Im Gespräch

Interview mit Hamed Abdel-Samad: Ist der Islam noch zu retten?

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Hamed Abdel-Samad

Braucht der Islam einen Luther? Wie stehen die Chancen für eine feministische Revolution im Islam? Kann der Religionsunterricht die Diskursfähigkeit befördern? Braucht Deutschland eine Leitkultur? Über diese und andere Fragen sprach der hpd mit dem bekannten Islamkritiker und Politologen Hamed Abdel-Samad.

hpd: Gemeinsam mit dem Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide haben Sie zum Reformationsjubiläum ein neues Buch mit dem Titel "Ist der Islam noch zu retten? – Eine Streitschrift in 95 Thesen" veröffentlicht. Haben Sie eine Antwort auf die Frage, ob der Islam reformierbar ist?

Hamed Abdel-Samad: Mein Zugang zur Reform geht nicht über den Islam und die Neuinterpretation der Texte, sondern über das Denken der Muslime. Das ist für mich keine theoretische Sache, sondern Alltag. Denn ich bin täglich durch Diskussionen über meine Bücher und meine Internetsendung damit konfrontiert und sehe, wie Menschen ihre Denkweise ändern. Sie fallen dabei nicht zwangsläufig vom Glauben ab, aber sie stellen die Unantastbarkeit des Korans infrage und werden aufnahmefähiger für Kritik. So gesehen ist das Denken der Menschen reformierbar. Ich glaube aber nicht, dass der Islam als System, als Weltanschauung, als Gesellschaftsordnung oder als Buchreligion mit einem politischen Auftrag von sich aus reformierbar ist. Von außen kann er gedrängt werden, die Rolle in der Gesellschaft einzunehmen, die ihm zusteht, nämlich als Ratgeber und spirituelle Quelle.

Sie bezweifeln, dass es einen neuen Luther für den Islam bräuchte. Wieso?

Weil Luther wie ein Salafist war. Auch er wollte zurück zum Fundament der Religion, zurück zum Wortlaut der vermeintlich heiligen Schrift, um Missstände seiner Zeit zu beheben. Das ist aber genau der falsche Weg. Denn die Lösung kann niemals die Besinnung auf den Ursprung des Islam sein, sondern die Emanzipation von der Macht der Religion in der Gesellschaft.

Der Islam braucht also eher Menschen wie Diderot, La Mettrie und andere Aufklärer, die eine konsequente Religionskritik vorantreiben?

Genau! Es bräuchte auch Leute wie Erasmus von Rotterdam und Moses Mendelsohn, die eine Bildungsrevolution hervorgebracht haben. Es bräuchte schillernde Figuren wie Voltaire und andere Satiriker, die die religiösen Institutionen auf humorvolle Art und Weise kritisiert haben. Und es bräuchte sicher auch eine Coco Chanel, weil es eine feministische Bewegung braucht, die Frauen vom physischen und mentalen Korsett befreit.

Wie hoch schätzen Sie die Chance ein, dass sich eine feministische Revolution im Islam durchsetzen kann?

Auf individueller Ebene findet das jeden Tag statt. Allerdings wagen Frauen in der islamischen Welt weitaus mehr, als Muslime in Europa. So gehen muslimische Frauen in Europa nicht auf die Straße, um gegen ein islamisches Kopftuchgebot zu demonstrieren, sondern protestieren gegen ein Gesetzesvorhaben, das ein Kopftuchverbot für Richterinnen vorsieht. Die gleiche Theologie, die das Kopftuch als religiöses Gebot betrachtet, verbietet einer Frau Richterin zu werden. Das ist absurd! Und dann kommt der österreichische Präsident und erklärt, dass der Tag kommen wird, an dem wir alle Frauen bitten müssen, ein Kopftuch zu tragen. Dahinter steckt ein hässlich autoritärer Gedanke, bei dem sich Grüne und Muslime manchmal treffen.

Gleichzeitig sehe ich etwas in der islamischen Welt, was mir Hoffnung macht. Es wächst gerade eine junge Generation nach, die nicht die üblichen theologischen Diskurse führt, sondern die vernünftig denkt und Traditionen nicht mehr als selbstverständlich ansieht.

Sie selbst veröffentlichen islamkritische Videobeiträge in Ihrem Sendeformat "Box of Islam". Die Kommentare von Zuschauern aus dem arabischen Raum sind meist sachlicher und differenzierter, als deutschsprachige Kommentare unter den Videos. Wie erklären Sie sich das?

In Europa gönnen sich viele Muslime noch den Luxus, ihre Religion als rein und perfekt zu mystifizieren und präsentieren sich als beleidigt, wenn man den Islam kritisiert. Die Lebenswirklichkeit in der islamischen Welt zeigt aber, dass der Islam massiv an der Misere beteiligt ist und nicht mehr mit der Lebenswirklichkeit der Menschen vereinbar ist. Deshalb ist dort der Wunsch nach Veränderung groß und ruft natürlich auch Gegenwehr hervor.

