BERLIN. (rps) Dieses Buch liest man mit Begeisterung, weil man entdeckt: Philosophie ist tatsächlich mehr als die allzu oft „abgehobene“ Forschung und die elitäre Debatte in den notwendigerweise begrenzten Räumen der Universitäten.
Der Philosoph Carlos Fraenkel (geb. 1971), aufgewachsen in Brasilien und Deutschland, jetzt Professor an der McGill University in Montreal, hat Philosophie an der Basis erprobt: Unter benachteiligten arabischen Studenten der al-Quds Universität in der Nähe von Jerusalem oder mit Studenten (der Alauddin state Islamic University), auf der eher entlegenen Insel Sulawesi, Indonesien, aber auch mit philosophischen "Laien", wie Fraenkel sagt, hat er philosophiert, etwa in Brooklyn mit ultra-orthodoxen Juden, mit Mitgliedern des Mohawk-Volkes oder in Brasilien mit Oberschülern.
Es ist schon erstaunlich, wenn nicht vorbildlich, wenn ein junger Philosoph sich "in die Fremde" begibt, weil er zurecht vermutet, dass er fragend und suchend dort vielleicht mehr lernt als in ein paar Monaten in einer kanadischen Bibliothek. Diesen "Ortswechsel" der Philosophie sollte man viel breiter diskutieren … Das Thema "Philosophie in Brasilien" (S. 91- 111) könnte wenigstens am Rande noch einmal aktuell werden, wenn in 2016 dort die Olympiade stattfinden soll. Es wird sich doch nicht jeder und jede hoffentlich nur für den Sport in Brasilien interessieren.
Der Anfang einer Basis-Beziehung der Philosophie ist gemacht, durch Carlos Fraenkel!
In Deutschland, so mein Eindruck, sicher auch in Frankreich, überlässt man das Philosophieren an der Basis bisher den freien, d.h. frei- beruflichen Philosophen. Bestens bezahlte Universitätsprofessoren lassen sich an der Basis äußerst selten "blicken", verachten gar diese elementare Form der Philosophie, und das ist das Philosophieren. Hoffentlich lesen die etablierten deutschen Professoren das Buch von Fraenkel und lassen sich zu neuem Denken bewegen!
Sie sollten auch mal nach Holland schauen: Dort gibt es seit vielen Jahren, immer im April, den "Monat der Philosophie" ("Maand van de filosofie") unter reger Beteiligung der denkenden "Laien", begleitet von Universitätsprofessoren; eine leider weithin unbekannte Erfolgsgeschichte. In diesem Jahr 2016 ist das Thema in Holland, klug gewählt, "Grenzen". Ich habe vor einigen Jahren über diesen "Maand van de filosofie" berichtet, ohne sichtbare Wirkungen. Leider!
Was Carlos Fraenkel in den mehrwöchigen Workshops erlebt hat, welche Themen debattiert wurden, beschreibt er im ersten Teil des Buches in sehr lebendiger, gut nachvollziehbarer Sprache. Man nimmt förmlich teil an der leidenschaftlichen Abwägung der Argumente, sieht aber auch, wie schwer oft kulturelle oder religiöse Traditionen das kritische Denken "bremsen".
Carlos Fraenkel hat das große Glück, sehr gut die muslimischen Philosophen des 10. Jahrhunderts – natürlich auf Arabisch – interpretieren zu können, genauso wie die jüdischen Philosophen aus der Zeit, als etwa in al andalus (Anadalusien) ein tolerantes Miteinander von Muslims, Juden und Christen möglich war. Dass er die europäischen und amerikanischen Philosophen kennt, ist sowieso klar. Erfreulich in unserer Sicht ist, dass die lateinamerikanische Theologie der Befreiung wenigstens erwähnt wird. Da hätte man sich "mehr" gewünscht, zumal es auch die "Philosophie der Befreiung" gibt…
In seinen Workshops ist Fraenkel nicht als "Besserwisser" aufgetreten, sondern als Gesprächspartner. Er wollte das gemeinsame Suchen und Fragen einüben, eine Kultur fördern und pflegen, die das Debattieren als einen der höchsten Werte schätzt: Nur wer in der Debatte seine eigenen Überzeugungen kritisch betrachtet, stagniert nicht, er wächst und nähert sich der je größeren Wahrheit.
