Luthers Freiheit des inneren Glaubens ist das Gegenteil von dem, wie wir heute Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung verstehen. Dem fundamentalistischen Reformator zufolge entscheidet allen die göttliche Gnade über Heil oder Verdammnis. Luthers Judenhass ist sprichwörtlich und wird heute gern als doch hinreichend bekannt abgetan – ein Zeitgeistphänomen eben, nicht der weiteren Rede wert. Doch erweist sich der Theologe in seiner Studierstube – durch Wissenschaftsfeindlichkeit gepaart mit Teufels- und Hexenglaube – als Mann des Mittelalters. Längst gibt es zu seiner Zeit – unter den Katholiken – humanistischen Geist, weltoffene Kultur, neue Entdeckungen und gesellschaftskritische Bestrebungen. Was seinen Judenvernichtungswahn über die Jahrhunderte so brandgefährlich machte: Es war sein gleichzeitiges absolutes Festhalten am Obrigkeitsdenken, an der hierarchisch-ständischen Herrschaftsstruktur.
In Luthers Denken können der unbedingte Glaube an die Wahrheit der Bibel und die von ihm sogenannte "Hure Vernunft" nicht zusammenfinden. Das neue astronomische Weltbild des Kopernikus lehnt er verächtlich mit erschreckender Ignoranz ab: Dass sich die Erde um die Sonne drehe, widerspreche schließlich einer bestimmten Stelle in der Bibel, wo doch eindeutig vom Aufhalten der Sonne die Rede sei. Eines der dunkelsten Kapitel des Reformation, Luthers mörderischen Antisemitismus, wird auch von Margot Käßmann, der Botschafterin des Lutherjahres, nicht verschwiegen. Sie räumt ein, seine Textstellen lieferten ein "abschreckendes Beispiel christlicher Judenfeindschaft". Ja, diese entsprach dem unangefochtenen Zeitgeist, zu dem der unerschütterliche Glaube an den Christengott ebenso gehörte wie der an die absolut notwendige Regentschaft von Fürsten, Königen oder Kaisern.
Davon war auch ein Humanist wie Luthers Zeitgenosse Erasmus von Rotterdam nicht frei. Der an sich auf Ausgleich bemühte Gelehrte war verärgert über Papst Leo X, der die Veröffentlichung des Talmud im Rahmen hebräischer Bücher befördert hat. Im Einklang mit der seiner Meinung nach weiterentwickelten katholischen Geistestradition war Erasmus überzeugt, die Kirche vor dem Rückfall in eine jüdischen Ritualkultur ("leere Erfüllung" von Vorschriften aller Art) und in einen Anachronismus warnen zu müssen.
Pico della Mirandola und die Renaissance – Gegenmodelle zur Reformation
Andere Humanisten zeigten sich vorurteilsfreier und studierten Hebräisch eben nicht nur (wie Luther) zum Zweck der Bibelübersetzung, sondern aus Neugier auch auf den magischen Gehalt der Kabbala. Allen voran sei hier der visionäre und höchstbegabte Pico della Mirandola genannt. Der italienische Renaissance-Philosoph lernte u. a. auch die arabische, hebräische und aramäische Sprache. Er war der erste christliche Gelehrte, der sich, ohne selbst jüdischer Abstammung zu sein, intensiv mit Schriften der Kabbala befasste und sie ins Lateinische übersetzte. Er wollte, ein gutes Vierteljahrhundert vor Luthers Thesenanschlag, mit 900 Thesen in Rom die interessierten Gelehrten auf eigene Kosten zu einem europäischen Kongress einladen, um dort zur Verständigung und zum Frieden aufzurufen. Sein Ziel war, eine Grundübereinstimmung philosophischer und religiöser Lehren aufzuzeigen, die auch alle im Christentum enthalten seien. Doch dazu kam es nicht – wegen der Verliebtheit in eine verheiratete Frau und der Verfolgung durch deren Ehemann, wobei der Renaissancefürst und Kunstmäzen Lorenzo de Medici ihn schließlich schützte und vor Gefängnis bewahrte.
