5 Jahre nach dem "Kölner Urteil" rufen Experten die Politiker zum Handeln auf

"Das Parlament hat die Pflicht, das Beschneidungsgesetz abzuschaffen"

Man stelle sich weiter nur vor, Eltern wollten in Abkehr vom tiefen Eingriff des Beschneidungsaktes lediglich ein religiöses Symbol auf die Vorhaut tätowieren oder ein Piercing anbringen lassen. Ein solches Tätowieren und Piercen ist unter Strafandrohung verboten – erlaubt sein soll aber die komplette Abtrennung der erogenen Zone Vorhaut! Wer dies als Jurist behauptet, macht sich zum Komiker einer Zunft, die ohnehin im Ruf steht, jedes Ergebnis irgendwie begründen zu können.

Wenn alle verletzenden Eingriffe in den kindlichen Körper, die keinen Heilungssinn haben, verboten sein sollen, nur der eine nicht, die Jungenbeschneidung, dann bleibt die Erlaubnis als Sonderrecht illegitim. Wer sie propagiert, legt die Axt an ein fundamentales Prinzip der Rechtsethik und an eines der Verfassung: an das Gleichbehandlungsprinzip. Denn ein rechtliches Verbot bestimmter Verhaltensweisen verliert seine Legitimität, wenn die angeordnete Beschränkung der Handlungsfreiheit nicht jeden Bürger gleichermaßen trifft.

In Wahrheit kommt man nicht daran vorbei, die Dinge wie folgt zu sehen: Das Abtrennen der erogenen Zone Vorhaut vom Penis des Kindes ist ein erheblicher Eingriff in die Körperintegrität und sogar in den Intimbereich. Der Akt erfüllt zumindest den Straftatbestand der einfachen Körperverletzung, und er verletzt mehrere Grundrechte des Kindes: das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Persönlichkeitsrecht des Kindes und seine Würde durch Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung – sowie bei religiöser Beschneidung das Recht auf negative Religionsfreiheit durch das Prägen des Körpers mit einem unauslöschlichen religiösen Identifikationsmerkmal.

Eine Legitimation für einen solch tiefen und unumkehrbaren Eingriff in den Körper gibt den Eltern weder die eigene Religionsfreiheit noch das Elternrecht zur Pflege und Erziehung des Kindes: Die präventiv-medizinische Sinnlosigkeit der Jungenbeschneidung steht der Annahme elterlicher "Pflege" entgegen; der tiefe, unumkehrbare und gewaltsame Eingriff in den genitalen Intimbereich der reifenden Persönlichkeit des Kindes verbietet die Annahme zulässiger religiöser "Erziehung" (ohnehin "erziehen" die Eltern nicht durch Operierenlassen); der Akt stellt sich deshalb dar als eine Anmaßung, die vollendete Tatsachen schafft. Dass die Jungenbeschneidung das Kindeswohl nicht gefährde, darf auch der Gesetzgeber nicht begründungslos herbeifingieren, wie er es im Erlaubnisgesetz versucht hat; dieses Gesetz ist mit den genannten Grundrechten der Jungen unvereinbar und als verfassungswidrig vom Bundesverfassungsgericht für nichtig zu erklären.

IV. Das Erlaubnisgesetz und seine Entstehung

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie konnte es im Jahr 2012 überhaupt zu einer einseitig auf die Jungenbeschneidung bezogenen Erlaubnis kommen?

Aufgescheucht vom Kölner Urteil und unter dem massiven Druck von religiösen Lobbygruppen hat das Parlament seinerzeit überhastet – und uninformiert – einem Entschließungsantrag zugestimmt, der vorsah, die Jungenbeschneidung in Grenzen zu gestatten. Der sich darin ausdrückende politische Wille war eindeutig, und ein solch überaus seltener parlamentarischer Absichtsbeschluss ist gewählt worden, um Juden, Moslems und dem Ausland zu signalisieren, dass nicht ausgerechnet Deutschland das erste Land sein wird, in dem die Jungenbeschneidung strafbar ist.

Schon damals hatten zahlreiche Stimmen darauf verwiesen, dass die Kinderrechtskonvention mit Gesetzeskraft das Gegenteil fordert, nämlich "bei allen staatlichen Entscheidungen … das Wohl des Kindes maßgeblich zu berücksichtigen". Bei dem Entschließungsantrag wie bei dem Erlaubnisgesetz sind indes die Interessen der Jungen weitgehend verdrängt worden, durchgesetzt haben sich die Interessen von Erwachsenen.

