Naïla Chikhi: "Wie weltanschaulich neutral muss die Schule sein?"

Die Schule ist kein Ort der Bekehrung

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Naïla Chikhi
Naïla Chikhi

Am gestrigen Abend wurde in der Urania über das Berliner Neutralitätsgesetz debattiert. Vor fachkundigem Publikum sprachen Seyran Ateş, Naïla Chikhi (Terre des Femmes), die Schulleiterin Hildegard Greif-Gross sowie Walter Otte (Säkulare Grüne) über die Gründe, weshalb die Abschaffung oder Aufweichung des Neutralitätsgesetzes ein falsches Signal wäre.

Der hpd dokumentiert hier das Einführungsreferat von Naïla Chikhi, das die Positionen der Initiative "Pro-Neutralitätsgesetz" noch einmal deutlich macht:

Es gibt viele Gründe, weshalb ich für den Erhalt des Neutralitätsgesetzes bin.

Heute möchte ich Ihnen aufgrund meiner Lebensgeschichte und der aktuellen gesellschaftlichen Situation zwei für mich wichtige Gedanken vorstellen, die einer Aufweichung oder gar Abschaffung des Neutralitätsgesetzes widersprechen.

Wegen meiner persönlichen Erfahrung liegen mir besonders zwei Gruppen von Menschen am Herzen: Geflüchtete Menschen und SchülerInnen.

Geflüchtete Menschen, die hier Schutz suchen, fliehen nicht nur vor Krieg oder Folter. Häufig haben sie in ihren Heimatländern, auf dem Fluchtweg oder hier in Deutschland, auch religiöse Anfeindungen erfahren. Angekommen in Deutschland erhoffen sie sich, diesen religiösen Druck hinter sich gelassen zu haben.

Ja, es gibt auch säkulare oder gar nichtgläubige Geflüchtete, die genau deswegen nach Europa kommen, weil sie hier auf eine Trennung von Kirchen und Staat hoffen.

Stellen Sie sich vor, wie diese besonders schutzbedürftigen Menschen sich fühlen, wenn sie nun auch in Deutschland vor RichterInnen, PolizistInnen und LehrerInnen, also Amtspersonen, stehen, die demonstrative Glaubenssymbole tragen!

Es sind Erfahrungen, die altbekannte psychosoziale Muster wieder hervorholen - und Einschüchterungs- und Bedrohungsgefühle. Denn die Wirkung von Symbolen ist machtvoll und kann schnell auch Ressentiments erzeugen. Oder: eine Art Wettbewerb der religiösen Gebote/Konformität, bei dem es darum geht: Wer sind die besseren Gläubigen.

Solchen Phänomenen wirkt das Neutralitätsgesetz entgegen.Das Neutralitätsgesetz ist gemacht, für Menschen wie mich und viele andere. Menschen, die sich danach sehnen, in ihrer neuen Heimat von neutralen AmtsträgerInnen einfach als BürgerInnen betrachtet zu werden.

Oft wird in der Diskussion vorgeworfen, dass das Neutralitätsgesetz anti-feministisch und diskriminierend sei. Es sei ein Anti-Kopftuchgesetz, ein anti-muslimisches Gesetz oder gar islamophob. Diese Rhetorik ist meines Erachtens sehr gefährlich, denn sie ähnelt sehr der Wortwahl von fundamentalistischen Islamisten.

In unseren staatlichen Institutionen arbeiten bereits viele AmtsträgerInnen muslimischer Konfession, die kein Kopftuch tragen. Warum können sich nicht die Vertreterinnen des konservativen Islams, sowie alle anderen, dem Gesetz beugen? Sind sie etwas Besonderes?

Das Neutralitätsgesetz findet Anwendung auf alle Religionen und Ideologien.

Im Zusammenhang mit dem in unserer Verfassung verankerten Prinzip der Gleichberechtigung ist das Neutralitätsgesetz zudem sehr wohl feministisch, da es keine geschlechtsspezifischen Verhüllungsvorschriften zulässt. Und das ist richtig so.

Denn die islamische Verschleierung ist weder exotisch, noch ein Mode-Accessoire oder "nur" ein "Stück Stoff". Sie ist eine Brandmarkung. Sie unterwirft Frauen und Mädchen dem Stigma, einen sündigen Körper zu besitzen und teilt sie in "ehrbar" und "unzüchtig" ein.

Sie ist der erste Schritt zur Geschlechter-Apartheit.

Gegen diese Uniform eines dogmatischen Patriachats kämpfen viele Frauen in muslimischen Ländern. Sie kann also hier in Europa nicht plötzlich für Gleichberechtigung, Emanzipation und Selbstbestimmung stehen. Das deutsche Verständnis für frauendiskriminierende Kleidung, die nur einer bestimmten Gruppe auferlegt wird, erschüttert mich.

