Der Philosoph und Publizist Michael Schmidt-Salomon legt mit "Die Grenzen der Toleranz. Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen" einen Kommentar zur aktuellen Islam-Debatte vor, welcher aber auch Grundsatzfragen für eine offene Gesellschaft erörtert. Der Autor nimmt dabei eine differenzierte Position ein und plädiert für eine rational entwickelte Auffassung von Toleranz, womit man es zwar nicht mit einem hochphilosophischen Buch, aber einem beachtenswerten Debattenbeitrag zu tun hat.
Eine Demokratie muss viele Positionen zulassen, will sie nicht in Konflikt mit ihren Werten kommen. Wenn sie aber alle Praktiken erlaubt, dann gefährdet sie ihre Existenz. Das daraus entstehende "demokratische Dilemma" kann gut an der Einstellung gegenüber der Toleranz verdeutlicht werden.
Entgegen eines Alltagsverständnisses geht es nicht um die Duldung von allen Positionen. Eine reflektierte Auffassung fragt immer nach der Grenzziehung bei der Toleranz. Was findet Anerkennung und was findet keine Anerkennung? Aber auch: Was führt zu Ablehnung, aber gleichwohl auch zur Duldung? Diese doppelte Frage an die Toleranz prägt das neueste Buch des Philosophen und Publizisten Michael Schmidt-Salomon, der für die Giordano Bruno-Stiftung als Vorstandsprecher arbeitet: "Die Grenzen der Toleranz. Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen". Die gemeinte Differenzierung findet man indessen erst irgendwo in der Mitte, handelt es sich doch bezogen auf die inhaltliche Ausrichtung um ein etwas fragmentarisches Werk.
Es besteht aus drei Teilen: Zunächst geht der Autor auf die gegenwärtige Islamdebatte ein, welche sich zwischen den extremen Auffassungen vom "Feindbild Islam" und "Feindbild Islamkritik" bewegt. Gekonnt wird darauf hingewiesen, dass derartige Einseitigkeiten für eine verzerrte Sicht der Wirklichkeit stehen und eher Ausdruck des "Empörialismus" als kontinuierlichem Unmutsempfinden sind. Schmidt-Salomon verdeutlicht hier, dass es sehr wohl zwischen differenzierter Islamkritik und fanatischer Muslimenfeindlichkeit bedeutende Unterschiede gibt. Er meint in diesem Kontext auch, Hamed Abdel-Samads Rede vom "islamischen Faschismus" verteidigen zu müssen. Dies gelingt indessen nicht, ignoriert der Gemeinte doch, dass es grundlegende inhaltliche Differenzen und nur formale strukturelle Gemeinsamkeiten gibt. Danach erörtert der Autor die Möglichkeit eines islamischen Humanismus und beklagt eine verhinderte Streitkultur zum Thema. Gleichzeitig sieht er die Gefahr, dass die offene Gesellschaft von beiden Seiten unter Druck gesetzt wird.
Das nächste Kapitel liefert eine kurze Geschichte der Toleranz, wobei die Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart nachgezeichnet wird. Schmidt-Salomon nimmt erst hier eine notwendige Differenzierung vor, müssten doch zwei Grenzen bei der Toleranz gezogen werden: "Die erste Grenze verläuft ... zwischen dem, was toleriert werden muss, und dem, was nicht mehr toleriert werden darf. Die zweite Grenze hingegen markiert den Unterschied zwischen dem, was toleriert werden muss, und dem, was akzeptiert werden kann. Scheidet die erste Grenze das Tolerierbare vom Nicht-mehr-Tolerierbaren, trennt die zweite Grenze Toleranz von Akzeptanz" (S. 81). Die neuere philosophische Debatte darüber hängt eng mit Rainer Forsts Schriften zusammen. Diese finden zwar kurze Erwähnung, aber es erfolgt keine nähere Reflexion. Gleichwohl erlaubt die erwähnte Aufteilung von Fragestellungen eine genaue Unterscheidung. Das damit einhergehende Differenzierungsvermögen, das der Autor zutreffend einfordert, fehlt indessen in der öffentlichen Kontroverse um solche Themen.
