BERLIN. (hpd) Die türkischen WählerInnen haben gestern den Plänen des türkischen Präsidenten Erdogan, eine islamistische Präsidialdiktatur zu errichten, eine deutliche Abfuhr erteilt. Die seit 13 Jahren unangefochten mit absoluter Mehrheit regierende AKP verlor rund 9 Prozent der Wählerstimmen und rutschte von 49,8 Prozent (2011) auf 40,94 Prozent ab. Damit hat sie weder eine absolute Mehrheit (zum Alleinregieren) noch die angestrebten 60 Prozent der Wählerstimmen erhalten, die die Einleitung eines Votums für eine Präsidialverfassung ermöglichen.
In die Türkische Nationalversammlung (TBMM) wurden am Sonntag drei weitere Parteien gewählt: die (kemalistische) CHP (25,19%), die (nationalistische) MHP (16,94%) und die HDP (12,65%). Andere Parteien erhielten lediglich insgesamt 1,95% und scheiterten damit an der noch vom Militär verfügten 10-Prozent-Klausel, die Erdogan entgegen ursprünglichen Wahlversprechen nicht abgeschafft hat.
Nach noch unbestätigten Berichten soll sich folgende Sitzverteilung ergeben: AKP 259, CHP 132, MHP 82 und HDP 78 Abgeordnete.
Durch den überraschend deutlichen Einzug der HDP in die Nationalversammlung (sie wurde in Umfragen knapp um die 10 Prozent gehandelt), wurde die absolute Mehrheit für die AKP verhindert, die sich ergeben hätte, wenn die Wählerstimmen der HDP wegen Scheiterns an der 10-Prozent-Hürde nicht mitgerechnet worden wären.
Die HDP hatte sich in ihrem Wahlprogramm und bei der Aufstellung von KandidatInnen über ihr traditionelles kurdisches Spektrum hinaus u.a. für Aktivisten der Gezi-Park-Bewegung, für Lesben und Schwule, für Grüne sowie linke und liberale Positionen geöffnet, aber auch einen der AKP-Gründer mit auf die Kandidatenliste gesetzt. Ein breites Bündnis, jenseits des Islamismus und der traditionellen Parteien, ist jetzt die Hoffnung derjenigen Türken und Kurden, die für Frieden und Freiheit eintreten.
Da sich ein Einzug der HDP in die Nationalversammlung abzeichnete, hatte sich in den letzten Wochen die Hetze Erdogans, der AKP und auch vieler türkischer Medien gegen die HDP erheblich verstärkt, die immer stärker als “Terrorpartei”, als "Kriegshetzer", "Schwulen- und Lesbenpartei", "Partei der Gottlosen"... diffamiert wurde. Zu den Wahlforderungen der HDP gehört auch die Auflösung der Religionsbehörde Diyanet. Ziel der Hetzkampagne war, kurdische konservativ orientierte WählerInnen und türkische WählerInnen aus liberalen und linken Kreisen von einer Wahl der HDP abzuhalten. Anschläge mit Toten und Verletzten auf Wahlveranstaltungen der HDP waren die Folge dieser Hetze.
Zuletzt wurden am Freitag letzter Woche auf einer Wahlkundgebung der HDP in Diyarbakir zwei Bomben in die rund 100.000-köpfige Menge geworfen. Dadurch kamen mindestens drei Menschen ums Leben und rund 220 wurden - teils schwer - verletzt. Dies hat aber nicht zur Einschüchterung der WählerInnen geführt. Im Gegenteil: lassen sich in Deutschland manche bereits durch das Wetter vom Wählen abhalten, ist das in der Türkei (zumindest bei dieser Wahl) anders: in Diyarbakir ließen sich selbst Verletzte mithilfe von Verwandten und Ärzten am Sonntag zur Wahl bringen, um für die HDP zu stimmen, seitens der Krankenhäuser wurden Fahrzeuge zur Verfügung gestellt, um den Transport zu den Wahllokalen zu ermöglichen. "Ich habe gewählt, damit in der Türkei Frieden und Freiheit herrscht", sagte der 59-jährige Sabahattin Bekci den Journalisten. Er kam im Rollstuhl zum Wahllokal. Bekci hatte bei dem Bombenanschlag am Freitag beide Beine verloren.
Die Wahlbeteiligung lag am Sonntag mit 86,6 Prozent deutlich über der Wahlbeteiligung von 2011 mit 83,16 Prozent.
Die HDP war in Deutschland von der Linken sowie von Bündnis 90 / Die Grünen unterstützt worden.
Bei den AuslandswählerInnen in den deutschsprachigen Ländern liegt die AKP deutlich vorne (Deutschland 53%, Österreich 64%) während sie in der Schweiz lediglich auf 24% kommt. Die HDP erhielt in Deutschland 18,7%, in Österreich etwa 14% und in der Schweiz den Rekordwert von etwa 49%. Die Wahlbeteiligung in Deutschland lag bei 34,3 Prozent ( 482 530 der 1 405 008 Wahlberechtigten in Deutschland stimmten ab, für die AKP somit rund 255000 Wahlberechtigte). Das Abschneiden der AKP in Deutschland wirft manche Frage auch für den künftigen politischen Kurs gegenüber den Erdogan- und AKP-Unterstützern DITIB und Milli Görüs auf.
Die Daten im Text beruhen auf Angaben der Deutsch-Türkischen-Nachrichten und des Deutsch-Türkischen Journals, die sich wiederum auf Informationen der Nachrichtenagentur Anadolu und der türkischen Wahlbehörden berufen. Möglicherweise werden sich die Prozentzahlen und Angaben zur Sitzverteilung noch geringfügig ändern.