Kolumne: Sitte & Anstand

Meine Nägel gehören mir

Dürfen Männer sich die Fingernägel lackieren? Wenn sie es tun, was wollen sie uns damit sagen? Begehen sie gar einen Akt böser kultureller Aneignung? Unser Kolumnist pustet auf all diese Fragen.

Ich lackiere mir gerade die Nägel. Wieso? Einfach so.

Viele glauben das ja nicht. Sie sehen die lackierten Nägel – nicht alle, meist nur zwei oder drei an der Linken –, und ihnen ist klar: Das muss ein Signal für irgendwas sein. Da gehört jemand zu einer Gruppe oder Religion, da solidarisiert sich jemand mit etwas, aber was? Um das herauszufinden, lassen sich viele, auch Fremde, mitreißen in den Strudel der Grenzüberschreitung, den ich da offensichtlich gewagt habe. Und fragen einfach mal drauf los. Das mit den Nägeln, was denn das bedeute?

Ja, gar nix. Mir macht das Spaß. Manchmal. Mir leuchtet das Verzaubernde am Nägellackieren ein, und noch verzaubernder finde ich es persönlich, wenn es eben nicht sturzstur auf allen zehn Nägeln vollzogen wird. Sondern nur ansatzweise. So aber bringt meine stille Hand eine massive Irritation in die Welt, und lebte ich nicht auf Planet Erbe, im Prenzlauer Berg, so hätte ich sicher schon auf die Fresse bekommen. Denn ein Mann lackiert sich nicht die Nägel. Und schon gar nicht nur ein paar davon. Himmelschreiende Unfassbarkeit!

Nebenher führte ich mit meinen Nägeln ein soziales Experiment durch, an meinen Kolleginnen und Kollegen im Fachblatt für linke Millionäre, in dem ich eine Zeit lang arbeiten durfte. Die kamen, sahen und reagierten. Eigentlich wollten sie ja nur mit mir eine rauchen. Jetzt aber waren alle Abläufe eingefroren, die Zigarette ward nicht mehr weitergerollt, das Feuerzeug blieb kalt: Es wurde eindringlich um Aufklärung gebeten. Die Heteromänner wünschten sich sehr, die drei Nägel, schön lackiert in einem bläulichen Dunkelgrau, habe doch sicher meine Tochter bemalt. (Sie ist sechzehn!) Ganz anders reagierten die Frauen und der schwule Kollege: Sie musterten die Nägel, musterten mich, sie ordneten ein, ob mir die Farbe stehe, und offensichtlich hatte ich es ganz passabel getroffen. Ja, was denn nun, sind meine Nägel plötzlich ein Statement oder sind meine Nägel einfach nur meine Nägel?

Im Internet habe ich herausgefunden: Eine Zeit lang, vor zirka vier Jahren, malten Männer mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, also so medienaffine Typen, sich einen Fingernagel an, und sie taten es nicht aus Spaß oder um der Schönheit willen, nein, sie sahen sich als Teil einer urwichtigen PR-Maßnahme: Auf sexuellen Missbrauch von Kindern wollten sie aufmerksam machen, ganz bedeutsam war also ihr lange übersehener Nagel auf einmal, sie präsentierten ihn mit phallischem Stolz und posierten so, wie Mackermänner halt posieren, und wie Testosterontyp Sean Penn, wenn er im Film mal eine Dragqueen spielt, fühlten sie sich, weil sie etwas "Weibliches" gewagt hatten, gleich noch mal doppelt so "männlich" wie ohnehin schon.

So sitze ich da, die Nägel trocknen allmählich, man kann schon wieder ganz gut tippseln damit, und jetzt warte ich bloß noch auf den Vorwurf der kulturellen Aneignung, so wie ihn ein Text auf zeit.de zumindest in den Bereich des Möglichen gelegt hat: Wenn Menschen mit wenig Hautpigmenten sich keine Dreads machen lassen sollen, weil das nur Menschen mit vielen Hautpigmenten dürfen – ja, was wird da erst los sein, wenn jemand mit Y-Chromosom sich die Nägel anmalt! Kommentare bitte her zu mir, bitte reichlich. Ich puste solange. Meine Nägel. Hübsch dunkelgrau, ganz bisschen bläulich. Ist das Unpolitischste in Wahrheit das Politischste? Wäre die Welt eine bessere, malten mehr Männer sich die Nägel? Ausschließen kann ich das nicht, ganz und gar nicht. Aber die steile These dazu malen Sie doch heute mal bitte selber.

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