5 Jahre nach dem "Kölner Urteil" rufen Experten die Politiker zum Handeln auf

"Das Parlament hat die Pflicht, das Beschneidungsgesetz abzuschaffen"

Zum fünften Jahrestag des "Kölner Urteils" legen Dr. iur. Ralf Eschelbach (Richter am Bundesgerichtshof), Prof. Dr. med. Matthias Franz (Universitätsklinikum Düsseldorf) und Prof. Dr. iur. Jörg Scheinfeld (Universitäten Mainz und Wiesbaden) ein gemeinsames Papier vor, in dem sie die zentralen Argumente der Beschneidungsdebatte zusammenfassen und die Parlamentarier nachdrücklich zum Handeln aufrufen. Ihr Text zeigt auf, dass die Politiker bei der Verabschiedung des Beschneidungsgesetzes von fehlerhaften Informationen ausgingen und dazu verleitet wurden, eine Einsicht zu ignorieren, die in einem modernen Rechtsstaat selbstverständlich sein sollte, nämlich dass der Intimbereich von Jungen ebenso unverfügbar sein muss wie der Intimbereich von Mädchen.

Eschelbach, Franz und Scheinfeld haben ihr Papier mit dem Titel "Zum Kölner Beschneidungsurteil und zur Schutzpflicht der Parlamentarier" auf Anfrage der Giordano-Bruno-Stiftung verfasst. Wir dokumentieren den Text nachfolgend im Originalwortlaut. Er kann über diesen Link auch als pdf-Datei heruntergeladen werden.


Richter am Bundesgerichtshof Dr. iur. Ralf Eschelbach, Prof. Dr. med. Matthias Franz, Düsseldorf, Prof. Dr. iur. Jörg Scheinfeld, Mainz und Wiesbaden

Zum Kölner Beschneidungsurteil und zur Schutzpflicht der Parlamentarier­

I. Einleitung

Sollen Eltern ihrem Kind die gesunde Vorhaut vom Genital abschneiden lassen dürfen? Die Antwort der allermeisten lautet: "Nein, das sollen Eltern nicht dürfen. Die Klitorisvorhaut am Genital eines Mädchens hat eine physiologisch sinnvolle Schutzfunktion, und vor allem stellt das Abtrennen der Klitorisvorhaut eine schmerzhafte und nicht zu rechtfertigende Körperverletzung dar, denn der Beschneidungsakt dringt in den höchstpersönlichen Intimbereich des Kindes, der auch für Eltern unverfügbar ist, weshalb sie mit der Veranlassung des Eingriffs keine elterliche Sorge ausüben, sondern allein ihre faktische Macht, die sie über das Kind haben, schändlich missbrauchen."

So sehen die Dinge fast alle, wenn es um die Mädchenbeschneidung geht, und zwar auch für leichte und kaum invasive Varianten. Lediglich ein paar Juristen meinen nolens volens, die derzeitige Gesetzeslage dränge mit ihrer Erlaubnis der Knabenbeschneidung dahin, auch die Klitorisvorhautbeschneidung zu gestatten; denn wenn der Eingriff am Jungen erlaubt sei, dann dürften gleich schwere oder leichtere Eingriffe am Mädchen nicht verboten werden. Das stimmt zwar für sich genommen, geht aber in die falsche, von den Grundrechten der Kinder versperrte Richtung.

Das Kölner Landgericht hat das vor fünf Jahren klar gesehen und den umgekehrten Weg beschritten, indem es eine in operativer Hinsicht kunstgerechte, aber medizinisch nicht indizierte Knabenbeschneidung zum Körperverletzungsunrecht erklärt hat. Dieses Urteil war richtig, wichtig und überfällig. Auch der Intimbereich von Jungen ist unverfügbar!

II. Die Sicht der Betroffenen

Die Übergriffigkeit des Beschneidungsaktes erkennt man recht leicht, wenn man denn nur, was ethisch wie rechtlich geboten ist, die Perspektive der betroffenen Kinder einnimmt. Der Beschneidungsakt ist mitnichten der harmlose Eingriff, wozu ihn manche Apologeten erklären. Das zeigt schon der Kölner Fall: Obwohl der Junge kunstgerecht operiert wurde, waren eine intensivmedizinische stationäre Behandlung und mehrere Nachoperationen nötig. Solche Fälle kommen im Klinikalltag (auch im deutschen) immer wieder vor – eine amerikanische Studie nennt 400 Fälle nötiger Nachoperationen bei 9.000 Beschneidungen. Schon mit Blick auf dieses Risiko fragt sich, aus der Perspektive des Jungen, warum er es eingehen müssen sollte.

