Rezension

"Die Grenzen der Toleranz"

"Verhindere, was nicht zu tolerieren ist; schwäche, was nur zu tolerieren ist und stärke, was zu akzeptieren ist!" Michael Schmidt-Salomon beschreibt – wie immer tiefgründig, knapp und klar -, worauf es im Zeitalter des "Empörialismus", des "Sich-Verschließens", des Neokonservativismus und Neonationalismus ankommt: Auf das Verstehen des Begriffes Toleranz in seinen verschiedenen Aspekten und auf den daraus abzuleitenden Umgang mit Konflikten in sozialen Systemen sowie auch auf die Verteidigung einer - nicht zuletzt auf Toleranz und Akzeptanz beruhenden - offenen Gesellschaft durch Rationalität hin zu Freiheit, Gleichheit, Individualität und Säkularität!

Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Umbrüche; öffentliche und private Debatten changieren im Hinblick auf die aktuellen Probleme Europas und der Welt zwischen optimistischem "wir schaffen das" und pessimistischen Bedrohungs- und Untergangsszenarien – letztere sehr häufig angestachelt von Demagogen, die mit halben Wahrheiten Stimmungsmache und Polarisierung betreiben und damit leider auch ganze Erfolge erzielen.

Bis vor wenigen Jahren wurde Toleranz in Westeuropa als begrüßenswerte Tugend gepriesen; als Folge der Terroranschläge wie auch von Flüchtlingsbewegungen und der zu beobachtenden Entwicklung antidemokratisch strukturierter Parallelgesellschaften wird der Begriff in jüngster Zeit immer häufiger auch als Ausdruck von Opportunismus, Kulturrelativismus, Feigheit und Ignoranz kritisiert. Die Frage nach den Grenzen von Belastbarkeit und dem, was in einer offenen Gesellschaft toleriert werden muss, und dem, was nicht mehr toleriert werden darf, drängt sich auch gutmeinenden, hilfsbereiten Menschen auf. (Karl Popper hatte bereits 1945 in seinem Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" auf das "Paradoxon der Toleranz" hingewiesen: Uneingeschränkte Toleranz führt zu ihrem Verschwinden, Intoleranz sollte nicht geduldet werden.)

Michael Schmidt-Salomon beleuchtet in weitem Bogen, beginnend bei der Geschichte, weiterführend über die aktuelle Islamdebatte (mit Darstellung der Positionen wichtiger Proponenten), die verschiedensten Aspekte und Bereiche von Toleranz bis hin zu den Grundprinzipien einer offenen Gesellschaft, die es gegen viele Feinde zu verteidigen gilt. Eine doppelte Grenze der Toleranz verläuft zwischen dem, was toleriert werden muss und dem, was nicht mehr toleriert werden darf, wie auch zwischen dem, was toleriert werden muss und dem, was akzeptiert werden kann. Tolerieren heißt dulden, akzeptieren heißt Anerkennung und Respekt. In einer offenen Gesellschaft muss das Akzeptierbare gestärkt und das Nur-Tolerierbare (z.B. schwulenfeindliche Ressentiments) durch "zivile Verachtung", die sich gegen Meinungen, Glaubensinhalte und Werte, nicht aber gegen Menschen richtet, geschwächt werden. Das Nicht-mehr-Tolerierbare (z.B. Gewaltaufrufe) ist mit allen zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln zu unterbinden.

Zu den Grundprinzipien Freiheit und Gleichheit in einer offenen Gesellschaft gehören auch Individualität und Säkularität. Letztere basiert darauf, dass die Werte, die das Zusammenleben ordnen, von keiner "höheren Instanz" vorgegeben sind und von den gesellschaftlichen Akteuren fair ausgehandelt werden müssen. Rechtsnormen dürfen nicht auf religiösen Überzeugungen beruhen und der weltanschaulich neutrale Staat darf keine Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft privilegieren oder diskriminieren – er hat aber dafür zu sorgen, dass seine Rechtsnormen innerhalb aller Gemeinschaften beachtet werden. Aus dem Studium der Geschichte ergibt sich, dass es ohne säkulare Gesellschaftsnormen, ohne konsequente Trennung von Staat und Religion, auf Dauer nirgends Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit geben kann (S. 152).

Individualität als ebenfalls wesentliches Grundprinzip einer offenen Gesellschaft bedeutet, dass der Einzelne in seiner Würde, nicht aber die Familie, die Ethnie, oder die Religionsgemeinschaft im Mittelpunkt der Grund- und Menschenrechte steht. Kollektiven zuzuweisende Rechte sind stets vom Individuum her zu betrachten (die Feinde einer offenen Gesellschaft setzen das Kollektiv an die erste Stelle und definieren von diesem aus das Individuum).

