Sitte & Anstand: Geschichten aus dem Prenzlauer Berg

Kalle Rummenigge, der Götterknabe

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Uli Hoeneß (li.) mit Karl Heinz Rummenigge (re.) während der Siegesfeier des FC-Bayern im Münchner Rathaus 2014

Wo zu viel Geld im Spiel ist, verformt sich das Denken. Da verformt sich auch die Moral. Viel Geld zu haben, löst viel Glück aus und auch viel Angst, wer wüsste das besser als die Menschen auf Planet Erbe? Kalle Rummenigge ist gefühlt einer von hier.

Fußball war einmal sein Lebensglück, aber eigentlich war dann doch nur das Gewinnen sein Lebensglück, und als er nach der Kickerkarriere ins Funktionärswesen einstieg, konnte er sich nichts anderes vorstellen, als dass er immer und immer der Sieger zu sein habe: eine vergängliche Seligkeit, die in seiner westfälisch-ungerührten Auftragskillermiene auch nie aufschien, falls er sie je noch empfunden haben sollte.

Kalle Rummenigge war ein toller Fußballer, trickreich, mitreißend, geküsst vom Erfolg. Welches Gift dieser Kuss mit sich brachte, erkannte der jubelnde blonde Kalle nie, wenn er Tor um Tor für den FC Bayern schoss, den mit Abstand erfolgreichsten aller deutschen Fußballvereine. Er war ein Götterknabe, stand über den anderen Kickern, über den Fans, über den Menschen. Jahr um Jahr reckte er die Meisterschale in die Höhe, und als er eines Tages von München nach Mailand wechselte, gab es nur einen Spieler im Universum, der teurer war als er: Diego Maradona, die Hand Gottes.

Wie geht es weiter nach einer solchen Karriere? Man ist ja als gealterter Weltstar trotzdem immer noch ein ganz junger Mensch von Mitte Dreißig. Maradona stürzte ab mit Schmackes, wurde zum Kokser und zur Witzfigur. Der Westfale Rummenigge muss sich vorgenommen haben, nie, nie wieder auch nur einen halben Meter herunterzukommen von seinem Wolkenthron, und so wurde er zum Ingenieur der humorlosesten, gnadenlosesten Siegmaschine, die der deutsche Fußball je gekannt hat, des FC Bayern, der mit aller Macht die Nähe zum Kapital und zur Politik suchte und dem keine Fiesheit zu fies war, um Konkurrenz umzukicken und niederzuhalten.

Die Transferpolitik der Münchner wurde berüchtigt. Stets waren sie darum bemüht, nicht nur die eigene Mannschaft sinnvoll zu verstärken, sondern auch gezielt den nächsten Konkurrenten kaputt zu machen: Freude am Spiel, Spaß am Wettbewerb? Nicht mit den Bayern. Es war dies ein galliges Kriegsspiel, und wo Kalle Rummenigge einst mit seinen Finten die Gegner vernaschen und das Publikum bezaubern konnte, gab es für ihn nicht viel mehr zu tun als: Geld ranschaffen. Connections machen, Ellbogen ausfahren. Das Schöne am Spiel ging verloren, allein die Nickligkeiten blieben als Handlungsoption. Die höchste Eleganz, die sich erreichen ließ, war wohl die sichere Ankunft auf dem Parkett der internationalen Finanz- und Geschäftswelt. Kalle Rummenigge wird im Glanz und im Luxus einen Abglanz der vergangenen Herrlichkeit erkannt haben, die ihn, den rotwangigen jungen Spieler, einst ausmachte und für die er geliebt worden war.

Kalle Rummenigges Wahrnehmung der Welt, so kann man annehmen, verformte sich, je höher er stieg: Er wurde zum Machtbolzen auf nationaler und europäischer Ebene, er kumpelte mit den exorbitant reichen Chefs von Katar und machte sie zu Partnern seines Vereins – Menschenrechtsbedenken? Kein Thema. Kalle Rummenigge landete im Februar 2013, vom Himmel her kommend, auf bayerischem Boden und hatte vermutlich gar keinen Begriff davon, dass er mit seinen zwei geschenkten Rolex-Uhren aus Katar soeben zum Steuerbetrüger geworden war. Sein Denken hatte sich längst dem eigenen Dasein angepasst, und wenn er je eine Ethik besessen haben sollte, so war sie längst mit dem Erfolgsdenken und dem Geldstreben verschmolzen: Kritisierte man seinen Verein, so berief er sich in höchster Empörung auf das Grundgesetz. Kritisierten Fans das Hoffenheimer Rummenigge-Pendant, den Erfolgskäufer Hopp, so stand Rummenigge mit ostentativ betretener Miene auf dem Stadionrasen herum und gab sich betroffen, als hätten die bösen Fans soeben mindestens einen Völkermord begangen, er sprach, ausgerechnet er, die Ironie nicht bemerkend, von den eigenen Anhängern als "das hässliche Gesicht des FC Bayern", und Kalle Rummenigge, meinte das alles durchaus ernst. Bierernst. Heilig ernst.

Als zufälliger Bewohner von Planet Erbe, hier in Prenzlauer Berg, kennt man diesen Bierernst ganz gut: Tag für Tag spricht er den reichen, eigentlich sorgenfreien Prenzl-Eltern aus dem Gesicht, wenn sie Carl-Casimir (4) seinen Sturzhelm aufsetzen, wenn sie im Veganshop minutenlang alle Zutaten durchlesen, wenn sie dem Paketboten sagen, er möchte doch seinen Wagen zwei Meter weiter vorne parken, man habe dann bessere Aussicht vom Straßencafé. Die haben Geld, die könnten das Leben genießen, warum entspannen die sich nicht? So denkt man. Man denkt: Er war doch so ein mitreißender, junger, rotwangiger blonder Kicker. Ist es nicht ein wenig schade um ihn? Für Kalle Rummenigge aber kommt wohl jede Hilfe zu spät. Gerade ist er wieder mit einer seiner Meckerattacken auffällig geworden: Wegen der weltweiten Ausnahmekrise Corona hat ein Fernsehsender sich völlig nachvollziehbar auf höhere Gewalt berufen. Hat eine Sonderkündigungsklausel gezückt. Und beschlossen, für die nicht erbrachte Leistung der Bundesliga-Fußballspiele eben auch nicht zu zahlen. Kalle Rummenigge, der gefühlte Herr über das Grundgesetz, der verurteilte Steuerbetrüger, hat dafür einen Begriff gefunden, der, wenn man ihn liest, fast wieder ein wenig traurig macht: "unanständig".

Unanständig? Na klar: Kalle Rummenigge und seinem Verein geht viel Knete durch die Lappen. Das ärgert ihn. Aber wie weit muss man kommen im Leben, wenn man die guten Sitten, die Beziehungen zwischen den Menschen, den Anstand also, verwechselt mit Geld?

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