Nach dem Wahlsieg von Erdogan

Neue Welle von Unterdrückung und Verfolgung in der Türkei befürchtet

Nach dem Wahlsieg des türkischen Machthabers Recep Tayyip Erdogan rechnet die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) mit einer neuen Welle von Unterdrückung, Verfolgung und Gewalt gegen die Demokratiebewegung und alle Andersdenkenden im Land. Auch der Krieg gegen Kurden und andere Minderheiten innerhalb und außerhalb der Türkei könnte durch Erdogan und die im Wahlkampf erstarkten nationalistischen und sunnitisch-islamistischen Kräfte intensiviert werden.

Dafür spreche die Rhetorik, mit der Erdogan auf Stimmenfang ging und die er auch unmittelbar nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses benutzte. "Erdogan sagt in einem Video, er werde seinen politischen Rivalen Selahattin Demirtas niemals freilassen. Gleichzeitig fordert der nationalistisch-islamistische Mob die Todesstrafe für den inhaftierten Kurden", berichtete der GfbV-Nahostreferent Dr. Kamal Sido am Dienstag in Göttingen.

Dass es Erdogan mit seinen Drohungen ernst sei, zeigten die unverminderten Angriffe der Türkei auf Kurden in Syrien und im Irak. In der türkisch besetzten syrischen Kurdenregion Afrin hätten syrische Islamisten in der Nacht zum Montag Erdogans Sieg gefeiert und dabei die kurdische Bevölkerung drangsaliert. Viele Kurden sollen dort verhaftet worden sein. Im Nordwesten des Irak soll es im yezidischen Kernland Sinjar auf den Ort Khanasor einen türkischen Drohnenangriff gegeben haben.

Nach Beobachtungen Sidos waren die Wahlen in der Türkei vor allem in Kurdistan, im Osten und Südosten der Türkei, weder fair noch frei. Der türkische Staat herrsche dort wie eine Besatzungsmacht mit viel Militär, Gendarmerie, Polizei und Söldnermilizen. Kurz vor den Wahlen sei die prokurdische HDP gezwungen worden, auf einer anderen Liste anzutreten. Der alevitische Oppositionskandidat sei nicht selten als Ungläubiger gebrandmarkt worden. "Diese religiös begründete Hetzrhetorik wird weitreichende Folgen vor allem für die alevitische Minderheit, die wenigen Christen, Yeziden und Juden in der Türkei haben", befürchtet Sido. "Auch die Gewalt gegen Frauen könnte zunehmen." Für LGBTIQ-Personen werde es in dieser von Erdogan politisch vergifteten Situation nicht einfach werden.

Sido bedauerte, dass offizielle Beobachter aus NATO- und EU-Staaten von freien Wahlen in der Türkei sprechen. Es dränge sich der Eindruck auf, dass hier mit zweierlei Maß gemessen werde. Denn bei Staaten, die im Konflikt mit der NATO und EU stünden, werde sofort von gestohlenen oder gefälschten Wahlen gesprochen und mit diplomatischen, politischen oder wirtschaftlichen Sanktionen reagiert. Doch dem türkischen Autokraten werde vom deutschen Bundeskanzler sofort zum Wahlsieg gratuliert. Das sei kurzsichtig und unglaubwürdig.

Scholz und andere westliche Politiker hätten Erdogan zumindest auffordern können, die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte umzusetzen und die politischen Gefangenen Demirtas oder Osman Kavala freizulassen. "Schade! Aber in der Außenpolitik scheint es vor allem um Staateninteressen zu gehen und nicht um Demokratie und Menschenrechte", kritisiert Sido weiter.

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