Im zweiten Teil seines Buches plädiert Fraenkel, die "Basis-Erfahrungen" im Hinterkopf, dafür dass die Förderung einer Debattenkultur weltweit so wichtig ist. Und er sieht zurecht, dass da die Philosophen eine riesige Aufgabe hätten, wenn sie denn diese Debattenkultur an der Basis fördern und begleiten würden. Fraenkel zeigt, wie jeder Mensch naturgemäß seine festen Überzeugungen hat, ja diese durchaus braucht zur Orientierung im alltäglichen Leben. Aber das Festklammern an den überlieferten Überzeugungen ist gefährlich, weil das geistige Leben im sturen Nachsprechen traditioneller (Glaubens)-Formeln erstarrt. Auf die Debattenkultur kommt es an, durchaus auch auf Streit, als Austausch von Argumenten. Fraenkel schreibt, bei allem Respekt vor der Relativität der je eigenen Meinungen, dass man nur in der Streitkultur "der Wahrheit näher kommen kann" (S. 194).
Man würde sich wünschen, dass Fraenkel in einem nächsten Buch die Frage aufgreifen könnte: Was aber tun wir mit Menschen, die sich jeder Debatten-Kultur entziehen? Die sich selber aussperren aus der Öffentlichkeit? Man muss ja nicht nur an IS denken, sondern an die vielen anderen ideologisch und/oder religiös-fundamentalistisch Verblendeten. Wird man diese Menschen erst dann wieder in eine Debattenkultur einbeziehen können, wenn sich die materiellen/sozialen Verhältnisse so weit verbessert haben, dass sie sich ökonomisch gerecht behandelt fühlen? Welche Fehler werden gemacht, wenn man rechtslastige Kreise von öffentlichen Debatten bewusst ausgrenzt? Verstärkt man dadurch das sektiererische Sich- Abgrenzen dieser Leute?
Aber abgesehen von diesen "schweren" Debatten-Projekten: Es wäre viel gewonnen, wenn die liberalen, gebildeten Schichten überhaupt viele freie (natürlich angenehm gestaltete) Räume vorfänden für die Pflege der Debatten, gerade in Großstädten wäre das so geboten! Warum kann es nicht "Häuser der Philosophie" geben, wo sich doch mit großer Selbstverständlichkeit "Literaturhäuser" längst etabliert haben? Warum könnten da nicht erfolgreiche Verlage als Initiatoren auftreten? Es muss ja nicht gleich ein Haus sein, eine hübsche Etage wäre schon prima.
Diese Fragen werden zurecht angestoßen durch die Lektüre des wichtigen Buches von Carlos Fraenkel, das ja den Untertitel hat: "Vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt".
Über den Begriff "Nutzen" könnte man in diesem philosophischen Zusammenhang natürlich weiter diskutieren: Ist Philosophie einsetzbar in gewisse "Nützlichkeits-Erwägungen", oder ist sie eher hilfreich, inspirierend, erschütternd? In der englischen Ausgabe kommt das Wort "Nutzen" auch nicht vor. Gut so.
Carlos Fraenkel, "Mit Platon in Palästina. Vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt". Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, 2016, 240 Seiten, 19,90 Euro
Erstveröffentlichung im Religionsphilosophischen Salon, mit freundlicher Genehmigung des Autors.
1 Kommentar
Kommentare
Kay Krause am Permanenter Link
Hier ist ein paarmal die Rede von Debattenkultur. Ich plädiere darüber hinaus für die KULTUR-DEBATTE! Und zwar nicht nur ÜBER andere Kulturen, sondern - wenn möglich - auch MIT anderen Kulturen.
Dazu benötigt man kein Haus, keinen Saal, keine Etage, wichtig ist nur, dass man es macht! Herrn Erdogan würde so eine philosophische Diskussiongruppe z.Zt. wohl ganz gut tun.
Das Buch werde ich mir bestellen, es wird mir sicherlich neue Anregungen für meine Arbeit in diesem kleinen Kreis geben.