Im Dezember 2016 gründeten 25 Organisationen und Initiativen die "Bundesarbeitsgemeinschaft religiöser Extremismus". Im Gespräch sprechen die Vorstandsvorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft Friederike Müller und Götz Nordbruch über die Nähe von Salafismus und Rechtsextremismus, die Auseinandersetzung mit christlich-extremistischen Strömungen sowie die Frage, warum sich die Gesellschaft selbst verändern muss, um religiösem Extremismus vorzubeugen.
hpd: Im November 2016 haben 25 Träger die "Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus" gegründet. Was hat diese Initiativen zusammengeführt?
Götz Nordbruch (GN): Die Themen Prävention und Deradikalisierung spielen in der Bildungs- und Jugendarbeit schon einigen Jahren eine große Rolle, das spiegelt sich in der Vielzahl der zivilgesellschaftlichen Träger, die hier mittlerweile aktiv sind. Anders als im Bereich der Rechtsextremismusprävention gibt es aber bisher kaum Strukturen, die einen Fachaustausch über Erfahrungen und Ansätze ermöglichen. Das ist ein großes Manko, denn ein solcher Austausch wird mit der sichtbaren Polarisierung der Gesellschaft und der damit verbundenen Herausforderungen immer notwendiger. Angesichts der Anschläge im vergangenen Jahr und der wachsenden Zahl von gewaltbereiten Islamisten werden auch Ansätze der Deradikalisierung immer wichtiger – und zwar nicht nur in vereinzelten Projekten, sondern bundesweit und flächendeckend.
Friederike Müller (FM): Über die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) möchten wir unseren Mitgliedern mit ihren vielfältigen Arbeitsansätzen eine breite Vernetzung und Austausch von Knowhow bieten, die Arbeit weiterentwickeln und langfristig sichern. Hierzu bedarf es kontinuierlicher Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit. Auch möchten wir uns mit Trägern aus anderen Themenfeldern von Radikalisierung, zum Beispiel Rechtsradikalisierung und Sektenprävention, vernetzen, um von deren Erfahrungen zu profitieren. Viele Kolleg*innen aus der BAG arbeiten auch in sicherheitsrelevanten Bereichen mit einem hohen persönlichen Risiko. Auch hier wollen wir gemeinsam Antworten auf schwierige Fragestellungen und Prozesse wie den Umgang mit Datenschutz und Gefährdungsbereichen erarbeiten.
Was genau verstehen Sie unter "religiös begründetem Extremismus"?
FM: Religiös begründeter Extremismus legitimiert Gewalt, Menschenfeindlichkeit und Alleinherrschaft durch beziehungsweise mit vermeintlich religiösen Quellen. Die Anziehungskraft neosalafistischer Strömungen ist allerdings ein komplexer Prozess, der von diversen politischen, gesellschaftlichen und biografischen Faktoren beeinflusst wird.
GN: In der Debatte werden unterschiedliche Begriffe benutzt, um das Phänomen von religiös begründeter Demokratie- und Freiheitsfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft zu beschreiben. Unter "religiös begründetem Extremismus" verstehen wir die Ablehnung von Grundwerten der Gesellschaft wie Pluralismus, Demokratie und Gleichberechtigung, die mit einem offensiven Werben für eine vermeintlich islamische Ordnung einhergeht. Der Islam – wie er von Anhängern dieser Strömungen verstanden wird – steht für eine grundsätzliche Alternative zur bestehenden Gesellschaft. Dieses Denken kann gewaltbereite Formen annehmen, oft propagieren diese Strömungen aber keine Gewalt, sondern wollen die Gesellschaft beispielsweise durch Missionsarbeit umkrempeln. Im pädagogischen Alltag äußert sich dies in der Regel in einer Abwertung von Andersdenkenden, der Ablehnung von Pluralismus und gesellschaftlichen Unterschieden und dem Anspruch auf eine absolute Wahrheit. Ein solches Denken beschränkt sich nicht nur auf Muslime, sondern spielt in Deutschland auch im Christentum oder in sektenähnlichen Gemeinschaften eine Rolle. Auch hier gibt es Gläubige, die ihren Glauben zur alleinigen Grundlage der Gesellschaft erklären, andere abwerten, sozialen Druck ausüben und politische Geltungsanspruch erheben.
Ist religiöser Extremismus ein wachsendes Phänomen oder achten wir aktuell nur verstärkt darauf?
