In ihrem Bericht "State of the Secular States" behandelt die NGO American Atheists die Strategie des Christlichen Nationalismus in den USA. Nach Bundesstaaten aufgeschlüsselt zeigen die Forschenden, wie tief verankert die Ideologie mittlerweile ist und dass sie auf vier Grundpfeilern ruht: Bildungspolitik, Familienplanung, Zensur und Sonderregelungen für religiöse Institutionen.
Dr. Philip Gorski, Vorsitzender der Soziologischen Fakultät der Universität Yale, definiert "Christlichen Nationalismus" in einem Gastbeitrag im Report von American Atheists wie folgt: Christlicher Nationalismus in den USA zeichne sich primär durch eine "tiefgreifende Story" und eine "politische Vision" aus. Diese "Story", so Gorski, sei der Mythos, dass die Vereinigten Staaten als christliche Nation gegründet worden seien und die Verfassung auf dezidiert biblischen Prinzipien beruhe. Die USA seien ein gottgewollter Staat, dem eine einzigartige Bedeutung zukomme. Diese Einzigartigkeit wiederum werde durch nicht-christliche, nicht-weiße und zugewanderte Menschen untergraben und bedroht.
Die "Vision", die der Christliche Nationalismus aus diesem Narrativ ableitet, entspricht der Idee einer Rückkehr zu vermeintlich vergangenem Glanz. Die "Vision", so Gorski, ist "eine Zukunft, in der weiße, christliche US-Bürger*innen (wieder) die dominante Mehrheit darstellen". Jüngste Befragungen des Pew Research Centers und des Public Religious Research Institutes zeigen außerdem, dass die Ideologie nicht nur bei denen verfängt, die explizit von ihr profitieren. Die Zahl der Menschen, die nicht weiß, nicht christlich oder nicht religiös im Allgemeinen sind, dem Christlichen Nationalismus aber dennoch positiv gegenüberstehen, ist groß. Gorski erklärt dies aus einer politischen Perspektive: "[Der Christliche Nationalismus] ist ein Kernelement des modernen Konservativismus geworden."
Säule 1: Bildungspolitik
In den vergangenen zwei Jahren urteilte der Supreme Court (SCOTUS) in zwei Fällen – Espinoza v. Montana Department of Revenue im Jahr 2020 sowie Carson v. Makin im Jahr 2022 –, dass öffentliche Gelder, die der Bezuschussung des Schulbesuchs gewidmet sind, auch Privatschulen, inklusive religiösen Privatschulen, zugänglich gemacht werden müssen. Eine elementare Rolle spielt hierbei das Konzept des Gutscheinsystems. Religiöse und konservative Gruppen in den USA kämpfen seit Jahrzehnten dafür, den verpflichtenden Besuch öffentlicher Schulen abzuschaffen. Stattdessen sollen die Erziehungsberechtigten Bildungsgutscheine mit einem bestimmten Geldwert erhalten, den sie der Schule ihrer Wahl – ob öffentlich oder privat – vorlegen können. Die gesamte Schulausbildung soll durch solche Bildungsgutscheine abgedeckt werden. Ist der Gutscheinwert allerdings geringer als die Gebühren der jeweiligen Schule, wie es bei vielen säkularen Schulen der Fall ist, müssen die Eltern den Restbetrag aus eigener Tasche bezahlen. 29 Bundesstaaten haben solche Gutscheinsysteme oder vergleichbare Konzepte implementiert. 78 Prozent aller Schüler*innen, die Privatschulen besuchen, besuchen eine religiöse Privatschule, so der Bericht von American Atheists.
Bislang war die Finanzierung religiöser Privatschulen aus öffentlicher Hand nicht vereinbar mit den Verfassungen der jeweiligen Bundesstaaten, geschweige denn mit der US-Verfassung. Die beiden Entscheidungen des SCOTUS dürften Verfechter*innen noch expansiverer Gutscheinlösungen aber Aufwind verleihen: "Es ist nicht abwegig, sich kleine Gemeinden vorzustellen, in denen öffentliche Schulen kaputtgespart werden, weil private Alternativen die Gelder absaugen. An solchen Orten könnte eine religiöse Privatschule dann die einzige Wahlmöglichkeit sein", schreibt Carol Corbett Burris, Direktorin des Network for Public Education, in einem weiteren Gastbeitrag.