Dieses Verdrängen der Kinderrechte begünstigt haben im Gesetzgebungsverfahren maßgeblich zwei Faktoren: eine die Jungenbeschneidung gutheißende Stellungnahme einer amerikanischen Ärzteorganisation sowie ein Gutachten des ärztlichen Direktors des Jüdischen Krankenhauses (Kristof Graf) – er hatte die Möglichkeit behauptet, Säuglinge, bei denen eine Vollnarkose stets zu gefährlich ist, unter Einsatz einer betäubenden Salbe schmerzfrei zu beschneiden. Von beidem sind die Parlamentarier seinerzeit getäuscht worden.

Die Stellungnahme der amerikanischen Ärzteorganisation ist sehr bald von Ärzteverbänden entlarvt worden als "ein parteiliches, selektiv zitierendes und ignorierendes, mit falschen Schlüssen irreführendes, kurz, wissenschaftlich haltloses Dokument berufsständischer Interessenpolitik" (Reinhard Merkel). Weltweit ist der Stellungnahme denn auch keine einzige Ärzteorganisation beigetreten, 19 europäische Ärzteverbände haben ihr ausdrücklich widersprochen.

Krankenhausdirektor Graf, der selber eine Beschneidung ohne Betäubung für verantwortungslos hält, erklärt die Wirkung der Emla-Salbe als Betäubungsmethode für ausreichend. Dass der Hersteller anmahnt, die Salbe bei Kindern "nicht auf der genitalen Haut" anzuwenden, spielt keine Rolle. Dagegen bewertet der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie, Bernd Tillig, die Verwendung der Salbe in Übereinstimmung mit einem europäischen Expertengremium als "unzureichend und ethisch inakzeptabel". Eine verlässliche Schmerztherapie, wie der Gesetzgeber sie zur Voraussetzung der Beschneidung gemacht hat, gibt es nicht.

Den betroffenen Säuglingen verursacht das Loslösen der natürlicherweise mit der Eichel verklebten Vorhaut und das Abschneiden der Vorhaut furchtbare Qualen. Ohne Verstoß gegen die "Regeln der ärztlichen Kunst" ist der Eingriff kaum durchzuführen. Zwar begehen deshalb die Operateure, seien es Angelernte oder Ärzte, auch nach geltendem Recht eine Straftat. Gleichwohl hat der Gesetzgeber seinerzeit auf einer falschen Faktenbasis entschieden – die parlamentarische Geschäftsgrundlage der Erlaubnis, die Schmerzfreiheit des Eingriffs am Säugling, gab es nie.

V. Die Handlungspflicht der Parlamentarier

Der Justizminister, die Familienministerin und zahlreiche andere Politiker sind derzeit bestrebt, die Rechte von Kindern im Grundgesetz sichtbar zu machen. Unter anderem soll der oben zitierte Passus der geltenden Kinderrechtskonvention in den Grundrechtekatalog eingefügt werden: "Bei allem staatlichen Handeln, das Kinder betrifft, ist das Wohl des Kindes maßgeblich zu berücksichtigen." Diese Aufwertung ist zu begrüßen.

Das Parlament hat aber natürlich schon jetzt die Pflicht, das Beschneidungsgesetz abzuschaffen – Grundrechte haben Kinder schon heute und die Parlamentarier sind Garanten für das Wirksamwerden der Kinderrechte. Die richtige Rechtslage zu finden, ist auch sehr simpel: Weil die Jungenbeschneidung mit mancher Form der Mädchenbeschneidung vergleichbar ist, muss schlicht die für Mädchen geltende Gesetzeslage auf Jungen übertragen werden. Die Beschneidung der Klitorisvorhaut verletzt das Persönlichkeitsrecht und die Würde des Mädchens, dieselben Rechte von Jungen verletzt die Jungenbeschneidung.

Die Würde der Kinder zu schützen, ist nach unserer Verfassung "Verpflichtung aller staatlichen Gewalt". Die Kölner Richter haben diese Pflicht erfüllt, die Parlamentarier müssen das nun nachholen und ein heilungssinnloses Herumschneiden an Kindergenitalien ausnahmslos für rechtswidrig erklären.

Der Text verzichtet auf Nachweise (siehe dafür die Beiträge in Franz: Die Beschneidung von Jungen – Ein trauriges Vermächtnis, Vandenhoek & Ruprecht, 2014 sowie auf http://www.pro-kinderrechte.ch/de/medizin/medizinische-fakten-zur-beschneidung/ und https://www.beschneidung-von-jungen.de/home/maennliche-beschneidung.html).

Übernahme von der Webseite der Giordano Bruno Stiftung.