GN: Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren stark polarisiert, das äußert sich zum Beispiel im Rechtspopulismus der AfD oder PEGIDA, aber auch in der wachsenden Attraktivität des Salafismus auf Jugendliche und junge Erwachsene. Rechtspopulismus und Salafismus ähneln sich darin, dass sie Orientierung bieten in einer immer schwerer zu durchschauenden Gesellschaft und einfache Antworten auf Fragen geben, die sich im Alltag stellen. Dies sind nicht zwangsläufig religiöse Fragen, oft geht es auch um Geschlechterrollen, Gerechtigkeit in der Gesellschaft, den Umgang mit unterschiedlichen Lebensweisen. Salafismus bietet wie Rechtspopulismus und Rechtsextremismus Halt und Gemeinschaft, wo Sicherheiten und bestehende Orientierungspunkte verschwinden. Und sie geben dem Leben einen Sinn: im Rechtsextremismus ist es das Wohl oder das Überleben des "Volkes", im Salafismus der Glauben und die umma, die Gemeinschaft der Muslime. Religiös extremistische Positionen sind heute deutlich sichtbarer als noch vor einigen Jahren. Und es deutet einiges darauf hin, dass sie durch islamfeindliche Diskurse und Angriffe auf Muslime und Moscheen noch bestärkt werden.
FM: Salafistische Radikalisierung nimmt in der Tat zu. Die Facetten des Phänomens können sehr unterschiedlich sein, sie reichen von Missionierung auf Schulhöfen, Jugendzentren, Moscheen und in Fußgängerzonen über den Konsum perfekt inszenierter Dschihadisten-Videos bis hin zur Beteiligung an Anschlägen und Kampfhandlungen in Syrien auf Seiten des IS. "Soziale Netzwerke" spielen bei dieser Entwicklung eine große Rolle.
Was sind Ihrer Erfahrung nach die Gründe dafür, dass Menschen immer wieder extremistischen Ideologien hinterherlaufen?
GN: Die Biographien sind sehr vielfältig, es gibt nicht "den" Typen, der sich diesen Szenen zuwendet. Letztlich gibt es auch hier Parallelen zum Rechtsextremismus, denn auch im Rechtsextremismus unterscheiden sich die Biographien zwischen Anhängern einzelner Szenen – zum Beispiel von Kameradschaften, den Identitären oder dem rechtsextremen Flügel der AfD – zum Teil deutlich, auch wenn sie ideologisch sehr ähnlich sind. Auch islamistische und salafistische Szenen unterscheiden sich im Auftritt, nach ideologischem Angebot, nach Habitus und Organisationsweise, weshalb beispielsweise militant auftretende Gruppen aus dem Dunstkreis des IS andere Menschen ansprechen als beispielsweise Organisationen wie die Hizb ut-Tahrir, die sich intellektuell und politisch, aber weniger religiös gibt. Im Bereich des religiös begründeten Extremismus gibt es Vertreter, auf die das gängige Bild der gescheiterten Kleinkriminellen zutrifft, die im Salafismus und vor allem im gewaltbereiten Dschihadismus einen Neuanfang suchen. Allerdings finden sich in den salafistischen Szenen eben auch bildungsnahe und gut etablierte Personen, auf die dieses Bild der gescheiterten Existenz nicht zutrifft. Ähnlichkeiten bestehen in der Suche nach Orientierung, Gemeinschaft, Sinn und Halt, die gerade in persönlichen Krisen, bei Konflikten in der Familie, oder beim Übergang von Schule in den Beruf wichtig sind. Dabei spielt oft auch ein allgemeines Unbehagen, eine Unzufriedenheit oder das Gefühl von Ausgrenzung und Diskriminierung eine Rolle. Der Salafismus präsentiert sich als gerechte und egalitäre Bewegung, die Erfahrungen mit Rassismus und Marginalisierung bewusst instrumentalisiert und den Eindruck vermittelt, hier könnte man für eine wirklich gerechte Sache kämpfen. Deshalb werden Angriffe gegen Muslime hier ganz gezielt ausgenutzt, um den Eindruck zu schüren, Muslime seien Nichtmuslimen hilflos ausgeliefert, der Westen führe einen Krieg gegen Muslime. Der Einreisestopp in den USA, die Burkinidebatte in Frankreich oder die Anschläge auf Moscheen in Deutschland sind Wasser auf die Mühlen der Salafisten, weil sie Jugendlichen den Eindruck geben, nicht mehr ohnmächtig zu sein, sondern etwas tun zu können, um eigene Interessen durchzusetzen. Dabei geht es Salafisten allerdings nicht darum, sich für gleiche Rechte und gegen Rassismus einzusetzen, sondern den Konflikt mit "den Ungläubigen" anzufeuern und die Gesellschaft zu spalten. Trotzdem erleben ihre Anhänger dies als Selbstwirksamkeit.
FM: Das Phänomen der Radikalisierung lässt sich nicht einer bestimmten sozialen Gruppe zuordnen und muss losgelöst vom Bildungsstatus der Familien gesehen werden. Bei allen von uns betreuten jungen Menschen gab es immer wiederkehrende Merkmale, die häufig aufeinandertreffen und zu einer Radikalisierung führen können. Hierzu gehören neben Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen auch Problemlagen in der Familie, fehlende Vaterfiguren, Perspektivlosigkeit, Entwicklungsstörungen oder auch psychische Erkrankungen.