Säule 2: Familienplanung
Der Christliche Nationalismus stellt sich dezidiert gegen legale Abtreibungen sowie gegen die universelle Eheschließung unabhängig von Geschlecht oder Ethnie. Zahlreiche Staaten haben mittlerweile restriktive Abtreibungsgesetze erlassen, die die Muttersterblichkeit nach oben treiben. Bezeichnenderweise sind darunter die meisten der 27 Staaten, deren Sexualkundeunterricht die komplette Abstinenz als einzige Verhütungsmethode lehrt. Lediglich sieben Staaten haben laut dem Bericht umfassenden Sexualkundeunterricht im Curriculum.
In einem Gastbeitrag mit dem Titel "Säkulare Eheschließungen sind eine Sache der Gleichberechtigung für nicht religiöse Menschen" beschreibt Nicholas Little, Vizepräsident des Center for Inquiry, weshalb der Christliche Nationalismus ein veritables Problem mit den Konzepten der gleichgeschlechtlichen und multiethnischen Ehe hat: Vor der Entscheidung des SCOTUS im Fall Obergefell v. Hodges im Jahr 2015 wurden solchen Paaren beinahe 2.000 Rechte verweigert, darunter das Recht auf Anwesenheit am Sterbebett des geliebten Menschen. Gleichsam waren sie schwerwiegender Diskriminierung im Erb- und Personenstandsrecht ausgesetzt. Verfechter*innen des Christlichen Nationalismus, der laut Gorski konzeptuell eng mit der Idee der "Weißen Überlegenheit" (Englisch: white supremacy) verknüpft ist, sehen in dieser Diskriminierung kein Problem, da die Ehe ihrer Ansicht nach ein dezidiert christliches Konzept ist. Sie für gleichgeschlechtliche oder nicht-weiße Menschen zu öffnen würde die vermeintliche "Heiligkeit" dieser Ehe beflecken.
Ein weiterer Faktor, der nicht-religiöse Menschen diskriminiert, ist die Notwendigkeit der Akkreditierung einer Eheschließung bei staatlichen Stellen, wenn die Zeremonie nicht von einer Kirche vorgenommen wurde. So kann beispielsweise die Church of Body Modification rechtswirksame Eheschließungen vornehmen, da sie als Glaubensgemeinschaft anerkannt ist – säkulare Organisationen allerdings nicht. Dadurch kommt es laut Little immer wieder zu dem Fall, dass Säkulare sich peinlichen Behördenterminen unterziehen müssen, bei denen die Validität ihrer Ehe mit einer religiösen Linse geprüft wird.
Säule 3: Zensur
Der Bericht von American Atheists führt zudem aus, wie der "Stop Woke Act" sowie die "Don't Say Gay Bill" in Florida als Blaupause für weitreichende Zensurmaßnahmen dienen könnten. Unter dem "Stop Woke Act" wurden Inklusions- und Diversitätsprogramme gestoppt, öffentliche Bibliotheken entfernten die Werke schwarzer oder sexuell und geschlechtlich diverser Autor*innen. Lehrende erhielten die Anweisung, dass sie künftig "beide Seiten" zu beleuchten hätten, besonders bei vermeintlich "kontroversen" Themen wie der institutionellen Sklaverei oder dem Holocaust.
Dabei ist "woke" ein notorisch schwammiger Begriff. Jüngst fragte ein Gericht in Florida die Rechtsberater*innen von Gouverneur Ron DeSantis, was "woke" eigentlich heiße. Die Antwort: "Woke ist, zu behaupten, es gäbe systemische Ungerechtigkeiten in den USA – und die Forderung, gegen diese Ungleichheiten vorzugehen." Demzufolge wären auch Organisationen wie American Atheists "woke", machen sie doch auf die systemische Benachteiligung nicht-religiöser Menschen aufmerksam und fordern Verbesserungen.
Durch die "Don't Say Gay Bill" wiederum soll die angebliche Indoktrination von Kindern verhindert werden, indem Themen wie sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität aus dem Klassenzimmer verbannt werden. Effektiv, so der Bericht, bedeutet das allerdings auch die Auflösung von Selbsthilfegruppen für sexuell und geschlechtlich diverse Schüler*innen und die Leerung ganzer Schulbüchereien. Jüngst wurde ein Lehrer entlassen, dessen Video von gähnend leeren Bücherregalen viral gegangen war. "Zusammen mit dem intensivierten Kampf für Gutscheinsysteme im Bildungssystem, die öffentliche Gelder zu privaten, religiösen Schulen umleiten, sollten diese Anstrengungen als komprehensiver Angriff auf die säkulare, öffentliche Bildung in den USA verstanden werden", kommentiert der Bericht von American Atheists.