Stellen wir uns demgegenüber den Rombesuch Luthers im Jahre 1510 (oder 1511) vor, wie er in Büßerhaltung knieend die Stufen des Lateran hinaufkriecht und völlig blind ist gegenüber Geist und Kunst der ihn umgebenden Hochrenaissance. Gerade malt Raffael und seine Schule die Räume (Stanzi) im 2. Stock des Vatikanpalastes aus zu theologisch heiligsten Wahrheiten, dem römischen Glaubenskosmos, Kardinals- und Gottestugenden – aber auch zur "Schule von Athen".
Das gleichnamige etwa 7,70 m breite Wandfresko verweist auf die herausragende Denkschule des antiken Griechenlandes als Ursprung der europäischen Kultur, Philosophie und Wissenschaft. Es zeigt in Zentralperspektive einen monumentalen, offenen Versammlungsraum. Eingebettet sind neben Aristoteles und Platon viele weitere Personen, denen teils zeitgenössische Gesichtszüge zugeordnet werden: Epikur, Pythagoras, Sokrates, Platon (verkörpert durch Leonardo da Vinci), Heraklid (verkörpert durch Michelangelo), Averroes (arabischer Philosoph und Theologe), Zenon (Stoische Schule), Ptolemäus (Zuordnung nicht eindeutig: Kopernikus?), Euklid oder Archimedes (verkörpert durch den Baumeister Bramante), Zarathustra (Zuordnung nicht eindeutig), Diogenes und andere mehr.
Luthers Teufelsgewissheit und Hexenwahn
Demgegenüber hockte Luther jahrelang in seiner dunkel-finsteren Klause. Er kann nur als Widerspruch in sich verstanden werden: Geplagt von abgründiger Angst vor Sündhaftigkeit und Verdammnis, gequält von Selbstzweifeln, die in unbeirrbare Rechthaberei münden, ausgezeichnet durch modern anmutende Zivilcourage und todesverachtenden Mut, mit dem er päpstliche Prunksucht und die geistige Hierarchie der Kirche anprangert. Er scheute sich nicht, die Herrschenden auf theologischer Basis zu kritisieren und immerhin wurde die Reichsacht gegen ihn verhängt. Von nun an galt als Straftat, Martin Luthers herausragendes Hauptwerk, das übersetzte Neue Testament, zu lesen, zu kennen, privat zu vertreten, öffentlich zu verbreiten. Allerdings führten weder dies noch die schlimmsten Vernichtungsfeldzüge gegen die bäuerliche Bevölkerung Luther dazu, den Herrschafts- und Unterdrückungsanspruch weltlicher Regenten auch nur anzukratzen – ganz im Gegenteil.
Luther kämpft gegen die Bevormundung aus Rom, deren Opportunismus, die Geldbeschaffung und die Scharlatanerie des Ablasshandels. Doch zugleich glaubt er mit großer Selbstverständlichkeit nicht nur an die reale Existenz des Teufels, der ihm mehrfach begegnet sein soll, sondern auch an Hexen: "Sie schaden vielfaltig, sie sollen getötet werden, nicht allein weil sie schaden, sondern auch, weil sie Umgang mit dem Satan haben", schreibt er über die Zauberinnen. Auch hier entspricht Luthers Auffassung dem Zeitgeist: Nämlich dem damals verbreiteten alltäglichen Aberglauben, gespeist aus mittelalterlicher Massenpsychose, beflügelt durch heute unvorstellbare Katastrophen im 14. Jahrhundert, wovon die Pest neben Überflutungen und Missernten nur eine apokalyptische Todesallgegenwärtigkeit ausmacht. Doch waren Hexenprozesse keine zwingende Folge eines magisch-mittelalterliche Weltbildes oder der katholischen Inquisition (nebenbei: Der Hexenwahn dieses Ausmaßes ist eine westeuropäische Erscheinung). Zur massenhaften Verfolgung kam es erst, als die "reformierte" Kirche den verdammten Magieglauben in das frühneuzeitliche weltliche Strafrecht zu übertragen vermochte. Vor allem mit politischer Verbreitung der Reformation werden Unzählige, vor allem Frauen – und selbst Kinder – Opfer von Verfolgung, Folter und Scheiterhaufen.