Was fördert Religiosität Ihrer Erfahrung nach eher: die Neigung zum Extremismus oder die Abneigung gegenüber extremistischen Ideologien?
FM: Die Praxis zeigt uns, dass nahezu alle "Fälle" in unseren Beratungen eher aus liberalen oder nichtreligiösen Familien kommen. Durch ihr Nicht- beziehungsweise Halbwissen sind diese jungen Menschen besonders anfällig für rigide ausgelegte Auszüge aus dem Koran und Missionierungsversuche von Hasspredigern. Religiosität verbindet sich für viele Muslime mit dem Gefühl von kultureller Identität und Sicherheit und liefert Jugendlichen häufig auch eine Orientierung an gemeinsamen Werten und Normen, die durch die Eltern weitergegeben werden.
GN: Religion ist letztlich das, was Menschen daraus machen. Das gilt für den Islam genauso wie für das Christentum oder das Judentum. Religionen können das Zusammenleben fördern und dem Einzelnen Halt geben, sie lassen sich aber auch in einer Weise deuten, dass mit dem Glauben ein Anspruch auf Wahrheit und Dominanz einhergeht. Die Herausforderung besteht darin, Jugendlichen eigene Wege aufzuzeigen und sie darin zu bestärken, dass Religiös-sein nicht im Widerspruch zur Zugehörigkeit in der Gesellschaft zu sehen. Für die allermeisten Muslime ist es selbstverständlich, dass sie deutsch und muslimisch sind – im öffentlichen Bewusstsein ist dies aber oft nicht präsent. Die Sarrazin-Debatte hat dies sehr deutlich gemacht. Umfragen unter Muslimen zeigen, dass solche Debatten das Gefühl von Zugehörigkeit unter Muslimen stark beeinträchtigen. Salafisten greifen diese Debatten auf und bestärken das Gefühl der Ausgrenzung und Nichtzugehörigkeit: "Muslime haben in einer nichtmuslimischen Gesellschaft nichts zu suchen." Mit ihrer Ideologie geben sie jenen eine Stimme, die ansonsten den Eindruck haben, nicht zu Wort kommen.
Worin genau besteht die Arbeit der BAG? Ist sie als übergeordnete Struktur gedacht, um bestehende Projekte zu koordinieren, oder arbeiten die Träger eigenständig unter einem Logo?
GN: Die BAG bietet ein Forum für den Austausch von Erfahrungen, die von zivilgesellschaftlichen Trägern in ganz unterschiedlichen Handlungsfeldern und mit verschiedenen Zielgruppen gemacht werden. Diese reichen von der Online-Seelsorge, politischer Bildung, Straßensozialarbeit bis hin zu familientherapeutischer Arbeit mit Angehörigen von Dschihadisten. Diese Vielfalt der Akteure und Ansätze ist eine Stärke der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit in Deutschland – gerade auch im Vergleich mit anderen Ländern. Nur so kann man den zahlreichen Faktoren, die die Hinwendung zu religiös extremistischen Szenen begünstigen, vernünftig entgegenwirken.
Dabei kommt der Zivilgesellschaft eine besondere Rolle zu. Anders als staatliche Stellen ist sie dichter dran, genießt größeres Vertrauen und kann schneller reagieren. Und sie steht nicht im Verdacht, allein sicherheitspolitischen Interessen zu folgen. Daher geht es in der BAG nicht um eine "Vereinheitlichung", sondern gerade darum, die verschiedenen Facetten und Handlungsmöglichkeiten sichtbar zu machen. Die Aufgabe der BAG besteht auch darin, die Erfahrungen der Zivilgesellschaft in der öffentlichen Diskussion sichtbar zu machen. In Ländern wie Frankreich beschränken sich die Ansätze noch immer weitgehend auf staatliche Programme – was mit erheblichen Problemen verbunden ist, weil die Angebote nicht glaubwürdig sind und kaum da ankommen, wo sie benötigt werden. Und es fällt dort deutlich schwerer, sich von den sicherheitspolitischen Prioritäten zu lösen. Die BAG will die zivilgesellschaftlichen Ansätze daher stärken und auch gegenüber der Politik vertreten. Dabei lässt sich viel aus den Erfahrungen aus dem Bereich des Rechtsextremismus lernen.
FM: Alle Mitglieder sind völlig autonom in ihrer Arbeit. Wir verstehen uns als Interessenvertretung und Arbeitsgemeinschaft. Die Weiterentwicklung und Qualitätssicherung unserer Arbeit sind unser Anliegen.