Säule 4: Sonderregelungen für religiöse Institutionen
Der finale Baustein des Christlichen Nationalismus ist die Errichtung religiöser Sonderrechte, die mit Antidiskriminierungsgesetzen oder gar grundlegenden Menschenrechten kollidieren. So ist beispielsweise im Bundesstaat Wyoming die Kinderehe noch immer legal und wurde jüngst von Teilen der Republikanischen Partei verteidigt. Andere Bundesstaaten erlauben die Anwendung der weithin geächteten Konversionstherapie.
American Atheists zufolge haben 22 Bundesstaten gesetzliche Klauseln, die die Trennung von Staat und Religion unterminieren. In manchen dieser Bundesstaaten gelten beispielsweise die eigentlich universellen Antidiskriminierungsrichtlinien selbst im medizinischen Bereich nicht für religiöse Organisationen, in einigen gibt es inaktive Gesetze für eine Art Glaubenstest für Personen, die öffentliche Ämter anstreben. In 15 Bundesstaaten existiert eine Sonderegelung, die es religiösen Studierendenorganisationen erlaubt, beim Aufnahmeprozess und im Umgang mit als unliebsam empfundenen Studierenden oder Organisationen diskriminierend zu handeln. American Atheists bezeichnet dieses Recht als "Campus License to discriminate" – Lizenz zur Diskriminierung auf dem Campus.
Das Konzept des säkularen Staats selbst ist in Gefahr
Wie der Bericht von American Atheists zeigt, stehen die Vereinigten Staaten vor einer Zerreißprobe. Nur zwölf Bundesstaaten und Washington, D.C. weisen eine starke Trennung von Staat und Religion auf, in 22 Bundesstaaten ist diese Trennung bereits gefährdet. 16 Bundesstaaten, darunter Swing States wie Michigan und Wisconsin, attestiert die Organisation lediglich eine schwache Trennung von Staat und Religion. Gerade diese Swing States, die für Präsidentschaftswahlen von außerordentlicher Bedeutung sind, gilt es, in den kommenden Jahren akribisch zu beobachten. In Michigan beispielsweise hat die Republikanische Partei jüngst eine Vorsitzende gewählt, die nicht nur Verschwörungsmythen über die Präsidentschaftswahl 2020 perpetuiert, sondern der festen Überzeugung ist, alle Schwangerschaftsabbrüche seien satanistische Rituale.
Doch auch die langjährige Hochburg des US-amerikanischen Liberalismus, New York City, driftet in bedenkliche Gewässer ab. Bürgermeister Eric Adams verkündete kürzlich, was er vom säkularen Staat halte: "Kommen Sie mir nicht mit der Trennung von Kirche und Staat. Der Staat ist der Körper, die Kirche das Herz. Wenn Sie das Herz herausreißen, stirbt der Körper", so Adams bei einem jährlich stattfindenden Treffen von Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen. "Verstörend und gefährlich" nannte die anwesende Rabbinerin Abby Stein diese Rhetorik.
Auch den Supreme Court werden Säkulare im Blick behalten müssen. Auf dessen Schreibtisch liegt dieses Jahr ein Fall aus Colorado, in dem sich eine christliche Webdesignerin, die sich auf Hochzeitswebsites spezialisiert hat, weigert, ihre Dienstleistungen gleichgeschlechtlichen Paaren anzubieten. "Wo aber ziehen wir hier die Grenze", kommentierte Verfassungsrichterin Sonia Sotomayor die Möglichkeit, dass der SCOTUS der Webdesignerin Recht geben sollte. "Was ist mit Menschen, die multiethnische Ehen aus religiösen Gründen ablehnen oder der Meinung sind, dass Menschen mit Behinderung nicht heiraten dürfen sollten?"
Sotomayor spielt darauf an, dass es Unternehmer*innen selbstverständlich freistehe, wie sie ihre Produktpalette gestalten, aber nicht unbedingt, wem sie diese anbieten. Colorados Generalstaatsanwalt Eric Olson, der den Bundesstaat vor dem SCOTUS vertritt, beschreibt die Problematik folgendermaßen: Eine Druckerei, die lediglich Koranverse drucken möchte, darf das natürlich – doch sollte sie ihre Koranverse aus religiösen Gründen auch ausschließlich an muslimische Menschen verkaufen dürfen? "Dies wäre das erste Mal in der Geschichte dieses Gerichts, dass ein Unternehmen, das sich an die Öffentlichkeit richtet, seine Dienstleistungen Menschen aufgrund von Ethnie, Geschlecht, Religion oder sexueller Orientierung verweigern dürfte, richtig?", fragte Sotomayor. "Richtig", so die Antwort Olsons. Die Entscheidung des SCOTUS wird Ende Juni erwartet.