Ein wichtiges Anliegen des Buches ist, nicht nur die Begrifflichkeit und den Wert echter (bzw. den Unwert falscher) Toleranz und die Notwendigkeit einer offenen Gesellschaft für ein gedeihliches (Zusammen-) Leben zu erläutern, sondern auch, zu deren Stärkung, bzw. Verteidigung, Wege aufzuzeigen. Neben Freiheit und Gleichheit, neben Selbstbestimmung statt Gruppenzwang und neben Säkularismus gehört dazu auch die unabdingbare Forderung nach "Bildung für alle"!

Ignoranz verhindert Toleranz! Es ist beispielsweise sehr bedauerlich (und nicht hinzunehmen), dass die Evolutionstheorie als wichtigste Grundlage des modernen Weltbildes und als wirksamstes Gegengift gegen fundamentalistische Wahnideen, wie auch als wichtiger Schritt zu einer effektiven Integrationspolitik, in manchen Bildungseinrichtungen stiefmütterlich behandelt wird (so lehnen z.B. sogar in Deutschland Lehramtsstudenten muslimischen Glaubens die Evolutionstheorie mehrheitlich ab). Die Stärke einer offenen Gesellschaft liegt auf dem Gebiet der Bildung, die entscheidende Schwäche ihrer Feinde im Mangel an Wissen und Bildung (wenn Islamisten sich und andere in die Luft sprengen, liegt es vor allem am Fehlen von Wissen und Einfühlungsvermögen). Bildung befreit nicht nur aus den Zwängen irrationaler und freiheitsfeindlicher Ideologien, sondern ruft auch ins Bewusstsein, wofür es sich in einer offenen Gesellschaft zu streiten lohnt: Denn nur, wer seine eigenen Werte versteht, ist auch in der Lage, sie zu verteidigen (S. 170).

Ein wichtiges Kapitel zur Verteidigung einer offenen Gesellschaft trägt die Überschrift: "Abschreckung durch Freiheit!" Darf eine offene Gesellschaft Abschreckungsmassnahmen ergreifen, um die Zuwanderung von Menschen zu behindern, die die Grundwerte von Rationalität, Liberalität, Egalität, Individualität und Säkularität ablehnen und dadurch gefährden? Selbstverständlich darf sie das, sie muss allerdings peinlich genau darauf achten, dass derartige Maßnahmen ihren eigenen Prinzipien entsprechen – und hier kommt das Konzept "Abschreckung durch Freiheit" ins Spiel (S. 176). Es muss potentiellen Flüchtlingen und Zuwanderern in ihren Heimatländern klar gemacht werden, was es bedeutet, dass Europa den Prinzipien der offenen Gesellschaft folgt (Religionen rangieren unter dem Gesetz, Gleichheit von Mann und Frau, Homosexuelle besitzen gleiche Rechte wie Heterosexuelle, Kinder dürfen nicht geschlagen werden, Religionskritik ist zulässig usw.). Wer nicht will, dass seine Kinder in solch einer Gesellschaft aufwachsen, muss sein Exil anderswo suchen. Eine offene Gesellschaft sollte ihre Werte nicht schamhaft verhüllen (wie es z.B. die italienische Regierung bei den nackten antiken Statuen anlässlich des Besuches des iranischen Präsidenten getan hat), sondern sich selbstbewusst zu ihnen bekennen; sie sind die bedeutendsten Früchte und wichtigsten Motoren des zivilisatorischen Fortschritts unserer Spezies (S. 178).

Ein mit persönlichen Anmerkungen des Autors sowie auch mit der Darstellung aktueller Diskussionen angereichertes, spannend lesbares, uneingeschränkt empfehlenswertes Buch, das gerade in Zeiten von Unsicherheit und hohen Herausforderungen (mit echten und vermeintlichen Bedrohungen), Klarheit zu grundlegenden Fragen unseres Umgangs mit Werten, Umbrüchen und Veränderungen unserer Lebenswelt vermittelt und gleichzeitig Wege zu deren Bewältigung aufzeigt.

Michael Schmidt-Salomon, "Die Grenzen der Toleranz. Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen", Piper 2016, 224 Seiten, ISBN: 978-3-492-31031-4, 10,00 Euro (Taschenbuch), 9,99 Euro (eBook)

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