Offener Brief

Grünen-Abgeordnetenhausfraktion soll Kampagne gegen das Neutralitätsgesetz einstellen

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Plenarsaal des Berliner Abgeordnetenhauses
Plenarsaal des Berliner Abgeordnetenhauses

Einige Mitglieder und Unterzeichner der Initiative "Pro Neutralitätsgesetz" haben heute einen Offenen Brief an die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus, Antje Kapek (MdA) sowie an den Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, Dr. Dirk Behrendt (B90/Die Grünen), veröffentlicht. Der Offene Brief (der ebenfalls bündnisgrünen Unterzeichner) fordert von den beiden Politikern, ihre Bemühungen zur Abschaffung bzw. Aufweichung des Berliner Neutralitätsgesetzes einzustellen. Der hpd dokumentiert den Offenen Brief ungekürzt.

Liebe Antje Kapek, lieber Dirk Behrendt,

die UnterzeichnerInnen dieses Briefes sind in bündnisgrünen Parteistrukturen aktiv und arbeiten gleichzeitig in der Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz mit.

Wir begrüßen die Urteile des Arbeitsgerichts Berlin vom 8. und 24. Mai 2018, in denen die Verfassungsmäßigkeit des Berliner Neutralitätsgesetzes festgestellt wurde. Auch wenn die Urteile noch keine Rechtskraft erlangt haben, zeigt es doch, dass die immer wieder behauptete "eindeutige Verfassungswidrigkeit" des Neutralitätsgesetzes politisches Wunschdenken ist.

Mit Verwunderung und Befremden haben wir nach dem ersten Arbeitsgerichtsurteil aus den Medien erfahren müssen, dass unter Federführung der Co-Vorsitzenden der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus und des Justizsenators unverdrossen an einer Initiative zur faktischen Abschaffung des Berliner Neutralitätsgesetzes gearbeitet und Druck auf die Koalitionspartner ausgeübt wird.

Für uns ist dieses mit der Partei nicht abgestimmte Verhalten inakzeptabel. Wir sehen darin einen Verstoß gegen basisdemokratische Grundsätze. Bündnis 90/Die Grünen in Berlin befindet sich nach der Landesdelegiertenkonferenz Ende 2017 innerparteilich in einem durchaus gehaltvollen Diskussionsprozess zum Neutralitätsgesetz, der nicht abgeschlossen ist. Entgegen einer allgemein verbreiteten und leider wohl auch gezielt kommunizierten Auffassung gibt es keinerlei Beschlusslage unserer Partei in Berlin, die eine Abschaffung des Neutralitätsgesetzes verlangt. Solche Diskurse wie die Veranstaltung der Berliner Südwest-Kreisverbände von Bündnis 90/Die Grünen am 12. Juni 2018 würden wenig Sinn machen, wenn sie von der Spitze der Fraktion im Abgeordnetenhaus ignoriert werden sollten und die Partei vor vollendete Tatsachen gestellt würde.

Ihr beiden vermittelt hingegen öffentlich den Eindruck, als sei der parteiinterne Diskursprozess abgeschlossen und das Meinungsbild der Partei eindeutig. Wir können nicht erkennen, dass diese Vorwegnahme der innerparteilichen Debatte als Beitrag zur innerparteilichen Demokratie geeignet ist – im Gegenteil.

Jede Form von Basta-Politik ignoriert auch die öffentliche Meinung, die eben nicht von rechtspopulistischen Stimmungen geprägt ist, sondern in weiten Teilen sehr differenziert die Fragen von staatlicher Neutralität und religiösen Symbolen erörtert. Diese Erfahrung haben wir in der Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz gemacht, die im linken und linksliberalen Spektrum wachsenden Zuspruch findet. Immer mehr Menschen - auch in unserer Partei - wird zunehmend bewusst, dass die in der Vergangenheit weitgehend kritiklose Akzeptanz des konservativ-orthodoxen Islams nicht nur, aber auch durch unsere Partei die reaktionären Kräfte im Islam um Ditib und Islamrat gestärkt sowie die reformbereiten Kräfte an den Rand gedrängt hat. Ihr solltet Euch ernsthaft fragen, ob nicht auch Eure Politik der bedingungslosen Unterstützung religiöser Symbole im Schulunterricht letztlich diesen bedenklichen Entwicklungen beständig Vorschub leistet!

Euer Vorstoß in der Koalition irritiert umso mehr, als er gewichtige Argumente für die Erhaltung des Neutralitätsgesetzes außer Acht lässt.

In mehreren Veranstaltungen mit SchulleiterInnen und LehrerInnen in den letzten Wochen wurde sehr deutlich, dass einer zunehmenden Zahl von SchülerInnen – aktiv oder passiv – von Hause aus eine orthodoxe/konservative Religionsauffassung anerzogen wird. Die entsprechende Weltsicht bringen sie in die Schule mit; etliche Kinder aus strengreligiösen bzw. nationalistisch-religiösen Elternhäusern versuchen, anderen SchülerInnen ihre dogmatische Religionsauffassung aufzuzwingen. Oftmals steht dahinter auch ein starker Druck aus religiösen Gemeinschaften. Gerade das Bedürfnis von Kindern und Jugendlichen, "dazu zu gehören" verstärkt die Bereitschaft, andere zu stigmatisieren oder sogar Gewalt anzuwenden, um innerhalb "ihrer" Community anerkannt zu werden.