Religiöser Fundamentalismus als Brandbeschleuniger
Wir ahnen schon: Vernichtungsunheil und unvorstellbare Barbarei speisen sich aus radikal-fundamentalistischer, (welt-)kulturfeindlicher und blutrünstige Geistesperversion, die sich mit staatlicher Gewalt verbündet. Spätestens mit aufkommendem Nationalsozialismus rächt sich Luthers Idee von der Freiheit des Christenmenschen, der der Obrigkeit unbedingten Gehorsam schuldet. Im Wilhelminischen Reich war die preußisch-tugendhafte Untertänigkeit der Staatsbürger bis zum Exzess proklamiert und zwanghaft anerzogen worden. Hieß es erst bei Kriegsaufrufen "mit Gott für König und das Vaterland" konnte dies mit Leichtigkeit gewandelt werden zu "aus Liebe zum Führer für das Vaterland". Luthers religiös-fanatischer Antisemitismus ist zwar nicht rassisch motiviert – wie konnte er auch, der Rassismus ist quasi eine Erfindung erst des 19. Jahrhunderts. Doch hat das die Nazis – im Einklang mit den "Deutschen Christen" – nicht davon abgehalten, sich ausdrücklich auf ihn zu berufen. Noch in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen hat sich der Angeklagte Julius Streicher mit den Worten zu verteidigen versucht: "Dr. Martin Luther säße sicher heute an meiner Stelle auf der Anklagebank".
Luthers extremer Judenhass ist jedoch kein Ausrutscher eines sonst die Freiheit des Christenmenschen betonenden Denkers, sondern eines politischen Reaktionärs. Seine Schrift aus dem Jahre 1523 "Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei" bekräftige die Berechtigung jeder weltlichen Amts-und Militärführung. Sie basiert auf einer abstrakt ausgedachten Lehre von zwei völlig getrennten Reichen: Kirche und Religion seien für das Seelenheil und das Reich Gottes, weltliche Herrscher für die äußere Ordnung mit Schwert und Strafgesetz zuständig. Aus dem Reich Gottes, welches allein aus sich heraus durch den Heiligen Geist regiert wird, sind all jene ausgeschlossen, die im Geiste Luthers keine Christenmenschen sind und es auch nicht werden wollen. Unfromme, Andersgläubige und Böse müssen mit Gewalt zur gottgewollten Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und zum Schutz der Rechtgläubigen gezwungen werden.
Eine Irrlehre, die falscher und verhängnisvoller nicht sein kann – führt sie doch geradewegs umgekehrt zur Verquickung von religiösem Eiferertum, Vernichtungsphantasie und staatlicher Exekution. Gegen die Aufstände der Bauern, die sich auf ihn beriefen, reagierte Luther nahezu blindwütig: "Man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich... wie einen tollen Hund". Und das angesichts der, auch durch pure Ausbeutung unzählig an Hunger gestorbenen, völlig verelendeten Bevölkerung.
Luther selbst wurde bekanntlich geschützt v. a. von seinem gnadenreichen Landesherrn, dem Kurfürsten von Sachsen-Anhalt, Friedrich dem Weisen. Ihm zu Gefallen und in dessen Auftrag wurde er zum Stifter einer allgemein deutschen Schriftkultur. Er unterwarf den Menschen in reaktionärer Weise wieder der völligen Abhängigkeit von der Gnade Gottes ebenso wie dem Gottesgnadentum der weltliche Herrscher – die von ihm den Freibrief zur massenhaften Ausrottung erhielten.
Die Lehr von den zwei Reichen kann als "Sündenfall" Luthers gelten. Gegenüber den Bauern (ca. 80 % der damaligen Bevölkerung), die ihn als Rebellen zum Vorbild nahmen, wollte Luther weißmachen: Seine Auseinandersetzung mit der verhassten Obrigkeit sei ausschließlich theologischer Natur. Wie das? Waren geistliche Herren nicht auch das Volk auspressende Fürsten? Waren im Alltag nicht religiöse und gesellschaftspolitische Aspekte untrennbar miteinander verwoben? War nicht das eingeforderte "Naturrecht" auf allgemeine Nutzung von Wald und Gewässer sowie auf lebensnotwendige Abgabenreduzierung damals auch als "göttlich" begründet? War es nicht Luther gewesen, der mit brachialen Gewaltvokabeln gegen den römischen Klerus gepredigt hatte, dieser sollte im eigenen Blut ertränkt werden? Mit eben solchen setzte er schließlich seine Hasstiraden gegen die jüdische Bevölkerung fort.
