Die Bundesregierung und das Bundesamt für Verfassungsschutz haben kürzlich Revision gegen das Berufungsurteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen eingelegt. Mit diesem Urteil war die über 38jährige geheimdienstliche Überwachung und Ausforschung des Rechtsanwalts, Publizisten und Bürgerrechtlers Dr. Rolf Gössner auch in zweiter Instanz für unverhältnismäßig und grundrechtswidrig erklärt worden (Az. 16 A 906/11).
Mit seiner Entscheidung bescheinigt das Oberverwaltungsgericht (OVG), wie schon das Verwaltungsgericht erster Instanz, dem beklagten Verfassungsschutz einen dauerhaften, schweren Verstoß gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen essentielle Grundrechte des Klägers. Aufgrund der "jahrzehntelangen, gezielt auf seine Person bezogenen Informationssammlung, -auswertung und -speicherung in Form einer Personenakte und der damit verbundenen Grundrechtseingriffe", so das OVG, stehe dem Kläger ein "Rehabilitationsinteresse" zu.
Rolf Gössner sieht im Urteil des OVG, dessen Begründung mittlerweile vorliegt, einen "gerichtlichen Sieg über geheimdienstliche Verleumdungen und Willkür sowie über antidemokratische Denk-, Interpretations- und Handlungsmuster eines staatlichen Sicherheitsorgans. Das ist eine erfreulich klare Entscheidung zugunsten der Meinungs-, Presse- und Berufsfreiheit und der informationellen Selbstbestimmung. Tatsächlich liest sich die Urteilsbegründung wie Nachhilfe-Unterricht für das Bundesamt für Verfassungsschutz: gerichtliche Nachhilfe in Sachen Demokratie, Bürgerrechte, Verfassung und Rechtsstaat."
Doch die neue Bundesregierung mit ihrem zuständigen Innen- und Heimatminister Horst Seehofer (CSU) sieht sich offenbar nicht verpflichtet, diesen skandalösen Überwachungsfall endlich abzuschließen und die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Im Gegenteil: Trotz eindeutiger Urteile in erster und zweiter Instanz zugunsten des Klägers, mit denen dem "Verfassungsschutz" gehörig die Leviten gelesen werden, legte sie Revision gegen das Berufungsurteil ein. Damit landet diese kafkaeske Überwachungsgeschichte nach insgesamt 48 Jahren, und bisher zwölf Jahren Verfahrensdauer, vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig – mit ungewissem Ausgang. Das bedeutet: Der vom Bundesinlandsgeheimdienst "Verfassungsschutz" praktisch zum "Staats- und Verfassungsfeind" erklärte Kläger muss noch immer auf Rechtssicherheit und seine rechtskräftige Rehabiltierung warten – voraussichtlich wiederum jahrelang.
Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hatte bereits nach der Berufung in einem Presse-Interview zu diesem Fall gesagt: "Ich habe dafür null Verständnis. Die Behörde sollte die Gerichtsentscheidung endlich akzeptieren." Dieser Fall rufe geradezu nach politischen Konsequenzen. Doch offensichtlich wollen Bundesregierung und Bundesamt auch dieses Urteil nicht auf sich sitzen lassen, mit dem ihnen ein fast vier Jahrzehnte langer Grundrechtsbruch zur Last gelegt wird. Tatsächlich ist ein so lang währender Grundrechtsbruch gegenüber einem Bürger dieses Landes bislang wohl keinem anderen staatlichen Sicherheitsorgan gerichtlich bescheinigt worden; im Übrigen hätte dieses Urteil, würde es denn rechtskräftig, Auswirkungen auf gesetzliche Regelungen und künftige Überwachungstätigkeit: die schier uferlose Gesinnungsschnüffelei müsste jedenfalls erheblich eingeschränkt und parteilose Einzelpersonen und Berufsgeheimnisträger müssten künftig vor geheimdienstlicher Ausforschung weit besser geschützt werden. Genau dies wollen Bundesinnenminister und Bundesregierung offenkundig vermeiden und setzen mit ihrer Revision zumindest auf Zeit.
5 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Mit einer 'kafkaesken' Geschichte verbinde ich eine gewisse Minimalkomik, die diesem Fall aber völlig abgeht. Das ist nur noch augenrollend grotesk.
Kay Krause am Permanenter Link
Das klingt doch alles sehr nach DDR-Überwachungsstaat.Vermutlich bekommen wir anderen Bürger, die wir - weil das ja alles "Geheim" ist -gar nicht wissen, dass sie ebenfalls seit Jahren überwacht werden, in v
Dieter Bauer am Permanenter Link
Das Verhalten von Bundesinnenminister und Bundesregierung ist eines so oft als ruhmreich dargestellten Rechtsstaates unwürdig.
Dem Rechtsanwalt, Publizisten und Bürgerrechtler Dr. Rolf Gössner möge schnellstmöglich Genugtuung beschieden sein.
little Louis am Permanenter Link
Ein "Tiefer Staat" der sich sich noch oberhalb der Verfassung stehend schwebend wähnt?
Vor 20 Jahren stand ich dieser These noch sehr skeptisch entgegen. Aber Jahr für Jahr drangen und dringen ständig mehr Informationen von unten durch, die ein allzu naives Weltbild zum erodieren brachten. Zuletzt (nur zum Beispiel !) das Buch des Historikers Josef Foschepoth((überwachtes Deutschland) über den fast zwanzigjährigen brutalen Verstoß gegen Art. 10 GG (Post u. Fernmeldegeheimnis/Informationsfreiheit) in der Nachkriegszeit, der unter der Decke gehlten und durch rabulistische Rechtsverdrehung scheinlegitimiert wurde.
Der Autor deutet übrigens an , dass aufgrund von Geheimabkkommen im Zusammenhang mit dem Einigungsvertrag auch heute noch so einiges faul sein könnte..
Was die immer wieder aktuell auftauchenden" Merkwürdigkeiten" in gewissen Bereichen erklären würde. Und man fragt sich halt, ob für einen angeblichen "Staatsschutz" nicht auch weitere Grundrechte auf ähnliche Art umgangen oder "geopfert" wurden (oder gar noch werden). Wer jetzt sagt, das sei "haltloses Verschwörungsdenken ohne realen Hintergrund", den kann ich wirklich nicht (mehr) ernst nehmen.
pavlovic am Permanenter Link
Es ist ja nicht nur der deutsche Geheimdienst, sondern alle Länder fuhrwerken demokratiewidrig im Hintergrund in ihrem und anderen Ländern herum.