Ein Mathematiker über die Anatomie der Ungleichheit

Ungleichheit ist kein Schicksal

Der schwedische Mathematiker Per Molander, ein Experte für Verteilungsfragen, analysiert in seinem Buch "Die Anatomie der Ungleichheit. Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können" die im Untertitel genannten Fragen. Auch wenn seine Analyse etwas sprunghaft und unstrukturiert wirkt, wird doch anschaulich deutlich, dass die Entwicklung zwar besondere Gründe hat, sie aber durch politische Entscheidungsprozesse sehr wohl veränderbar ist.

Folgt man den Angaben der britischen Entwicklungshilfeorganisation Oxfam, dann besitzen die 85 reichsten Menschen der Welt ungefähr genauso viel wie die aus 3,5 Milliarden Menschen bestehende ärmere Hälfte der Erdbevölkerung. Dieses Ausmaß an Ungleichheit lässt sich in etwas geringerem Ausmaß, aber in der Gesamttendenz ähnlich auch in den europäischen Nationalstaaten selbst konstatieren. Für die damit einhergehende Entwicklung gibt es historische und strukturelle, aber auch politische und soziale Gründe. Sie will der Mathematiker Per Molander, der ein anerkannter Experte für Verteilungsfragen in Schweden ist, in seinem Buch "Die Anatomie der Ungleichheit. Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können" erörtern. Man darf indessen nicht von der beruflichen Prägung auf die Inhalte der Kapitel schließen. Der Autor konfrontiert die Leser keineswegs nur mit Statistiken, wenngleich man sie auch in dem Buch findet. Dieses ist vielmehr von einer bunten Mischung aus methodischen Vorgehensweisen geprägt.

Es geht um eine Analyse des gemeinten Missverhältnisses, wobei Molander zunächst einen langen Blick zurück in die Geschichte macht. Dabei blickt er auf die Frühphase der Menschen, leitet aber auch etwas aus den Forschungen zum Primatenverhalten ab. Deutlich wird dabei, dass mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaften eben auch die Ungleichheit wuchs. "Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die klassischen Gesellschaften … von erheblicher Ungleichheit gekennzeichnet waren. Vom Anbeginn der Geschichte und in der klassischen Epoche bestand das Leben des absolut größten Teils der Bevölkerung für den meisten Teil der Zeit in einem Kampf ums Überleben" (S. 50). Das ist zunächst aber nur eine beschreibende Feststellung, woraus keine normativen Schlüsse gezogen werden können. Die Entwicklung erklärt sich der Autor zu großen Teilen dadurch, dass aus unterschiedlichen Besitzverhältnissen der Marktteilnehmer als Folge von Konkurrenzen notwendigerweise größere Ungleichheitspotentiale entstanden seien und weiter entstehen würden.

Molander macht danach die unterschiedlichsten Ausflüge in die Theoriegeschichte. Hierbei geht es auch um die Vertragstheorien von Hobbes bis Rawls. Er verweist darüber hinaus auf die Theorie seines Kollegen John Nash, der in den 1950er Jahren gezeigt habe, dass der Stärkere in Verhandlungen immer mehr als 50 Prozent herausschlage. Doch dann wird der Mathematiker auch politisch, denn die aufgezeigte Entwicklung sei beeinfluss- und veränderbar. Molander fragt anschließend danach, wie Konservative, Liberale und Sozialdemokraten mit der Ungleichheit umgegangen seien. Bei der letztgenannten politischen Bewegung hat er deren Repräsentanten in den skandinavischen Ländern vor Augen. Dort entstanden nach 1950 – durch politische Entscheidungen die Ungleichheit minimierende - entwickelte Wohlfahrtsstaaten. Damit sei auch ein Anstieg des Vertrauens der Gesellschaft zum Staat erfolgt. Bilanzierend heißt es: "Ohne eine aktive Verteilungspolitik bewegt sich eine Gesellschaft … unweigerlich auf die Ungleichheitsgrenze zu …" (S. 187).

Der Autor erinnert demnach an eine Selbstverständlichkeit: Es gibt kein Schicksal zur Ungleichheit. Zwar setzte die gegenwärtig beklagte Entwicklung bereits in den 1970er Jahren ein und wurde erst Jahrzehnte später in ihren Dimensionen und Folgen genauer verstanden. Gleichwohl war und ist ein gegensteuern möglich. Sein Schluss lautet daher, "dass die Werkzeuge, die in der Nachkriegszeit zum Ausbau der skandinavischen Wohlfahrtsstaaten zum Einsatz kamen, nichts an ihrer Wirkung verloren haben" (S. 184). Aber auch dort gibt es eine gegenläufige Entwicklung. Gerade Molanders Heimat Schweden, das ökonomisch entwickelte Land, das lange auch als das egalitärste galt, ist von einem Trend hin zu immer mehr sozialer Ungleichheit geprägt. Dies spricht nicht gegen seine Feststellungen. Sie sind auch in der Sache nicht neu, nur hier auf etwas ungewöhnlichem Wege präsentiert worden. Es geht ein wenig in dem Buch bei den Ebenen und Inhalten durcheinander. Die Leichtigkeit der Schreibe geht mitunter auf die Stringenz der Argumentation.

Per Molander, Die Anatomie der Ungleichheit. Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können, Frankfurt/Main 2017 (Westend-Verlag), 218 S., 24,00 Euro