Vorläufer moderner Hasstiraden
Es gibt viele Versuche, Luthers vernichtende Einstellung zu den Juden zwar nicht zu leugnen, aber doch zu relativieren bzw. isoliert zu sehen. Richtig ist, dass der Antisemitismus dem nicht zimperlichen Zeitgeist entsprach, der eben auch einen Sündenbock suchte und in einer andersartigen Bevölkerungsminderheit fand (Muslime gab es in Deutschen Landen bekanntlich nicht). Immer wieder wird die vorkapitalistische Zinswucherei der Juden (die von anderen Berufen weitgehend ausgeschlossen waren) als Grund für die – gelinge gesagt – Ressentiments gegen sie angeführt. Allerdings sind solche Anfeindungen doch den Schwachen und Minderprivilegierten der Gesellschaft vorbehalten und betrafen jedenfalls nicht die Geldgeschäfte der Augsburger Fugger.
Zuzugestehen ist, dass auch unter zeitgenössischen Humanisten eine nicht gerade judenfreundliche Stimmung vorherrschte (wenngleich es – weitgehend unbekannt gebliebene – Ausnahme unter europäisch-christlichen Gelehrten gab). Aber es ist eben der große Reformator Luther, der uns in diesem Jahr als "Leuchtturm des Glaubens und der Gewissensfreiheit" präsentiert wird. Seine Anhänger verteidigen ihn auch gern als "zweigeteilt". Demnach müsse nicht nur zwischen dem (abgemagert verknöcherten) jungen und dem (feist aufgeblähten) alten Luther unterschieden werden. Krankheitsbedingt auch durch maßlose Völlerei wütet der späte Reformator immer gnadenloser und feindseliger gegen Papisten und eben gegen Juden. Scharfsinnige theologische Argumente, dem Selbstzweifel und Kampf mit seinem Gott abgerungen, treten zurück. Zu seiner heutigen Verteidigung wird angeführt, im jeweiligen Kontext gesehen dürfe in der Person Luthers der (lautere) reformatorische Theologie der Gewissensfreiheit nicht mit dem (aggressiven) kirchenpolitischen Fürstenknecht in einen Topf geworfen werden.
Anfangs begegnete Luther den Juden durchaus mit Sympathie (und ihrer Bibelsprache mit Wertschätzung), hoffte er doch, auch sie vom rechten Glauben zu überzeugen. Wie auch Erasmus war Luther davon überzeugt, dass der jüdischen Glaubensgemeinschaft jedenfalls keine Zukunft beschieden sein könne. Wenn er, Luther, ihnen anders als zuvor die katholische Kirche nur die richtige Bibelauslegung zeige, würden sie sich bekehren lassen. Luther war sehr zuversichtlich, die Juden müssten dann von selbst einsehen, dass Jesus der Messias ist und es keinen nicht-christlichen geben könne. Als der Reformator jedoch auf die Widerspenstigkeit der jüdischen Glaubensgemeinschaft stieß, reagierte er mit zunehmender Aggressivität und Grausamkeit. Luther bedient sich derber Ausdrucksformen – man denke nur an seine Fäkalsprache zur Abbildung der Judensau an der Wittenberger Stadtkirche. Zwar ist er als sprachlicher Grobian durchaus ein Kind seiner Zeit – aber es gibt auch Distanzierungen seiner Anhänger wie etwa von damals prominenten Reformatoren in Zürich, Straßburg oder Nürnberg. Doch deren Namen sind vergessen– gefeiert und als Kirchengründer geehrt wird Martin Luther.