Und nun zu den Schülerinnen – einer ebenfalls äußerst vulnerablen Gruppe von Menschen. Meine persönlichen Erfahrungen in einer massiv von religiösen Autoritäten beeinflussten Schule in Algerien und danach in laizistischen Schulen in Tunesien und Frankreich, hat mich eines gelehrt: Die Schule muss frei von religiösen und ideologischen Symbolen bleiben. Die Schule ist kein Ort der Bekehrung. Nein, sie ist ein neutraler Schutzraum. Hier sollen Kinder unabhängig von ihrer Konfession, Herkunft oder ethnischen Zugehörigkeit gemeinsam lernen können, kritisch zu denken und dogmatische Beeinflussung zu erkennen. Denn nur so können sie sich davon distanzieren und BürgerInnen mit demokratischer und freier Gesinnung werden.

Sollte das Neutralitätsgesetz aufgeweicht oder gar abschafft werden, dann frage ich mich: Wo sollen Mädchen ein anderes Frauenbild erlernen, wenn nicht in einer Schule mit neutralen Lehrkräften? Wie können kopftuchtragende LehrerInnen unseren Mädchen Begriffe wie Säkularität, Selbstbestimmung und Emanzipation von religiösem, moralischem und männlichem Diktat kohärent erklären? Wie können sich Mädchen von einem orthodoxen, konservativen Narrativ distanzieren, wenn sie mit ihm auch in der Schule konfrontiert werden?

Positive und negative Religionsfreiheit wurde geschaffen, um Andersgläubige und Nichtgläubige vor dominierenden Religionen zu schützen. Dieses Recht muss auch Kindern garantiert werden. Vor allem jetzt wo das religiöse Mobbing endlich in der Öffentlichkeit debattiert wird, ist es unentbehrlich das Neutralitätsgesetz zu festigen. Psychischem Druck und körperlichen Übergriffen auf jüdische, säkulare oder nicht-gläubige SchülerInnen muss Einhalt geboten werden.

Auch hier beobachten Fachleute eine Eskalation der religiösen Gebote. z.B. Wer hat vor 10 Jahren in Deutschland kleine verschleierte Grundschülerinnen gesehen?

Viele muslimische Mädchen sind nicht nur in ihrer Familie und Community einer starken "Kopftuch-Propaganda" wenn nicht gar Zwang ausgesetzt. In den Medien, in der Modenbranche sogar bei den Spielzeugen, scheint es nur noch verschleierte Musliminnen zu geben.

Das perfide Phänomen der Mädchen-Verschleierung ist menschenverachtend und herabwürdigend. Was für eine offene Gesellschaft wären wir, wenn wir zuließen, dass Mädchen so früh sexualisiert werden.

Was für eine Gesellschaft wären wir, wenn wir tolerierten, dass nur muslimische Mädchen von einer fundamentalistischen Strömung instrumentalisiert werden?

Auch aus diesen Gründen setze ich mich für den Erhalt des Neutralitätsgesetzes ein und plädiere für ein Verbot der Mädchenverschleierung in allen staatlichen Bildungsinstitutionen bis zur Volljährigkeit.

Mit der Sonderstellung der ethnischen oder konfessionellen Zugehärigkeit von SchülerInnen oder AmtsträgerInnen würden sich die Konflikte in unserem Land massiv verschärfen. Rechte Strömungen einerseits und die Verfechter des Kulturrelativismus andererseits würden noch stärker polarisieren. Wir dürfen es nicht zulassen, dass rechte Parteien mit aufgeklärten Positionen auf Stimmenfang gehen, obwohl ihre Forderungen fremdenfeindlich sind. Wir dürfen nicht auf kulturrelativistischen Positionen beharren, koste es was es wolle!

In diesem Zusammenhang stellt das Neutralitätsgesetz für mich die überaus wichtige Stimme der Mitte dar, die sich für die Gleichheit aller vor dem Gesetz einsetzt, die das Verbindende aufwerten will und nicht das Trennende.

Deshalb kann ich nur wiederholen: Zum Wohle der zukünftigen Generationen appelliere ich an die PolitikerInnen, vor allem aus den linken Lagern:

Setzen sie sich für ein bundesweites Neutralitätsgesetz ein.

Setzen sie sich für ein Verbot der Verschleierung von minderjährigen Mädchen in staatlichen Bildungsinstitutionen ein – im Sinne der Aufklärung und der Vorkämpferinnen für Frauenrechte, denen wir so viel verdanken.

Und stellen sie sich an die Seite der säkularen Frauen und Mädchen, die sich gegen jeglichen religiösen Dogmatismus wehren und dafür an vielen Orten der Welt immer noch einen sehr hohen Preis bezahlen.