Europäische Muslime beschweren sich häufig über die Verletzung ihrer religiösen Gefühle, statt auf Argumente einzugehen. Man blockiert sofort mit dem Vorwurf des Rassismus und der Islamophobie. Diese Erpressungstaktik und Diskursunfähigkeit ist eine typische Reaktion. Dagegen versuche ich mit meinen Beiträgen vorzugehen.

Manche sind da anderer Meinung. Die Diskursunfähigkeit wird häufig damit erklärt, dass Muslime noch nicht für ehrliche Kritik bereit seien und man daher Rücksicht nehmen müsse…

Das ist ein Rassismus der gesenkten Erwartungshaltung. Und es ist wichtig, das immer wieder zu betonen. Meine Kritik richtet sich nicht gegen Muslime. Ich werfe Argumente in den Raum und erwarte, dass man mit Argumenten reagiert. Es ist nie förderlich, wenn man die Kategorie der Gefühle in der Diskussion anerkennt, denn damit zementiert man die Opferrolle von Muslimen. Das traurige ist, dass sich diese Diskursunfähigkeit nicht nur bei ungebildeten und jungen Menschen finden lässt, sondern auch bei Intellektuellen und Gelehrten, die als Autorität gelten.

Wie ließe sich die Diskursfähigkeit von jungen Menschen schulen? Ich gehe davon aus, dass Sie den Religionsunterricht für den falschen Weg halten?

Ja, ich bin für einen Religionskundeunterricht und gegen einen konfessionsgebundenen Religionsunterricht. Die Schule sollte nicht die Arbeit der Kirchen und Moscheen übernehmen, sondern ein Gegenangebot leisten, das den Schülern ein eigenes Urteil ermöglicht. Denn Kinder und Jugendliche sollten nicht von Glaubensüberzeugungen indoktriniert werden, sondern eine gewisse Distanz einnehmen können, um das Ganze von außen zu betrachten. Ein solcher Unterricht muss daher von einem Lehrer geleitet werden, der selbst neutral ist und nicht durch seine eigene Konfession eingeschränkt wird. Nur so ist ein kritischer Diskurs möglich.

Wir wissen zudem, dass nicht alle Lehrstühle für die Lehrerausbildung genauso weltoffen und liberal sind wie beispielsweise der von Mohanad Khorchide. Es gibt andere, die konservativ sind und wo sowohl der Lehrstuhlinhaber als auch viele seiner Schüler Anhänger von Erdogan sind. Die Islamverbände schicken ihre Kader in diese Lehrstühle, um sie zu übernehmen und dort ihre Theologie zu etablieren. Ihnen darf man keine Macht über den Schulunterricht geben.

Solange die Kirchen ihre Privilegien auch in der Bildungspolitik genießen, werden die Islamverbände sicher ähnliche Zugeständnisse fordern.

Ja, die Islamverbände verstecken sich hinter den Kirchen. Das ist das Problem. Die gesamte Sache mit dem institutionalisierten Islam wäre gelöst, wenn die Kirchen diese Privilegien nicht hätten. Ich verstehe, dass das schwierig sein wird aber wir müssen einen Weg finden und mehr Säkularismus wagen. Die Kirchen sollten sich aus der Politik, den Medien und der Wirtschaft zurückziehen.

Cover

In Ihrem neuen Buch fordern Sie, dass man den Koran von Kindern fernhalten sollte. Wie passt das mit einer Aufklärung über den Islam zusammen?

Im Islamkundeunterricht kann man natürlich sachlich mit dem Koran umgehen und mit ausgewählten Passagen arbeiten. Der Koran als Ganzes ist jedoch von erwachsenen Männern verfasst und spricht erwachsene Männer an. Er bearbeitet Themen wie Hölle, Qualen, Krieg und Strafe, die eine Angstpädagogik beinhalten und von Kindern nicht verarbeitet werden können. Mit bestimmten Passagen des Korans sollte daher ähnlich wie mit der Pornoabteilung in einer Videothek umgegangen werden: Eintritt ab 18.

Der Islam ist regelmäßig Gegenstand der Debatte um die sogenannte "Leitkultur". Wie blicken Sie auf diese Debatte?

Der Humanismus ist die Lösung. Wir sollten die Leute nicht ethnisieren, sondern mit Menschen als Menschen umgehen. Es muss erkannt werden, dass Integration nicht über die Religion geht, sondern manchmal sogar gegen die Religion. Ob es dafür einen Zehn-Punkte-Plan mit Händeschütteln und Co. braucht, wage ich zu bezweifeln. Aber es ändert nichts daran, dass wir tatsächlich neue Orientierung brauchen. Dafür muss man eine Wertedebatte führen, die nicht gegen Muslime, sondern auch mit Muslimen geführt wird. Wir müssen uns fragen, welche Werte wir vertreten, wenn Angela Merkel aus Saudi-Arabien zurückkommt und Raif Badawi immer noch im Gefängnis sitzt.


Die Streitschrift "Ist der Islam noch zu retten? – Eine Streitschrift in 95 Thesen" erschien beim Droemer Knaur Verlag und kostet 19,99 Euro.