Gewissenstäter als schlimmster Volksverhetzer
Jedenfalls gab es unter den damaligen Theologen, Gelehrten und auch Regenten kaum einen, der seinen Judenhass so sprachgewaltig, wirkungsmächtig und letztendlich visionär zum Ausdruck brachte wie Luther. Dieser forderte 1543 in der Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" seinen Landesfürsten auf, alle Juden zu vertreiben, die Rabbiner sollten bei Todesstrafe nicht mehr lehren dürfen. Man solle "ihre Synagogen verbrennen und dem Erdboden gleichmachen, ihre Häuser zerstören", das "Geleit und die Straße ganz für sie aufheben" und "die jungen starken Juden und Jüdinnen zur Arbeit mit Flegel, Axt, Spaten, Rocken, Spindel zwingen". Es handele sich um ein schmarotzendes, geldgeiles und durchgiftetes Volk der Juden, "so diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz alles Unglück gewesen sind". Demnach wäre es sündhaft und gegen das eigene Gewissen, diesen Volksschädlingen nicht Einhalt zu gebieten.
Man kann darin unschwer das Programm erkennen, das die Nazis dann in die Tat umgesetzt haben. Aber auf heute bezogen kann eine geistige Verbindung zum rechtsreaktionären Pegidatum nicht in Abrede gestellt werden, wenn Luther hetzt: "Sie halten uns im eigenen Land gefangen … faulenzen, saufen, leben von unserem erarbeitetem Gut." Unabhängig davon muss Luther vorrangig als ein Mann der Reaktion und nicht als Dulder, sondern Brandstifter von vernichtenden Gewaltausbrüche gesehen werden. Eins war er mit Sicherheit nicht: ein Fürsprecher der Freiheit, Mündigkeit und Gerechtigkeit oder gar Vorläufer der Aufklärung, was Käßmann gern als die helle Seite des Reformators hervorheben möchte. Sie betonte mit Verkündung des Lutherjahres in der Zeit vom 18. April 2013: "Der Gedanke der Freiheit war und ist für die Kirche der Reformation von zentraler Bedeutung." Solche Freiheit berühre zuallererst Glaubensfragen - niemand kann mir sagen, was "richtiger" Glaube ist, "sondern ich selbst muss lesen, denken, fragen" - daraus aber erst, meint Käßmann, "entsteht die Freiheit des Gewissens".
17 Kommentare
Kommentare
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ein sehr guter Artikel, der Luther ausgewogen und doch deutlich präsentiert.
Eine kleine Anmerkung kann ich mir aber nicht verkneifen:
"Luthers religiös-fanatischer Antisemitismus ist zwar nicht rassisch motiviert – wie konnte er auch, der Rassismus ist quasi eine Erfindung erst des 19. Jahrhunderts."
Ich bin durchaus der Meinung, dass Luther nicht nur rassisch, sondern sogar rassistisch argumentierte. Und ich bin mit dieser Auffassung nicht allein. Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann nennt Luthers Argumentation "pro-rassistisch" und selbst die Jubiläumsausgabe der Luther-Bibel 2016 schreibt im einleitenden Text über Luther: "In seiner Polemik greift Luther auch Klischees auf, die von den Juden als einer verdorbenen Menschenart reden, ..." (S. 29)
Luther sah die Juden als Einheit. Er differenzierte nicht - außer zwischen den "guten" Juden (wie z.B. Mose, den er aber praktischerweise gleich zum Christen, mehr noch: zum Lehrer der Christen erhebt) und den "halsstarrigen" Juden, die einfach nicht erkennen woll(t)en, dass Jesus nicht nur bereits im gesamten (!) AT angekündigt wurde, sondern kam, starb und in den Himmel schwebte.
Der zentrale Irrtum Luthers ist dabei der generelle Irrtum aller Monotheismen bis heute: Da es nur einen "Gott" gibt, kann es nur eine heilige Schrift geben und natürlich nur eine Religion. Bereits die Urchristen sahen ihre Religion als logische Fortführung des jüdischen Monotheismus, so wie Muslime den Islam als einzig wahre Fortführung der "Buchreligionen" (also Juden- und Christentum) ansehen, gefolgt von den Mormonen, die das gleiche von ihrem Buch Mormon und ihrer Religion behaupten.