Diese Form der religiösen Beeinflussung - bis hin zu Drohungen und körperlichen Übergriffen - ist ein reales Problem, dem wir uns endlich stellen müssen. Für uns ist es von daher unverzichtbar, dass SchülerInnen in einem ebenso sicheren wie neutralen Umfeld lernen können. Wird die Schule hingegen zum Ort der Bekehrung, grenzt sie Kinder und Jugendliche untereinander aus. Das verstärkt bestehende Spannungen oder ruft sie sogar erst hervor.

Wir setzen uns für eine Schule ein, in der Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrer Religion, Herkunft oder ethnischen Zugehörigkeit gemeinsam Wissen erwerben und kritisches Denken frei von dogmatischer Gängelei erlernen können. Sie sollen in der Schule lernen, selbstbestimmt darüber zu entscheiden, welcher Religion oder Weltanschauung sie sich anschließen oder auch nicht anschließen wollen. So werden sie befähigt, ihre eigene Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu gestalten.

Wir setzen uns für eine Schule ein, in der Mädchen und Jungen ein Frauenbild vermittelt wird, das auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Sinne des  Artikel 3 Grundgesetz orientiert, und kein Frauenbild, das Frauen und Mädchen veranlassen oder vorschreiben könnte, ihren Körper zu verhüllen.

Die Religionsfreiheit, eben auch die "negative Religionsfreiheit", kann nicht durch allgemeine Gesetze, wohl aber durch andere Grundrechte eingeschränkt werden. Auch die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit beispielsweise kann nicht durch allgemeine Gesetzes eingeschränkt werden, sondern nur durch andere Grundrechte. Die Religionsfreiheit hat somit - anders als vielfach kolportiert - keinen einzigartigen Sonderstatus unter den Grundrechten. Uns ist im Übrigen nicht erinnerlich, dass sich Grüne jemals in ihrer (ablehnenden) Haltung zu Tierversuchen durch Hinweis auf die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Forschung und Lehre irritieren ließen.

Wir sehen folglich keine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates, die Religionsfreiheit über die gesamte Rechtsordnung zu stellen. Der Neuköllner Bezirksbürgermeister hat Recht, wenn er darauf verweist, dass er sich auch nicht als Lehrer mit einem SPD-Shirt vor die Schulklasse stellen darf. Auch von einem strenggläubigen Menschen darf erwartet werden, dass er zumindest im Unterricht auf religiöse Bekenntnissymbole verzichtet. Das in diesem Zusammenhang immer wieder vorgebrachte Argument, die Religionsfreiheit der PädagogInnen habe stets Vorrang, verkennt, dass die sog. negative Religionsfreiheit einen Anspruch begründet, in staatlichen Abhängigkeitsverhältnissen von religiöser Beeinflussung frei gehalten zu werden.

Die Verpflichtung des Staates zu weltanschaulicher Neutralität heißt eben auch, die Grundrechte derer zu schützen, die weder ein Söder-Kruzifix an der Wand, noch ein christliches Kreuz vor der Brust oder ein islamisches Kopftuch auf dem Kopf hinzunehmen bereit sind. Wer unter Berufung auf eigene Glaubensvorstellungen nicht einmal in einer Grundschulklasse (für einige Stunden) auf religiöse Symbole verzichten will, weckt begründete Zweifel, ob ihm oder ihr nicht doch religiöse Vorstellungen wichtiger sind als staatliche Normen. So öffnen wir letztlich auch Tür und Tor dem evangelikalen Biologielehrer, der für den Kreationismus wirbt und Darwin verdammt. Das kann doch nicht unsere grüne Politik sein!

Wir fordern die Abgeordnetenhausfraktion von Bündnis 90/Die Grünen dringend auf, ihre Kampagne gegen das Neutralitätsgesetz einzustellen und keine Faktenlage ohne Parteibeschluss zu schaffen. Wir erwarten auch, dass sich die Fraktion an der parteiinternen Debatte beteiligt und nicht durch ihr Vorpreschen diesen Diskussionsprozess unterläuft.

Angesichts der öffentlichen Resonanz infolge der Angriffe auf das Neutralitätsgesetz werden wir dieses Schreiben ebenfalls öffentlich machen. Wir übermitteln es zudem dem Regierenden Bürgermeister Müller (für den Koalitionspartner SPD) und dem Berliner Bürgermeister Lederer (für den Koalitionspartner DIE LINKE).

Mit bündnisgrünen Grüßen

Walter Otte, Sprecher BAG Säkulare Grüne, Sprecher LAG Säkulare Grüne Berlin
Christine Rabe, KV Charlottenburg-Wilmersdorf, stv. Vorsitzende Landesfrauenrat Berlin
Herbert Nebel, Mitglied im Vorstand KV Charlottenburg-Wilmersdorf

Weitere Informationen:

http://be.saekulare-gruene.de/das-berliner-neutralitaetsgesetz-hat-sich-bewaehrt/

http://saekulare-gruene.de/bag-saekulare-gruene-tritt-fuer-bundesweite-neutralitaetsregelungen-im-oeffentlichen-dienst-ein/

http://pro.neutralitaetsgesetz.de/arbeitsgericht-berlin-bestaetigt-erneut-berliner-neutralitaetsgesetz

https://hpd.de/artikel/religioese-nachruestung-an-berliner-schulen-hat-begonnen-15636