"Montagsdemonstranten" haben grundlegend anderes Verständnis von Demokratie

pegida_demonstration_dresden_2016-10-03_547.png

Symbolbild
Symbolbild

Die Teilnehmenden der sogenannten "Montagsdemonstrationen", die aktuell vor allem in Ostdeutschland stattfinden, haben ein grundlegend anderes Verständnis von Demokratie und ein anderes Deutschlandbild als die Mehrheitsgesellschaft. Sie vereint eine tiefsitzende Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik. Das ist das Ergebnis der qualitativen Studie "Mir reicht's Bürger – Analyse der 'Montagsdemonstrationen' in Chemnitz und Gera im Winter 2022/23", die vom Berliner Think Tank Das Progressive Zentrum und der Bertelsmann Stiftung durchgeführt wurde.

An jeweils drei Montagen im November 2022 und Januar 2023 wurden von Wissenschaftler:innen der Technischen Universität Dresden in Chemnitz und Gera im Rahmen der Studie knapp 200 Interviews durchgeführt. Im Mittelpunkt der Analyse standen Motivationen und Perspektiven derjenigen Demonstrierenden, die nicht eindeutig der rechtsradikalen Szene zuzuordnen sind. Die Studie macht deutlich, dass die Befragten ein grundlegend anderes Verständnis von Demokratie haben als die Mehrheitsgesellschaft. Die Befragten sehen sich als "wahre Demokraten".

Aus ihrer Sicht wird am "Volkswillen" vorbei regiert. Denn Institutionen wie Parteien, Fraktionen oder internationale Gremien würden diesen verzerren. So handle der Staat nicht in erster Linie nach den nationalen Interessen der Deutschen, finden die Interviewten. "Jede öffentliche Abwägung, Erklärung für Zweifel oder Kompromisse von Seiten der Regierung wird als Zeichen der Schwäche oder als Beweis für eine mangelhafte Demokratie verstanden", erläutert Paulina Fröhlich, Co-Autorin der Studie, die Ergebnisse. Aus ihrer Sicht könne die Politik darauf mit verstärkter Förderung politischer Bildung und Verbreitung des liberal-demokratischen Verständnisses reagieren: "Die liberale Demokratie muss aktiv erklärt und für Pluralismus muss geworben werden. Das Demokratiefördergesetz kann hierfür ein wichtiges Fundament bilden." Die Interviews zeichnen das Bild einer gefestigten Gruppe von Protestierenden, die das Potenzial, noch breiter zu mobilisieren, bereits mehrfach unter Beweis gestellt hat.

Grundlegend zieht sich die Ablehnung allen Regierungshandelns wie ein roter Faden durch die Interviews. Der am häufigsten genannte Grund für die Demonstrationsteilnahme war Kritik am deutschen Umgang mit dem Ukraine-Krieg, gefolgt von Unzufriedenheit über die Corona-Politik. Obwohl auch der Unmut über die Energiepolitik viele Menschen auf die Straße bringt, spielen soziale Sorgen im Zuge von Preissteigerungen eine untergeordnete Rolle.

Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine sind viele Demonstrant:innen der Meinung, dies sei nicht "unser Krieg" und Russland "nicht der Feind". Hingegen sehen sie die USA als "Strippenzieher". Auch auf die deutsche Außenpolitik sind die Demonstrant:innen schlecht zu sprechen: Sie sind der Meinung, diese schade in erster Linie Deutschland selbst und gute Verbindungen zu Russland seien alternativlos. Die allgemeine Sorge um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist außerordentlich hoch: So meinen die Interviewten, Sanktionen gegen Russland träfen in erster Linie die deutsche Wirtschaft und die Sorgen des Mittelstands (z. B. hohe Inflation) würden übergangen. Für viele Befragte sind die Grünen unmittelbar verantwortlich für die schlechten wirtschaftlichen Aussichten. Klimapolitische Maßnahmen wie der schnelle Umstieg auf erneuerbare Energie würden den Industriestandort Deutschland gefährden. Dabei stößt das Thema Umweltschutz im Allgemeinen nicht so eindeutig auf Ablehnung. "Klimaschutz ja oder nein – darum geht es in der Diskussion mit diesen Zielgruppen nicht. Vielmehr muss die Machbarkeit von wohlstandssicherndem Klimaschutz besser argumentiert und kommuniziert werden", so Florian Ranft, Co-Autor der Studie. Im Kontext der Befragungsregionen schlägt er konkret vor: "Vielversprechend ist es aus unserer Sicht auch, die Frage der Machbarkeit vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit Transformationsprozessen in Ostdeutschland beim Aufbau des Zukunftszentrum Deutsche Einheit mitzudenken."