Die Beschneidung kann zudem zahlreiche andere Komplikationen zur Folge haben. Nach der Stanford School of Medicine reichen die Folgen von lokalen Blutungen über Infektionen bis hin zu schwersten Beeinträchtigungen – etwa Verkrümmungen des Gliedes, Nekrotisierung mit der Notwendigkeit der Amputation oder gar dem Tod.

Aus der Perspektive des Kindes gibt es vor allem keine religiösen Gründe, sich beschneiden zu lassen und diese Risiken einzugehen. Es gibt weder im Islam noch im Judentum eine religiöse Pflicht des Kindes, sich beschneiden zu lassen. Entgegen oberflächlicher Betrachtungen ist der Beschneidungsakt auch im Judentum kein konstituierender Akt – Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter abstammt. Es gibt im Judentum zwar die Pflicht des Vaters, den Sohn zu beschneiden oder beschneiden zu lassen. Aber für die Erfüllung der Vaterpflicht sein Genital herzuhalten, das ist nichts, was aus der Perspektive des Jungen plausibel ist. Der (acht Tage alte) Junge hat kein zuschreibbares Interesse an der Vollziehung des riskanten und verletzenden Aktes. Kein Kind kommt mit dem Wunsch zur Welt, beschnitten zu werden.

Medizinische Gründe dafür, einem Jungen die gesunde Vorhaut abzuschneiden, gibt es ebenfalls nicht. Das hatte im Kölner Prozess der Sachverständige dargelegt, und auch der deutsche Gesetzgeber hat solche Gründe nicht gesehen. Für Drittweltländer empfiehlt zwar die WHO, Männer zu beschneiden, um so die Übertragung sexueller Krankheiten einzudämmen. Diese (ihrerseits umstrittene) Empfehlung gilt aber weder für Kinder noch für hochzivilisierte Gesellschaften wie die deutsche. Doch selbst wenn Beschnittene beim ungeschützten Geschlechtsverkehr ein leicht geringeres Ansteckungsrisiko haben sollten, so geht es gleichwohl nicht an, dem unreifen Jungen den Eingriff aufzuzwingen – der Junge hat, wenn er reif genug ist, selber darüber zu entscheiden, ob er sich den Eingriff zumutet. Die Beschneidung aber raubt ihm nicht nur einen wichtigen Körperteil, sondern zugleich die Möglichkeit, sich später viel wirksamer mit einem Kondom zu schützen. Denn wie zahlreiche beschnittene Männer, die beide Zustände kennen, berichten, spüren sie beim Gebrauch eines Kondoms kaum noch etwas und vermeiden die schützende Verwendung. Das Abschneiden der Vorhaut vereitelt also gerade einen effektiven Gesundheitsschutz.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht enthält die Beschneidung eine Botschaft der Gewalt. Sie bewirkt bei vielen Jungen starke und bleibende Ängste um ihre Männlichkeit und als Absicherungsreaktion dagegen einen hochkränkbaren männlichen Ehrbegriff. Dies gilt speziell dann, wenn – wie häufig im islamischen Kulturkreis – die rituelle Beschneidung im Vorschulalter vorgenommen wird. In dieser Entwicklungsphase sind Jungen ganz besonders ängstlich, wenn es um ihr Glied geht. Die Angst vor Kastration stellt vielleicht die stärkste Angst dar, die Jungen und Männer überhaupt empfinden können. Wird mit ihr gedroht, tun sie, was man später von ihnen verlangt. Sie werden so bei der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit behindert und tradierender Teil der Gewalt, der sie selbst ausgesetzt waren. Die Festigung der persönlichen sexuellen Identität und eine realitätsgerechte Wahrnehmungsorganisation können so bleibend beeinträchtigt werden. Seelisches Leid, Schamgefühle, sexuelle Ängste und psychosomatische Symptome können dann neben den möglichen körperlichen Schäden (etwa bleibende Beschädigung und Verkürzung des Gliedes, Vernarbungen, Sensibilitätsstörungen) spätere Folgen der Beschneidung sein.

