Langzeitüberwachung durch Verfassungsschutz erneut für rechtswidrig erklärt

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Dr. Rolf Gössner bei der "Freiheit statt Angst"-Demo 2014
Dr. Rolf Gössner bei der FSA 14

Nach vierstündiger mündlicher Berufungsverhandlung hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 13. März 2018 entschieden (OVG NRW 16 A 906/11), dass die über 38-jährige geheimdienstliche Überwachung des Rechtsanwalts, Publizisten und Bürgerrechtlers Rolf Gössner unverhältnismäßig und rechtswidrig war.

Mit diesem Urteil hat das OVG die Berufung der Bundesregierung und des Bundesamts für Verfassungsschutz zurückgewiesen und das erstinstanzliche Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 03.02.2011 vollständig bestätigt. Auch das OVG NRW hat dem Inlandsgeheimdienst einen jahrzehntelangen Verstoß gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen essentielle Grundrechte des Klägers und Betroffenen Dr. Rolf Gössner bescheinigt.

Das OVG hat u. a. ausgeführt, dass es in Bezug auf Rolf Gössner im gesamten Beobachtungszeitraum von 1970 bis 2008 keinerlei "tatsächliche Anhaltspunkte" für verfassungsfeindliche Bestrebungen gegeben habe. Es fehle auch an Anhaltspunkten dafür, dass Rolf Gössner angeblich "linksextremistische" Organisationen oder deren verfassungsfeindliche Ziele nachdrücklich unterstützt habe. Darüber hinaus sei die Beobachtung angesichts der mit ihr einhergehenden Grundrechtseingriffe auch unverhältnismäßig gewesen.

Rolf Gössner ist nach der über zwölfjährigen Verfahrensdauer in zwei Instanzen erleichtert über diesen Ausgang der Berufung. "Ich bedanke mich sehr herzlich für die zahlreichen Solidaritätsbekundungen und guten Wünsche zum Ausgang dieses Prozesses, die mich in meinem Durchhaltevermögen sehr bestärkt und nun zu einem guten Ergebnis geführt haben", sagte er nach Bekanntgabe der Entscheidung. "Dieses Urteil ist ein gerichtlicher Sieg über geheimdienstliche Verleumdungen und Willkür, eine Entscheidung zugunsten der Meinungs-, Presse- und Berufsfreiheit."

Sein Prozessvertreter, der Freiburger Rechtsanwalt Dr. Udo Kauß, ergänzt: "Die beiden Urteile des Verwaltungsgerichts Köln und des OVG Nordrhein-Westfalen sind Meilensteine im Kampf gegen einen übergriffigen Inlandsgeheimdienst. Ein Geheimdienst hat im Meinungsbereich nichts zu suchen. Das gilt für alle Bürger und Bürgerinnen – insbesondere auch für Berufsgeheimnisträger; denn unter Überwachungsbedingungen ist der Schutz von Berufsgeheimnissen nicht zu gewährleisten."

In seiner persönlichen Erklärung vor dem OVG hatte Rolf Gössner u. a. ausgeführt: "Die Einlassungen des Bundesamts für Verfassungsschutz vor Gericht sind von Kalte-Kriegs-Denken durchdrungen, sind illiberale Zeugnisse einer Geheiminstitution, die sich unter der Etikette ‚'Verfassungsschutz' zu einer ideologischen und inquisitorischen Gesinnungsüberprüfungsbehörde aufgeschwungen hat, wie sie mit der Verfassung und den Grundrechten auf Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit nicht vereinbar ist. Auf einem solchen Niveau vor Gericht in einem einseitig ideologisch aufgeladenen Verfahren zu streiten, ist geradezu kafkaesk, hat einen zensurierenden und demokratiefeindlichen Beigeschmack, der wohl kaum zu einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft passt – und die die Beklagte vorgibt, schützen zu wollen."

Abschließend drückte er sein Bedauern darüber aus, "dass durch diese unsinnige und absurde Überwachungsgeschichte so viel Lebenszeit und -kraft vergeudet wurde und dass zwei Gerichte mit einem solch aufwändigen Verfahren schon im zweiten Jahrzehnt damit beschäftigt werden mussten. Doch dieser Aufwand ist leider notwendig, um wenigstens ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen, Rehabilitierung zu erlangen und solch ausufernde Geheimdiensttätigkeit rechtsstaatlich zu bändigen."

Zur Bedeutung dieser Entscheidung für die Speicherungspraxis der Verfassungsschutzbehörden insgesamt erklärt RA Dr. Kauß, der diesen Prozess für die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union unterstützt hat:

"Das Urteil des OVG betrifft keinen Einzelfall und hat Bedeutung für die Erfassung und Speicherungspraxis aller Geheimdienste, auch und vor allem die der 16 Landesverfassungsschutzämter. Diese sind die eigentlichen Datenlieferanten für die Dateien des Bundesamts und das von diesem betriebene gemeinsame nachrichtendienstliche Informationssystem NADIS. Deren Datenspeicher quellen über. Eine Untersuchung der noch von der rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen eingesetzten task force hatte 2014 ergeben, dass 40 Prozent der vom Verfassungsschutz gespeicherten Daten zu Unrecht gespeichert sind und gelöscht werden müssen. Mit dem nun vorliegenden Urteil wächst der Druck auf die Geheimdienste, ihre Rolle als geheime Meinungspolizei zurück zu nehmen, wenn nicht gar zu unterbinden."

Die Urteilsbegründung liegt noch nicht vor. Das OVG hat wegen "grundsätzlicher Bedeutung" der Rechtssache die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen. Es bleibt abzuwarten, ob das Bundesamt für Verfassungsschutz den Weg der Revision beschreitet. Solange ist das Urteil des OVG nicht rechtskräftig und damit sind diese absurde Überwachungsgeschichte und ihre gerichtliche Aufarbeitung noch nicht beendet.