Kolumne: Sitte & Anstand

Von Mythen und Menschen

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Das Kapitol in Washington D.C., Sitz des US-Kongresses
Das Kapitol in Washington D.C., Sitz des US-Kongresses

Manche Mythen haben uns fest im Griff: Wachstums- und Fleißmythos etwa. In den USA kommen noch religiöse Mythen dazu: Ohne eine Bekenntnis zu Gott könne man dort kein Politiker sein, heißt es immer. Der Kongressabgeordnete Jared Huffman hat diesen Mythos auf die Probe gestellt und sich zum Nichtglauben bekannt. Und siehe da: Die Wähler dankten es ihm.

Manche Mythen haben ganze Gesellschaften oder zumindest bestimmte Teile davon im Griff. Meist werden sie ungeprüft, da schwer prüfbar, weitergegeben, mit raunendem, warnendem Unterton, und immer sind sie das Vehikel für eine Handlungsanweisung. Etwa hat der Arbeits- Wachstums- und Fleißmythos immer noch eine wenig angefochtene Oberhoheit: Mehr, mehr, mehr! Wir müssen mehr produzieren, mehr verdienen, mehr leisten. Dass das einerseits eine reichlich irre Zwangsvorstellung ist, andererseits unfehlbar auf einen katastrophalen Kollaps zuläuft, wird dabei nach kurzem Nachdenken klar. Dennoch hat der Mythos, von interessierter Seite propagiert und von vielen Menschen auf bedauernswerte, oft krankmachende Weise internalisiert, wenig von seiner Macht eingebüßt. Er beherrscht die Köpfe und die Körper, er macht krank, wen er krankmachen will, und er schützt sich selbst, indem die Botschaft des ständigen Leistungsdrucks sich selbst gegen allzu vertieftes Nachdenken immunisiert: Dafür bleibt schlicht keine Zeit.

Jared Huffman (2013), Foto: US Government, gemeinfrei
Jared Huffman (2013), Foto: US Government, gemeinfrei

Auf solcherlei Mythen trifft man immer wieder, und fast immer haben sie die Funktion, das in der Gesellschaft oder in Teilen der Gesellschaft herrschende System zu stabilisieren: Man denke etwa an den Mythos, dass keine politische Partei es auch nur wagen dürfe, eine Politik der sozialen Gerechtigkeit auch nur anzudenken – dies sei ja dann Sozialismus und würde vom Wähler vernichtend abgestraft. Dabei heraus kommt eine Gesellschaft, in der die Armen brav immer ärmer werden, die Reichen immer reicher, die Abgehängten immer abgehängter, und in der eine Partei wie die SPD am laufenden Band neoliberale Erfüllungsgehilfen wie Gerhard Schröder oder Olaf Scholz produziert, während ein einstimmiger Aufschrei der Empörung durch sämtliche Medien gellt, wenn etwa ein Kevin Kühnert gemäßigt linke Positionen zumindest einmal auszusprechen wagt.

Solcherlei Mythen beherrschen die Welt im Großen, aber auch im Alltag. Bei mir fing das in der Schule schon an. Die Lehrer in der Mittelstufe machten ein Riesenbohei um die Oberstufe: Dort werde dann alles anders, dort würden wir mit unserem Mangel an Fleiß keinen Blumentopf gewinnen – was aber alles Mumpitz war. Die Lehrer waren dieselben, die Hürden blieben überschaubar hoch, allet jut. Bald drauf, im Studium, raunte es über die Flure des kleinen skandinavischen Seminars: Wer das hier studiert, findet später eh keinen Job!

Was aber auch wieder Mumpitz war. Tatsächlich durfte man über die Jahre erleben, dass in der Welt der Jobs zwei Wege zum Erfolg führen – echte intrinsische Begeisterung für was auch immer. Oder taktisches Rumgeschleime. Fleiß? Hmja. Fleiß ist was für Roboter oder solche, die es werden wollen. Anders gesagt, die Mythen haben eigentlich nur eine Funktion: Sie versuchen, so viele Menschen wie möglich so fremdbestimmt wie möglich zu halten, ähnlich einer Religion nehmen sie den Menschen ihren Eigenwert, damit sie sich scheu, still und dankbar einfügen. Was aber passiert, wenn jemand den Mythos Mythos sein lässt, um sozusagen der Menschwerdung zu frönen?

Da kann man dann erstaunliche Dinge erleben. Zuletzt bewies das ein Interview mit Jared Huffman, dem "Humanist of the Year" in den Vereinigten Staaten. Der Politiker entschied sich vor einiger Zeit, entgegen den intensiven, mahnenden Flüsterstimmen aller seiner Freunde und Berater, einen wirkmächtigen Mythos zu ignorieren: In den USA könne niemand erfolgreich Politiker sein, der sich als nicht-religiös bekenne. Wie mächtig dieser Mythos ist, beweist ein Blick auf den US-Kongress. Alle Abgeordneten dort bekennen sich zu irgendeiner Religion, zu irgendeinem göttlichen Wesen, das sie leite. Manche Abgeordnete drucksen auch rum und nuscheln ein bisschen halbgares Zeug, weil sie, wie es für verantwortlich handelnde Erwachsene normal sein sollte, eben nicht an unsichtbare Dinge glauben, sich das aber nicht zu sagen trauen.

Anders also Huffman. Da ein innerer Drang ihn einerseits zur Vernunft und andererseits zur Ehrlichkeit anhielt, hatte er 2017 sein Coming-out und bekannte öffentlich, dass er an all die unsichtbaren Dinge, an die viele zu glauben vorgeben, eben nicht glaube. Und dann? Was passierte dann?

Dann passierte eher gar nichts. Kein Blitz vom Himmel traf Jared Huffman, kein Heuschreckenschwarm verspeiste sein Haus, ja, nicht einmal die Wähler schienen abrücken zu wollen von ihm. Es habe ihm eigentlich eher ein bisschen geholfen, sagt Huffman heute, die Menschen hätten ihn noch eher als glaubwürdig wahrgenommen. So hat er also mit der wissenschaftlichen Methode, per Experiment, herausbekommen, was dran ist an diesem speziellen Mythos: ein US-Politiker habe sich zum unsichtbaren Oberbonzen zu bekennen. Das Wahlvolk scheint das gar nicht unbedingt so zu sehen. Oft sind die Menschen nämlich viel weniger dumm, als der Mythos sie machen will.

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