Luther war in dieser Überzeugung gefangen - wie das gesamte Christentum seit seinen Anfängen. Deshalb hat er auch erbittert gegen Muslime gehetzt. Hier eine Kostprobe aus unserem 3. Band der judenfeindlichen Schriften Luthers, übertragen in heutiges Deutsch: "Es ist wahr, dass die Vernunft dieses nicht in ihrer Bibel findet. Das findet sie im Klo oder im Schlaraffenland. So finden dies [die Dreifaltigkeit, Anm.] auch die Juden nicht in ihrer Bibel, also im Talmud unter dem Saupürzel, wo sie ihr Schamhaperes im Arschloch studieren. So findet es auch kein Moslem in seiner Bibel, also im Hurenbett, denn in dem hat er meistens studiert. Schließlich gibt der schändliche Unflat selbst an, dass ihm Gott (der Teufel) so viel Potenz gegeben habe, das ihm vierzig Weiber im Bett nicht genug sein mögen. Ja, genauso, wie er in derselben Bibel, dem Hurenfleisch, studiert hat, so riecht und schmeckt auch sein keusches Buch, der Koran. Er hat den Geist seiner Prophetie am richtigen Ort, dem Venushügel, gesucht und gefunden. Verwundert es da, wenn der, der in all diesen „Büchern“ studiert, weder etwas von Gott noch vom Messias weiß, weshalb er auch nicht weiß, was er redet oder tut?" (aus: Die letzten Worte Davids, 1543)
Für mich gibt es neben dem im monotheistischen Wahn gefangenen - und deshalb intoleranten - Luther auch noch den Theologen Luther, der gerade in der oben zitierten Schrift über ca. 30 Seiten versucht, die Trinität zu erklären. Wenn ich diese Textstellen zitiere, gerate ich im Sprachduktus fast automatisch von einer Kirchenkanzel in die Bütt einer Karnevalssitzung. Diese Texte sind an Lächerlichkeit kaum überbietbar und zeugen von keinem sonderlich hohen Intellekt Luthers.
Selbst wenn man an einen "Gott" glauben mag, muss jedem unvoreingenommenen Leser dies als wirres Zeug erscheinen, Sprachfetzen und -hülsen, in denen sich der gefeierte Reformator unrettbar verfangen hatte. Nach der Lektüre wird man begreifen, warum Luther die Vernunft als „größte Hure des Teufels“ bezeichnete. Und vor diesem fürchtete er sich bekanntermaßen abgrundtief...
Gita Neumann am Permanenter Link
Nun mag es den Betroffenen herzlich egal sein, ob sie gesellschaftspolitische Opfer des (theologisch begründeten) Antijudaismus oder des (rassistisch begründeten) Antisemitismus werden.
Gita Neumann
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Dann vervollständige ich das Zitat aus der Jubiläums-Ausgabe der Lutherbibel: "In seiner Polemik greift Luther auch Klischees auf, die von den Juden als einer verdorbenen Menschenart reden, der nicht einmal dann
Natürlich ist der Unterschied "Antijudaist/Antisemit" für das Opfer dieser Geisteshaltungen zweitrangig. Der Unterschied liegt genau in der Möglichkeit/Unmöglichkeit des Entrinnens vor dieser Einstellung. Ein Schwarzer kann seinem "Schicksal" nicht entgehen, wenn er auf Rassisten stößt. Selbst Michael Jackson wurde trotz all seiner kosmetischen Bemühungen nie als Weißer angesehen.
Genauso galt den Nazis und anderen Antisemiten das Blut (die Gene) bedeutungsvoller, als die Gesinnung eines geborenen Juden. Aber eben auch Luther! Es gibt unzählige Textstellen, in denen er auf das verdorbene Blut der Juden abhob - ein Umstand, der in seiner Weltsicht nicht zu ändern war. Da er diese Eigenschaft sogar dem gesamten "Volk der Juden" zusprach, kann man seinen Antisemitismus mit Fug und Recht "völkisch" nennen.
Horst Groschopp am Permanenter Link
Nun ja, im Ergebnis mag das gleich sein, aber wer historisch argumentiert, sollte immer unterscheiden zwischen Luther in seiner Zeit und dem, was später aus Luther gemacht wird in den verschiedenen Epochen von diverse
Harald Freunbichler am Permanenter Link
Vielen Dank für die Gegenrede vom Rassisten.
Wie immer ein Genuss.
