Michael Schmidt-Salomon über Veränderungen im linksliberalen Spektrum

"Säkulare Positionen gewinnen zunehmend an Bedeutung"

An dem Kommissionsbericht haben Grüne unterschiedlichster religiöser und weltanschaulicher Herkunft mitgearbeitet. Federführende Leiterin der Kommission war Bettina Jarasch, die sich selbst als "bekennende Katholikin" bezeichnet…

Ja, und genau das macht diesen Kommissionsbericht so wertvoll. Natürlich wäre er noch sehr viel mehr in unserem Sinne ausgefallen, wenn er nur von den Mitgliedern des AK Säkulare Grüne, wie Walter Otte und Mariana Pinzón Becht, verfasst worden wäre, aber unter dieser Voraussetzung hätte er wohl kaum Aussichten, auf dem Bundesparteitag der Grünen angenommen zu werden. Dass sich neben den säkularen eben auch dezidiert religiöse Grüne hinter die Forderungen dieses Papiers stellen, ist ein bemerkenswerter Erfolg und zeigt an, dass man auch im religiösen Lager Mitstreiter für säkulare Positionen finden kann.

Auf dem taz.lab haben Sie das in Anlehnung an ein altes Marx-Zitat auf den Nenner gebracht: "HumanistInnen aller Konfessionen vereinigt euch!"

Schon seit vielen Jahren weise ich darauf hin, dass die entscheidende Differenz nicht zwischen Theisten und Atheisten besteht, sondern zwischen Menschen, die einen dogmatischen Zugang zur Wirklichkeit haben, und solchen, die für eine freie, weltoffene Gesellschaft eintreten.

Man darf hier nicht ins Schubladendenken verfallen: Ob sich eine Person als Jude, Christ, Muslim, Buddhist, Atheist oder Agnostiker bezeichnet, sagt nur wenig darüber aus, was sie tatsächlich denkt. So wissen wir ja schon lange, dass die Mehrheit der Kirchenmitglieder mit vielen Aspekten der offiziellen Kirchenpolitik keineswegs einverstanden ist.

In einer aktuellen Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, kam heraus, dass 64 Prozent der Kirchenmitglieder die von konfessionellen Einrichtungen betriebene religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz ablehnen…

… und diese Zahl wäre noch ein gutes Stück höher, wenn sämtliche Befragten darüber Bescheid gewusst hätten, dass die Kirchen in vielen Fällen zum Unterhalt dieser Einrichtungen keinen einzigen Cent beisteuern…

Ist es nicht bemerkenswert, dass die Antidiskriminierungsstelle des Bundes diese Frage aufgreift und das Jahr 2016 zum "Themenjahr gegen Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung" erklärt hat? Das klingt beinahe so, als wolle die Antidiskriminierungsstelle des Bundes der Kampagne "Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz" (GerDiA) Konkurrenz machen, die 2012 vom IBKA und der GBS ins Leben gerufen wurde…

Ich würde das nicht "Konkurrenz" nennen. Wir sollten uns darüber freuen, dass die Relevanz des Themas allmählich erkannt wird und die Antidiskriminierungsstelle in dieser Frage Kontakt zu den Ansprechpartnern der GerDiA-Kampagne aufgenommen hat.

Ohnehin würde es nicht schaden, wenn die säkulare Szene ihre eigenen Erfolge stärker wahrnehmen würde. Natürlich kann man sich bitter darüber beklagen, dass so vieles noch immer schiefläuft, aber man sollte dabei nicht übersehen, was sich in den letzten Jahren zum Positiven hin verändert hat. 

Säkulare Positionen finden heute zweifellos sehr viel mehr Gehör als noch vor 10 Jahren, religiöse Dogmen wie auch die Privilegien der Religionsgemeinschaften werden sehr viel deutlicher in Frage gestellt, der Druck auf die Kirchen zum Beispiel ist mittlerweile so stark, dass sie von sich aus auf einige Privilegien verzichten, man denke etwa an das Recht auf Mitsprache bei der Besetzung der sogenannten Konkordatslehrstühle in Bayern…

Aber es gab in der letzten Zeit durchaus auch Rückschritte, beispielsweise das gesetzliche Verbot der organisierten Suizidassistenz…

Richtig, das vom Bundestag beschlossene "Sterbehilfeverhinderungsgesetz", wie ich es bezeichne, war eine herbe Niederlage. Andererseits sollte man auch hier das Positive nicht übersehen: Denn hinter unseren Positionen zur "Letzten Hilfe" stand nicht nur eine überwältigende Bevölkerungsmehrheit, auch im Deutschen Bundestag gab es viele Fürsprecher.

Schaut man sich die Bundestagsabstimmung etwas genauer an, erkennt man, dass es nur in der CDU/CSU-Fraktion ein klares Votum gegen professionelle Freitodbegleitungen gab, während die Parlamentarier aller anderen Fraktionen mehrheitlich gegen das neue Gesetz gestimmt haben. Dass dies auch bei der SPD-Fraktion der Fall war, verbuche ich als Erfolg. Damit hätte man im Vorfeld der Debatte nicht unbedingt rechnen können... 

Sie meinen also, wir sollten die Messlatte für Erfolg und Misserfolg etwas niedriger hängen?

So könnte man es vielleicht formulieren. Vor allem geht es mir darum, dass wir die insgesamt doch recht ermutigende gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre nicht aus den Augen verlieren und zu einer realistischen Einschätzung der Zeiträume finden, die es nun einmal braucht, um nachhaltige politische Veränderungen herbeizuführen.

Insgesamt sind wir auf einem guten Weg, auch wenn wir noch ein paar dicke Bretter bohren müssen. In dieser Hinsicht sollten wir "brennende Geduld" aufbringen und uns davor hüten, zu viel zu schnell zu erwarten, denn andernfalls würde uns wahrscheinlich schon auf halber Strecke die Luft ausgehen…

Herr Schmidt-Salomon, herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Interview führten Frank Nicolai und Florian Chefai für den hpd.