Insgesamt ist das Misstrauen gegenüber Parteien und Verdruss gegenüber Politiker:innen unter den Demonstrierenden stark ausgeprägt. Vor allem den Grünen wird die Kompetenz zum Regieren abgesprochen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sowie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck gelten als Identifikationsfiguren für den Unmut der Befragten. Ihnen wird Verrat an den eigenen Werten (z. B. Frieden) und Ideologisierung vorgeworfen. Auffällig im Vergleich zur Präsenz der Grünen als Fixpunkt in den Interviews ist die Abwesenheit von Bundeskanzler Olaf Scholz und den beiden anderen Regierungsparteien SPD und FDP. Damit einher geht auch, dass Regierungsinitiativen wie die Entlastungspakete kaum zur Sprache kommen. "Die Proteste kanalisieren eine diffuse Unzufriedenheit und das Gefühl, die eigenen Interessen fänden in der Politik keine Berücksichtigung, aber kaum konkrete politische Forderungen. Obwohl diese Proteste bei weitem kein Massenphänomen darstellen, bergen sie dennoch ein erhebliches Risiko für Demokratie und Zusammenhalt, vor allem dann, wenn sie politisch und gesellschaftlich unterschätzt werden", führt Dr. Kai Unzicker von der Bertelsmann Stiftung aus.

Obwohl sowohl Anhänger:innen der AfD als auch deren inhaltliche Positionen bei den Protesten sehr präsent sind, wird der Partei in den Interviews überraschend selten eine Lösungskompetenz in der aktuellen Lage zugeschrieben. Positiv hervorgehoben werden stattdessen immer wieder zwei Einzelpersonen: Alice Weidel, Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, und Sahra Wagenknecht, Politikerin der Partei Die Linke. Sie werden als authentische und kompetente Politikerinnen wahrgenommen.

Die Bedeutung der Proteste für Ostdeutschland ordnet Co-Autor Erik Vollmann ein: "Die unterschiedlichen Auffassungen von Demokratie und Deutschland der Mehrheitsgesellschaft und der Montagsdemonstrant:innen können sich auf die politische Landschaft in Ostdeutschland auswirken. So könnte es den Organisator:innen gelingen, bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im Sommer und Herbst 2024 eigene Themen zu setzen und Diskurse antidemokratisch zu prägen."

Methodik

Die Interviews fanden vom 7. November 2022 bis 23. Januar 2023 an insgesamt sechs Montagen in Chemnitz und Gera statt. Dabei waren an jedem Termin zwei bis drei Interviewende pro Stadt unterwegs. Soziodemographische Angaben wurden nicht erhoben, sondern nach jedem Interview ein anonymisiertes Kurzprofil erstellt (gelesenes Geschlecht, Altersklasse, Selbstauskünfte zu Beruf oder finanzieller Lage). Insgesamt führten die Interviewenden 195 Interviews mit 257 Personen (123 in Chemnitz und 72 in Gera) durch. Die geschätzte Interviewzeit lag dabei zwischen drei und 25 Minuten.

Unterstützen Sie uns bei Steady!