Viele leidvoll Betroffene meldeten sich über lange Zeit aus Scham oder Loyalität nicht zu Wort. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Ein türkischstämmiger Mann erinnert sich unter Qualen an seine im Vorschulalter erlittene Beschneidung: »Man wird vergewaltigt und kann es nicht vergessen.« Er berichtet noch heute von Albträumen, Angstattacken und sexuellen Problemen. Von seinen ratlosen Eltern ist er enttäuscht, der Mutter gegenüber empfindet er tiefen Groll. Patienten, die an den Folgen ihrer kindheitlich erlittenen Beschneidung leiden, wollen trotz der religiös und politisch bestimmten Delegitimierung des Beschneidungsdiskurses endlich mitreden. Sie wurden bei ihrer Beschneidung nicht gefragt, sie wurden zum Beschneidungsgesetz nicht gehört. Sie sollten heute endlich Beachtung finden – wie alle Opfer genitaler Gewalt.

Nicht selten folgt der Beschneidung ein Vertrauensbruch in der Elternbeziehung, und als kindlicher Bewältigungsversuch dieser tief verunsichernden Erfahrung bleibt allein eine Identifikation mit dem (väterlichen) Aggressor und eine hieraus erwachsende patriarchalische Loyalität. Diese stabilisiert die Wiederholung des Rituals in der nächsten Generation, da dann auf Kosten der eigenen Kinder die selbst durch die eigenen Eltern erlittene Beschneidung verklärt werden kann. So kann es zu einer replikativen Verinnerlichung schneidender Gewalt als Handlungsoption kommen. Und die Empathie für die Ängste und Schmerzen des eigenen Kindes bleibt auf der Strecke, damit man nicht an die eigenen erinnert wird. Handeln im Tätermodus erspart – wie so oft – das Erinnern im Opfermodus. Wenn wir aber neue Männer haben wollen, müssten die alten aufhören, die jungen zu misshandeln.

Ein Betrachten und Auflisten möglicher physischer und psychischer Folgeschäden ist für die ethische und rechtliche Bewertung des Beschneidungsaktes nicht einmal nötig. Schon das mittlerweile vorhandene Wissen um die Funktion und Beschaffenheit der Vorhaut legt die Dinge klar: Die Vorhaut ist eine bedeutsame erogene Zone (!), sie ist wegen der nervalen Ausstattung der sensibelste Teil des Penis. Sie ist in Funktion und Sensibilität am ehesten vergleichbar den Fingerkuppen, den Augenlidern, den kleinen Schamlippen, dem Anus und den Lippen. Wer diese Beschaffenheit der männlichen Vorhaut nicht verdrängt, muss sich weiter bewusst machen, was ein Eintreten für die Beschneidungserlaubnis bedeutet, nämlich ein Gutheißen der These: "Eltern dürfen ohne medizinischen Grund vom Genital ihres Kindes eine erogene Zone abtrennen lassen." Wer wollte diesen Satz unterschreiben!

III. Rechte des Kindes versus Rechte der Eltern

Nun existiert der verstörende Widerspruch und die ihn fixierende Gesetzeslage, dass man, allein wenn es um Mädchen geht, von einer solchen Befugnis der Eltern – zu Recht – nichts wissen will. Eingriffe am Genital von Mädchen werden, auch wenn religiös motiviert, zumeist mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe belegt.

Einer redlichen Diskussion dieser Diskrepanz öffnet sich zunächst einmal nur derjenige, der anerkennt, was unbestreitbar ist: Es gibt Genitalbeschneidungen an Mädchen, die in puncto Eingriffstiefe nicht schwerer wiegen als die Penisvorhautbeschneidung beim Jungen. Dazu zählt etwa die so genannte milde Sunna, die Beschneidung der Klitorisvorhaut. Deshalb kommt es nicht von ungefähr, dass manche Juristen etwa die in operativer Hinsicht kunstgerecht vorgenommene Klitorisvorhautbeschneidung als erlaubt betrachten. Einen solchen Eingriff bei Jungen zu gestatten und bei Mädchen zu verbieten, ist eine Diskriminierung der Jungen und eine illegitime Ungleichbehandlung.