Landeskirche Hannover: Die Wahrheit scheibchenweise

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Marktkirche St. Georgii et Jacobi in Hannover. Seit 1925 Predigtstätte des Landesbischofs.
Marktkirche St. Georgii et Jacobi in Hannover.

In Niedersachsen sorgen die katholische und die evangelische Kirche derzeit abwechselnd für Schlagzeilen. Im Schatten des Skandals um den früheren Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen, der sexuellen Kindesmissbrauch in seinem Bistum nicht nur verdeckt, sondern auch persönlich verübt haben soll, wagt sich nun die Landeskirche Hannovers mit einer nach oben korrigierten Fallzahl an die Öffentlichkeit.

So hatte ein von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragtes Forscherteam sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche untersucht. Die im Januar in Hannover vorgestellte Studie trägt den Titel "ForuM" und kam zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Betroffenen in Kirche und Diakonie weitaus höher ist als bis dahin angenommen. Es war dann von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern die Rede. In einer Meldung des NDR wurde der Studienleiter Martin Wazlawik mit dem Hinweis zitiert, dabei handele es sich nur um "die Spitze der Spitze des Eisbergs". Denn man hätte deutlich weniger Akten zur Verfügung gehabt als sie den Forschern bei der katholischen Studie vorgelegen hätten.

Nur eine der 20 evangelischen Landeskirchen hätte umfassend Personalakten zur Verfügung gestellt. In einer Hochrechnung waren die Forscher dann auf bundesweit 9.355 missbrauchte Kinder und Jugendliche seit 1946 gekommen. Es habe insgesamt 3.497 Täter gegeben, bei denen es sich zu einem Drittel um Pfarrer oder Vikare handele. Bis zur ForuM-Studie ging man in der evangelischen Kirche von rund 900 Betroffenen aus, also weniger als einem Zehntel der hochgerechneten Opferzahl.

Die Meldung des NDR vom Januar enthält übrigens eine Aussage, die man zweimal lesen sollte. Zitiert wird Studienleiter Wazlawik: "Der schlechte Umgang mit Betroffenen sei demnach häufig auch aus der Haltung heraus geschehen, dass die evangelische Kirche sich als die bessere verstanden habe."

Dass Wazlawiks Vergleich mit der Spitze der Spitze des Eisbergs auch auf die Landeskirche Hannovers zutrifft, ist jetzt deutlich geworden. So habe die Landeskirche im Rahmen der ForuM-Studie weniger Missbrauchsfälle öffentlich kommuniziert, als tatsächlich bekannt sind. Auf massive Kritik von Betroffenen hat die Landeskirche die entsprechenden Zahlen bezogen auf zwei Tatkomplexe um mehr als ein Drittel nach oben korrigiert, wie der NDR berichtet. War man bisher von 140 Betroffenen von sexualisierter Gewalt seit 1946 ausgegangen, gehe man in der Landeskirche nun von "mindestens rund 190 betroffenen Personen" aus. Man habe sich bei den Fallzahlen bislang nur auf jene Personen beschränkt, für die detaillierte Informationen vorgelegen hätten.

In einer Pressemitteilung der Landeskirche wird auf den Betroffenen Jakob Feisthauer verwiesen, der sich bei der Landeskirche gemeldet hatte. So hätten er und 44 weitere Betroffene in zwei Kirchengemeinden sexualisierte Gewalt durch einen Diakon erlitten, der damals zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, weil Feisthauer 2002 als damals 15-jähriger Anzeige erstattet hatte. Feisthauer beantragte Akteneinsicht in die Unterlagen, die die Landeskirche an die ForuM-Studie übermittelt hatte und stellte fest, dass sich die Zahl der Betroffenen in seinem Fall nicht in der veröffentlichten Gesamtzahl wiederfindet.

Man muss der Landeskirche zugute halten, die Kriterien der Ermittlung der Gesamtzahlen jetzt transparent zu machen. In der Pressemitteilung wird der Betroffene Feisthauer auch direkt zitiert: "Seit 2002 habe ich oft erfolglos die Landeskirche auf kritische Punkte hingewiesen. Dass nun diese Anregung von mir und anderen betroffenen Personen aufgenommen wurde, ist für mich noch kein Beleg für ein Umdenken in der Landeskirche (…) die Landeskirche muss noch sehr viel nachholen; für eine Bewertung ist es zu früh". Die Betroffenen, so der NDR, gehen nämlich von noch mehr Fällen aus. Sie fordern eine unabhängige Stelle zur Aufarbeitung der Taten und erneut einen Rücktritt von Landesbischof Ralf Meister.

Bereits im Juni wurden Rücktrittsforderungen gegenüber Meister erhoben, weil die Betroffenen von ihrer Kirche bei der Aufarbeitung der Fälle und beim Nachgehen von Hinweisen immer wieder enttäuscht worden seien. Unter anderem würde auch eine in der Landeskirche eingerichtete Fachstelle für Sexualisierte Gewalt ihren Aufgaben nicht angemessen nachkommen. In diesem Zusammenhang hatte der Humanistische Pressedienst in einem Artikel auch zwei konkrete Fälle vorgestellt, bei denen deutlich wird, wie schlecht der Umgang einer Kirche mit Opfern sexualisierter Gewalt aussehen kann, die sich als die bessere versteht.

Im nächsten Jahr hält die evangelische Kirche ihren Kirchentag in Hannover ab. Ihr Motto ist "mutig, stark, beherzt". Würde sie mutig, stark und beherzt auch an die Aufarbeitung ihrer Missbrauchsfälle herangehen, käme das ganze Elend nicht nur scheibchenweise ans Tageslicht. Geklotzt statt gekleckert wird schließlich auch beim Umfang des Kirchentages: Mit 1.500 Einzelveranstaltungen an insgesamt fünf Tagen möchte man sich als eine Kirche präsentieren, die Verantwortung übernimmt und Großes stemmt. Dass man die Kosten dafür zu einem guten Teil auf die Steuerzahler abwälzt, von denen eine Mehrheit mit Kirche nichts mehr am Hut hat, steht freilich auf einem anderen Blatt.

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