Und schließlich geht es noch um die Prinzipien der offenen Gesellschaft, die von deren Namensgeber Karl R. Popper abgeleitet werden: Egalitarismus, Individualismus und Liberalismus. Ergänzt wird hier noch der Säkularismus. Denn: "Nur ein säkularer, weltanschaulich neutraler Staat kann einen nachhaltigen Frieden unter den Religionen herstellen und seinen Bürgerinnen und Bürgern Freiheit und Gleichheit garantieren" (S. 152). Diese Auffassung gilt auch und gerade gegenüber den Muslimen. Schmidt-Salomon differenziert hier genau, es geht ihm weder um Laizismus noch um Religionsfeindlichkeit. Darüber hinaus macht er auf die Notwendigkeit von Normen und Regeln eines demokratischen Verfassungsstaates aufmerksam.
In seiner differenzierten und werteorientierten Betrachtung liegen bei all dem die Stärken der Veröffentlichung. Es handelt sich um kein hochphilosophisches Buch und auch nicht um eine politische Programmschrift, aber um einen beachtenswerten Beitrag zum gegenwärtigen "Toleranz"-Verständnis.
Michael Schmidt-Salomon, Die Grenzen der Toleranz. Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen, München 2016 (S. Piper-Verlag), 215 S., 10 Euro
1 Kommentar
Kommentare
Dr. Emmerich Lakatha am Permanenter Link
Sonderbar, dass ich am 31.10.16 der Erste bin, der zu eiem am 17.10.
Der Untertitel des Buchs „Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen“ stellte jedenfalls mich vor ein unerwartetes Rätsel: Was ist die offene Gesellschaft genau, die wir verteidigen sollen? Erst Seite 113-171 stellt die Prinzipein der offenen Gesellschaft vor, die da sind: "Freiheit und Gleichheit, Selbstbestimmung statt Gruppenzwang, Säkularismus ist die Lösung und Bildung für alle." Gehorsam, wie ich bin, begann ich nochmals auf S 113. Sehr interessant. Ich las von Karl Popper, von der Entstehungsgeschichte seines Buchs und dessen Bezeichnung: Endlich auf S 122 fand ich den erlösenden Satz: „Die offene Gesellschaft zu verteidigen heißt demnach, die Prinzipien des Liberalismus, Egalitarismus, Individualismus und Säkularismus zu stärken und bzw. den Einfluss von Paternalismus, zu schwächen. Dies klingt im ersten Moment vielleicht etwas kryptisch, ich hoffe jedoch, dass die nachfolgenden Kapitel verdeutlichen werden, was sich dahinter verbirgt.“ Also die Schnitzeljagd, zu erkennen, was ich so dringend verteidigen soll, geht weiter. Schließlich war ich auf S 171 angelangt. Der Abschnitt „ABSCHRECKUNG DURCH FREIHEIT“ trägt den Untertitel: „Wie wir die offene Gesellschaft verteidigen sollen“. Noch immer wird die große Unbekannte nicht erklärt. Erst Seite 177 öffnete mir die Augen. Dort wird die Freiheitsandrohung der offenen Gesellschaft abgedruckt. Aus ihr konnte ich das erste Mal im Buch erschließen, was sich MSS unter offener Gesellschaft vorstellt. Sie lautet: Oh Weh, Oh Weh! Dieses Zitat darf ich aus urheberrechtlichen Gründen nicht bringen. Es wäre ja ein Großes Zitat und würde nicht mit allen Einschränkungen harmonieren. So kann ich auch hier das große Geheimnis nicht lüften.
Ich kann nur verraten, dass es sich lohnt, das Buch zu lesen, gleich bei Seite 177 zu beginnen und dann mit dem Vorwort fortzufahren.