Auch wenn der Begriff, die sprachliche Schublade jüngeren Datums ist, so sind wir doch berechtigt, Menschen die diesen nicht kannten aber sich eben so verhielten, als das zu benennen, was sie waren.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Wir können es auch türkischen Historiker nicht durchgehen lassen, den Genozid an den Armeniern zu leugnen, weil es diesen Begriff völkerrechtlich erst seit 1948 gibt.
Harald Freunbichler am Permanenter Link
Die vierzig Tage des Musa Dagh, Franz Werfel, 1933
Horst Groschopp am Permanenter Link
Wie mir gesagt wurde, meinen Sie mit „Rassisten“ den Luther. Das wurde, milde gesagt, nicht ganz deutlich. Es ist aber nichtsdestotrotz falsch.
„Rasse“ (Unterart) ist erst ab dem 17. Jh. („gleiche Körpermerkmale“ u.s.ä.) auf dem Weg zum heutigen Verständnis. Also 150 Jahre nach Luther hat er noch immer nicht die aktuelle Konnotation. Die Kategorie selbst ist noch auf dem Weg von Italien nach Deutschland (vorher dort im Sinne von „Geschlecht“, etwa von Adelsgruppen). Im 18. Jh. und bis ins 19. Jh. schreibt man „Race“ (etwa: Sippenverband, Gruppen, auch von Pflanzen) und zum Ende des 19. Jh. ist „Race“ ein „naturgeschichtlicher Ordnungsbegriff“ mit diversen Bedeutungen. Erst als das 19. Jh. Züchtungspraxen und -phantasien entwickelt (Hunde, Pferde usw.) und die Arbeiterbewegung "Klassen" unterscheidet, nehmen sehr konservative Intellektuelle und sehr übermütige Freidenker gegen Ende des 19. Jh. den Begriff a) ethnologisch („Volk“) und b) gesundheitlich (Schallmeyer: Rassehygiene) bis schließlich (von anderen) der Buchstabe „n“ hinzugefügt wird und ab Beginn des 20. Jahrhunderts eine transhumanistische Sinngebung erfolgt durch „wissenschaftliche“ Rassentheorien.
Luther kann kein Rassist gewesen sein, sondern er war zum Ende seines Lebens hin und durch großen Einfluss seiner Frau Katharina ein besonders aggressiver und massenwirksamer Antijudaist.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Lieber Herr Groschopp,
Ihren Ausführungen über die Entstehung des Begriffs "Rasse" kann ich zustimmen, jedoch sind sie auf Luther bezogen genauso aussagekräftig, wie die Schutzbehauptung türkischer Historiker, der Genozid an den Armeniern sei kein Genozid gewesen, weil dieser Begriff erst 1948 völkerrechtlich eingeführt wurde.
Die Lutherforschung ist hier in Teilen bereits weiter. Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann schreibt von "prorassistischen Äußerungen" und selbst die neue Lutherbibel räumt dies ein, wenn sie Luther attestiert, die Juden als "verdorbene Menschenart" angesehen zu haben. Der heute - das heißt nach 1945 - von der evangelischen Kirche verwendete scheinbare Euphemismus "Antijudaist" löste den zuvor in Kirchenkreisen positiv konnotierten Begriff "Antisemit" ab. Aber selbst ein "Antijudaist" ist ein intoleranter Mensch, der - wie Luther ausführlich und mehrfach darlegte - Juden vertreiben und bei Fortsetzung ihrer Irrlehre sogar ermorden will.
Für mich ist ein Rassist jemand, der Menschen einer bestimmten Gruppe zuordnet, die diese nicht verlassen können (auch der Konversion eines Juden misstraute Luther), und nicht das Individuum wahrnimmt. Luther hatte nichts gegen bestimmte Juden, sondern er war gegen alle Juden. Nur die, die er eigenmächtig zu Christen erklärte - wie z.B. Mose - achtete er, doch dies waren die "Alten Juden". Die neuen Juden, also die zu seinen Lebzeiten existierenden, lehnte er vollständig ab.
