Interview mit Thomas Osten-Sacken

Terrorismus: "Der Krankheitsherd liegt im Nahen Osten"

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Thomas Osten-Sacken

BERLIN. (hpd) Europa ist zu einem verwundbaren Ziel des islamistischen Terrorismus geworden. Der hpd sprach mit dem Nahost-Experten Thomas Osten-Sacken über die Anschläge, Radikalisierung und die Rolle des Islam. 

Der islamistische Terrorismus scheint immer bedrohlicher zu werden. Was hat sich in letzter Zeit konkret verändert?

Die Taktung an Anschlägen nimmt einfach wahnsinnig zu. Allein in den vergangenen drei Wochen gab es in Bagdad über 300 Tote, dann Nizza, Dhaka, Würzburg, … Der Terrorismus kommt außerdem immer näher. Früher hat es pro Jahr einen großen Anschlag in Europa gegeben. Im Moment finden die Attentate dagegen in weitaus kürzeren zeitlichen Abständen statt. 

Gibt es geopolitische Gründe, die dazu beigetragen haben?

Ja, natürlich. Der Nahe Osten hat sich in den letzten fünf bis sechs Jahren in eine "failed region" verwandelt. Anders als die Terrororganisation Al-Quaida, die dezentral organisiert war, verfolgt der IS die Strategie ein Kalifat zu errichten, um damit ein möglichst großes Territorium zu kontrollieren. In den zwei wichtigsten Ländern des Nahen Ostens, nämlich Syrien und Irak, ist damit ein riesiger Rückzugsraum entstanden, von dem aus der Terror orchestriert wird. 

Verfolgen die islamistischen Terroristen dabei auch andere Motivationen als zuvor?

Die Feindstellung ist mit den USA, Israel, der Freiheit und einem selbstbestimmten Leben dieselbe geblieben. Allerdings haben sich die Angriffsziele verändert. Denn heute ist es nicht mehr so einfach in ein Hochhaus zu fliegen. Für diese neuen Terroranschläge gibt es nun keine jahrelange militärische, fast geheimdienstliche Planung mehr. Stattdessen sind sie durch ihre Willkür immer barbarischer und haben nicht mehr den symbolischen Charakter wie alte Formen des Terrorismus.

Zum Soldaten des IS wird man nicht, indem man sich dem IS anschließt, sondern wenn man im Namen des IS mordet und totschlägt. Erst dann ist man IS. Und das verspricht Raqqa jedem auf dieser Welt: "Töte, töte möglichst viele möglichst barbarisch und posthum wirst du einer von uns werden, ein Märtyrer, berühmt, erinnert."

Was kann man nun konkret gegen den Terrorismus tun?

Erstmal muss man für bessere Verhältnisse im Nahen Osten sorgen. Denn dort liegt der Krankheitsherd, der ganz eng mit dem Islamismus und Terrorismus in Europa zusammenhängt. Es macht wenig Sinn den IS in Europa zu bekämpfen, wenn die Ursache in Raqqa und Mosul sitzt. Das wird bis heute nicht verstanden. Stattdessen schustert man an Symptomen herum. Die Lösung des Problems wird durch diese Versäumnisse natürlich zunehmend erschwert. Ganz ähnlich wie bei Zahnschmerzen: Je länger man nicht zum Zahnarzt geht, desto aufwendiger und kostspieliger wird es.  

Man muss sich zudem bewusst machen, dass die Terroristen nicht dumm sind. Islamistische Terroristen lernen viel schneller als ihre Gegner. So hat der IS gelernt, dass sogenannte "Lone-Wolf-Anschläge" durch vermeintliche Einzeltäter eine immens effektive Form des Terrorismus sind. Denn diese Leute, die sich teilweise in zwei Wochen radikalisieren, sind der Alptraum jedes Geheimdienstes und laufen unter jedem Radar. Das sind eben keine Mohammad Attas, sondern irgendwer. Und ein Dutzend von diesen Irgendwers werden ausreichen, um das ganze Land zu paralysieren und in den finalen Irrsinn zu treiben. Und das wiederum wissen die Irgendwers.

Der IS präsentiert sich als radikale Jugendbewegung und inszeniert eine Protestkultur, die viele junge Menschen anspricht. Könnte es eine Deradikalisierungsstrategie sein, andere Protestkulturen zu stärken? 

