erkennen.
Historisch knapp vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird man den bedeutenden christlichsozialen Wiener Bürgermeister Karl Lueger nicht vergessen dürfen, der bekennend populistisch-antisemitisch war (aber daneben für Wien sehr viel Gutes getan hat). Mit seinem Antisemitismus hat er Hitler direkt beeinflusst.
Man wird aber auch die niederländischen Bischöfe nicht vergessen, die sich geschlossen gegen die Deportationen der Juden ausgesprochen haben - leider mit verheerenden Folgen für die Juden. Hier war kein positiver Effekt erkennbar, ganz im Gegenteil.
Fazit: Ich stimme Pfahl-Traughbers Schlusssatz zu.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Spielte *keine* Rolle für die direkte Vernichtungspolitik?
Was denn sonst?
Vielleicht dies:
Dieser sehr klaren Rolle ist nichts hinzuzufügen.
Rudi Knoth am Permanenter Link
Zitat: Deutlich wurde dabei: Es gibt in dieser Hinsicht eine Relativierung und Verdrängung.
Nun das sehe ich etwas anders. für den christlichen Antijudaismus ist der Jude durch die Taufe kein Jude mehr sondern ein Christ wie die anderen Christen. Beim rassistischen Antisemitismus bleibt der getaufte Jude immer noch ein Jude.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Beim rassistischen Antisemitismus bleibt der getaufte Jude immer noch ein Jude."
So wie für Luther, der auch getauften Juden misstraute. Für ihn waren Juden "eine verdorbene Menschenart". Sicher gab und gibt es einen theologisch "begründeten" Antijudaismus - ganz einfach, weil die Gründer des Christentums in dem Wahn lebten, ihre Häresie sei in Wahrheit die legitime Nachfolgerin der "alten Juden". Hier ging es im Kern darum, dass die "neuen Juden" Jesus einfach nicht als Messias anerkennen wollten.
Doch viele Angriffe z.B. durch Sankt Augustinus, dessen folgsamer Schüler Jahrhunderte später Luther wurde, zeigten eindeutig rassistische Motive und Ausdrucksformen. Dadurch verschwimmt die Grenze zwischen Antijudaismus und Antisemitismus im Christentum derart, dass man kaum noch sauber trennen kann. Vor allem bleibt auch theologischer Antijudaismus intolerant und wenig nächstenlieb.
Daher kann ich auch problemlos die Linie zwischen Golgatha und Auschwitz ziehen. Viele "Links" auf diesem Weg sind keineswegs "missing", sondern klar erkennbar. Leute wie Luther haben dieser menschenverachtenden Grundeinstellung immer wieder neue Energie gegeben und weitergetragen.