Ob Luther dazu "Rotten" oder "Haufen" sagte und wir heute "Rasse", ist inhaltlich nebensächlich. Luther meinte eindeutig eine Gruppe von Menschen mit einem gemeinsamen Merkmal, dem sie nach seiner Ideologie nicht entrinnen konnten. Ich habe mich in den vergangenen vier Jahren zu lange und zu intensiv mit Luther beschäftigt, um dies noch anders sehen zu können...
pavlovic am Permanenter Link
Der Atheist und Philosoph Joachim Kahl fügt der Sicht auf Luther noch einen weiteren Aspekt hinzu, siehe neues Video unter: https://monotheismus.wordpress.com/2017/03/22/die-protestantische-reformation-aus-der-sicht-
Leider habe ich noch nicht die Zeit gefunden für HPD einen Artikel daraus zu stricken, aber lassen wir ihn selbst zu Wort kommen, Kahl: „Was als tief innerlicher Gewissenskonflikt eines Mönches begann – eines ernsthaft Suchenden, der nach dem gnädigen Gott fragte – führte zu einem welthistorischen Umbruch, dessen Ergebnisse und Folgen bis auf den heutigen Tag präsent sind.
Martin Luther, in vielem im Mittelalter verwurzelt, stand auf gegen Kaiser und Papst und brachte der katholischen Kirche eine Niederlage bei, von der sie sich nie erholt hat. In religiöser Gestalt und in religiöser Form unterminierte er die materielle und ideelle Stellung der größten Feudalmacht Europas und formulierte bleibende Prinzipien von Individueller Freiheit und Gleichheit. Sie wiesen über sich selbst hinaus und trugen den Keim der Selbstsäkularisation in sich.“
Gita Neumann am Permanenter Link
Danke für das Video!
Gita Neumann
Roland Fakler am Permanenter Link
Ein echt tiefer und lesenswerter Einblick.
wuff am Permanenter Link
Hochachtung ! Viel besser kann man´s nicht sagen. Ich wünsche diesem Artikel größtmögliche Verbreitung.
henry burchardt am Permanenter Link
Was mir in dem Beitrag etwas fehlt ist der eigentliche gigantische Hass-Rundumschlag bei Luther. Luther war ein wahngetriebener Hassprediger schlimmster Sorte.
Einen kleinen Auszug seiner widerwärtigsten Aussprüche ist dieser Zitatensammlung zu entnehmen: „http://www.theologe.de/theologe3.htm“ ! Diese Sammlung ist zwar als Abgrenzung zur Jesusmeinung erstellt worden, zeigt aber überdeutlich die Wortwahl eines Wahnsinnigen und Besessenen. Diese im Blutrausch erstellten Denk- und Sprachzeugnisse als Reflex des Zeitgeistes zu bezeichnen, gehören zu den kirchenüblichen Verharmlosungsstrategien. Vom Fastenbrechen bis hin einen ganzen Kontinent von Einheimischen im Namen Gottes zu befreien (Genozid) heißt häufig unterschiedslos im kath. Kirchenjargon: „Wir haben auch gesündigt“. Man könnte auch hier tröstend hinzufügen, es entsprach dem Zeitgeist. Im Umkehrschluss könnte man auch mit diesem „Zeitgeist-Totschlagargument“ bilanzieren, Luther hat alleine nichts Neues erfunden, er spiegelt nur den Zeitgeist wider.
Auch das nachfolgende Luther-Zitat (eins von 47 ähnlich grausamer auf der empfohlenen Internetseite siehe oben ) zum Thema behinderte Kinder wird im Jubeljahr 2017 überall fehlen: „Luther empfahl, man solle die ´Wechselbälge` ersäufen, denn solche Wechselkinder seien lediglich ein vom Satan in die Wiege gelegtes Stück seelenloses Fleisch (´massa carnis`), ´das denn nicht gedeiht, sondern nur frisst und seugt.`"
pavlovic am Permanenter Link
Die Frage ist ob der Hass-Rundumschlag ohnehin nicht grundlegender Bestandteil des Christentums ist, wie der Ägyptologe Jan Assmann treffend beschreibt.
Kay Krause am Permanenter Link
Dabei sollte man berücksichtigen, wer Frau Käßmanns Gehalt zahlt!
Zum letzten Satz dieses interessanten Artikels:
Theodor Ebert am Permanenter Link
Wenn die Vernunft eine Hure ist, dann ist die Religion eine Puffmutter.