Klar. Natürlich ist es möglich Alternativen entgegenzusetzen. Das ist allerdings eine wahnsinnig aufwendige und komplizierte Angelegenheit.

Man muss erstmal verstehen, dass es für junge Menschen im Nahen Osten keine Hoffnung auf Zukunft im Status Quo gibt. Sie können auf die Straße gehen und für Demokratie demonstrieren, sie können fliehen oder sich Islamisten anschließen. Aber Europa behandelt die Region so, als könne man den Status Quo wiederherstellen. Die ganzen Demokratie-Aktivisten und Leute des arabischen Frühlings hat man nicht unterstützt, sondern hängen gelassen. Heute sitzen sie frustriert in Gefängnissen, zerbombt in Syrien, sind irgendwo auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken oder ziehen sich ins Private zurück. Das stärkt natürlich die Islamisten, weil sie die Bedürfnisse ernst nehmen und die Sprache der Jugendlichen sprechen. 

Viel wird momentan über islamistische Radikalisierung im Zusammenhang mit der psychischen Verfassung von Terroristen diskutiert. Könnte es nicht sein, dass die Täter einfach Wahnsinnige sind? Oder steht hinter dem Ganzen doch eine Rationalität? 

Diese Dichotomie funktioniert nicht. Islamistische Terroristen haben in der Regel psychische Probleme. Aber das schließt sich nicht aus. Denn die psychischen Probleme erklären nicht, wieso sie Islamisten geworden ist. 

Die Analyse von Ideologien stellt ja die Frage, wie eine politische Bewegung Bedürfnisse befriedigt und wie sie mit Ängsten umgeht, die in immense Aggressionen umgewandelt werden können. Hier gehören sozialpsychologische und psychoanalytische Analysen genauso zusammen, wie politische und geostrategische. So hat man es auch getan, um den Nationalsozialismus zu verstehen.

Kann man den Nationalsozialismus und den Islamismus miteinander vergleichen? Gibt es ideologische Parallelen? 

Natürlich. Der Antisemitismus, der Wunsch nach autoritären Strukturen und der Hass auf die freie Sexualität sind beispielsweise gemeinsame Organisationsformen. Und auch historisch gibt es große Schnittmengen, wie die Faszination vieler Panarabisten und Islamisten für den Nationalsozialismus. Um den Islamismus zu verstehen, ist eine Analyse des Faschismus jedenfalls sehr hilfreich – vielleicht sogar hilfreicher, als den Koran zu lesen.

Wie steht es dabei um das Verhältnis von Islam und Islamismus? 

Selbstverständlich gibt es Unterschiede zwischen den islamischen Vorstellungen und Weltbildern. Der Mainstream-Islam und der Islamismus hängen jedoch miteinander zusammen und es gibt eine enorm große Überschneidung in wichtigen Fragen: Wie hältst du es mit der Volkssouveränität? Wie hälst du es mit von Menschen gemachten Gesetzen? Wie hälst du es mit Antisemitismus? Wie hälst du es mit der Gleichberechtigung der Geschlechter? 

Wenn man diese Fragen an die Vertreter der offiziellen Islamverbände in Deutschland stellt, wird man Ausflüchte und Gestammel hören. Die Politik hat diese Fragen immer ausgeklammert, um gemeinsam mit den Verbänden gegen Extremismus zu arbeiten und einen Dialog zu führen. Ich halte das für einen der fatalsten Ansätze, die man sich vorstellen kann. Diesen Verbänden geht es um Herrschaftsstabilisierung und die permanente Verteidigung einer anti-emanzipatorischen Haltung. Dabei vertreten sie nur einen winzigen Bruchteil der in Deutschland lebenden Muslime.

Die Islamdebatte polarisiert. Auf der einen Seite finden sich Positionen, die fremdenfeindliche Ressentiments gegen Muslime hegen. Auf der anderen Seite stehen Kulturrelativisten, die die konfliktreiche Rolle des Islam beschönigen oder kleinreden. Wie ist eine humanistische Islamkritik zwischen diesen zwei Fronten möglich?

Glücklicherweise gibt es Leute wie Ahmad Mansour, Hamed Abdel-Samad, Necla Kelek und Mina Ahadi, denen niemand vorwerfen kann, dass sie weiße Rassisten sind. Sie zeigen, dass es eine Islamkritik gibt, die Menschenrechte auf eine universalistische, kulturübergreifende Basis stellt.


Das Interview führte Florian Chefai für den hpd