Kolumne: Sitte & Anstand

Religion ist Pop: Im Youtube-Remix machen Predigten wieder Sinn

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Screenshot des "Paula White Remix" zur US-Wahl 2020 (YouTube)
Screenshot des "Paula White Remix"

Religion ist ja ein bisschen wie Karaoke. Gibt man sich ihren Ritualen hin, Gebet oder Predigt etwa, so kommt ein im Alltag selten erlebter Glamour ins Leben: Man streift sich für den Moment eine Ewigkeit über, ganz so wie es in der Karaoke-Box geschieht, wo man für Minuten in die Rolle eines Stars schlüpft, einen Abglanz von Perfektion und Größe in sich spürt.

Schaut man dem Gebet allerdings zu, ohne an die unsichtbaren Götter zu glauben, so verschwindet jeder Glanz und bleibt eine Performance, die eher Mitleid hervorruft – so zuletzt geschehen beim Anblick der so genannten "spirituellen Beraterin" des scheidenden US-Präsidenten Trump, Paula White.

Während alle Stimmen längst abgegeben waren und die Auszählung lief, fing Paula White öffentlich an zu beten: für den Sieg. Trumps Sieg. Der liebe Gott, wenn wir Paula Whites Auftritt richtig deuten, muss wohl ein rechter Filou sein, ein etwas schluffiger Bohemien-Typ wie aus einem französischen Film: Erst hat er offensichtlich den Wahltermin verpennt. Muss jetzt offenbar daran erinnert werden. Aber es wird ihm dennoch zugetraut, trotz Schließung aller Wahllokale irgendwie noch was drehen zu können. Einen charmanten Gauner stellen wir uns da vor, einen Belmondo, einen Pierre Richard, vielleicht Robert Redford im "Clou".

Warum so einer nun ausgerechnet Trump zum Sieg verhelfen sollte? Wird nicht klar. Doch über das Wesen von Religion haben wir wieder ein wenig gelernt. Mit dem gesunden Menschenverstand betrachtet, wirkte Paula Whites Auftritt durchgeknallt bis verzweifelt. Gnädigerweise hat das Internet sich bereitgefunden, ihr eine Art von Sinn zurückzugeben.

Ergänzt man Paula Whites manisches Gerede um die richtigen Zutaten, so leuchtet alles wieder ein. Denn ihre ganze Haltung ist immerhin: Pop.
Popstars sind eine Schwundstufe des Priestertums in aufgeklärten Zeiten, sie erheben und veredeln, lassen eine Ahnung von quasi jenseitiger Perfektion ins Leben, von Schönheit, Liebe und Glück. Auf Erden. Eine gnädige Seele hat die freidrehende Präsidentenberaterin mit Musik unterlegt, die Instrumentalversion eines Eminem-Stücks. Aufs Bewegtbild noch eine knuffig groovende Katze gelegt. Und was soll man sagen? Es ist, als hätte jemand Paula White einen Rettungsring hingeworfen. Denn so macht plötzlich alles wieder Sinn. Das rhythmische Sprechen. Auf einer Bühne. Die absurde Hingabe. Pop ist Religion, von der Haltung her, minus den transzendentalen Quark, vom Inhalt her. Wie herrlich das funktioniert, haben auch andere Prediger-Remixes schon gezeigt. Wir können uns ja kaum entscheiden wer mehr rockt: Paula White. Oder der gern mal verhaltensauffällige Televangelist Kenneth Copeland, wie er per Predigt das Corona-Virus zerstören will. Oder "Imaminem", der hasserfüllte Islamprediger, dem sie die wuchtigen Beats von Eminems "Lose Yourself" beigemengt haben.

Diese Leute machen gute Laune, endlich mal, und sie lösen etwas auf: Immer fragt man sich ja, woher der enorme Druck kommt, der auf diesen armen Seelen lastet. Jetzt erscheint ihr Treiben wieder etwas nachvollziehbarer, etwa so wie der Auftritt eines Popstars. Der kann ja letztlich plausibel machen, warum er sich auf eine Bühne stellt, um einen intensiven Anschein von Hingabe zu produzieren: Die Leute sehen das halt gern. Und er verdient seinen Unterhalt damit.

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