In der Gründungserklärung heißt es, dass die BAG die Arbeit der Träger in politischen und fachwissenschaftlichen Diskussionen sichtbar machen möchte. Was für Projekte und Initiativen sind das und wie funktionieren diese?
GN: Bisher gibt es nur wenige Studien, die etwas über die Wirkung von Ansätzen der Prävention und Deradikalisierung aussagen. Dies ist eine große Lücke, die erst in den nächsten Jahren geschlossen werden wird. Die BAG soll solche Forschungen erleichtern und vor allem auch dabei helfen, diese Ergebnisse in der praktischen Arbeit umzusetzen. Gleichzeitig sind die Erfahrungen der Projekte eine gute Grundlage, um Hintergründe, Ausdrucksformen und Strukturen religiös-extremistischer Szenen zu erforschen. Unsere Mitglieder werden immer wieder mit ihrer Expertise für Forschungsprojekte angefragt, weil es sonst für Wissenschaftler oft sehr schwierig ist, an solche Daten und Einschätzungen zu kommen.
FM: Mittlerweile gibt es einige Projekte in der BAG die auch wissenschaftlich begleitet oder evaluiert werden. Auch haben einige Mitglieder eine langjährige Expertise in dem Arbeitsfeld. Häufig sind wir "Berater*innen" für politische Gremien oder Teilnehmer*innen in medialen Diskursen. Unsere vielfältige Expertise ist gefragt. Durch gemeinsam organisierte Fachtage und Diskussionsveranstaltungen sowie öffentliche Präsenz möchten wir unsere Positionen und Erfahrungen in den gesellschaftlichen und öffentlichen Fachdiskurs einbringen. Die BAG möchte Praxis und Theorie beziehungsweise Wissenschaft miteinander verzahnen, sodass sinnvolle Synergien entstehen können. Wir verstehen uns als eine "voneinander lernende" Arbeitsgemeinschaft.
Steht dabei eher die Stärkung der Praxis oder der Theorie im Vordergrund?
FM: Vorrangig geht es um die Stärkung der Praxis. Die Theorie bahnt sich, wie die Erfahrung lehrt, immer ihren eigenen Weg. Wie werden natürlich versuchen unsere praktischen Erkenntnisse auch in wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse einzubringen. Da die meisten Träger aus der Jugendhilfe kommen, muss man unsere Arbeit auch im engen Zusammenhang mit der Weiterentwicklung, Sicherung und Förderung der Jugendhilfe respektive Jugendsozialarbeit sehen. Aber auch die Sensibilisierung und Weiterentwicklung des Bildungs-/Weiterbildungssektors findet in der BAG durch ihre Mitglieder Berücksichtigung. Da die meisten Mitglieder der BAG einen gesellschaftlichen, am Gemeinwesen orientierten Auftrag haben, steht auch die gesellschaftliche und öffentliche Sensibilisierung als ein Aspekt unserer Arbeit im Fokus.
Braucht es Sensibilisierung noch in dieser Zeit, in der es derart viele Vorbehalte gegenüber nicht-westlichen Lebenseinstellungen gibt?
GN: Die aktuelle Debatte konzentriert sich immer noch auf sicherheitspolitische Fragen – und ist nicht selten auch von islamfeindlichen Positionen geprägt. Sensibilisierung bedeutet, die verschiedenen Ursachen von Radikalisierungen zu erkennen und dabei auch ein Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es hier eben nicht um "den" Islam und "die Muslime" geht. Das Problem ist in vielerlei Hinsicht hausgemacht, weshalb Prävention und Deradikalisierung immer auch bedeutet, dass sich die Gesellschaft selbst verändern muss.
FM: Wir müssen sehr genau hinschauen, um die Rassismusdebatte nicht mit einer Wertedebatte zu vermischen, Menschenrechte sind nicht verhandelbar, Menschenrechtsverstöße sind nicht tolerierbar. Vielfalt ist wichtig, aber nicht um den Preis von errungenen Freiheitsrechten. Das muss sowohl für die Migrationsgesellschaft als auch für die Mehrheitsgesellschaft gelten. Sensibilisierung für Minderheiten und vielfältige Lebensformen sind wechselseitig notwendig. Interkulturelle und diversitätsbewusster Umgang miteinander sollte schon im Kindergarten vermittelt werden und von allen gesellschaftlichen Akteuren gelebt und eingefordert werden. Prävention und Deradikalisierungsarbeit kann nicht losgelöst von Sensibilisierungsarbeit und der Förderung von interkultureller Kompetenz aller Beteiligten gesehen werden.
Künftig wollen sie auch "andere Formen religiös begründeter Extremismen" in den Blick nehmen, heißt es in Ihrer Erklärung. Woran denken Sie da beispielsweise? Spielen religiöse Sekten beispielsweise noch eine bedeutende Rolle in diesen Zeiten?
FM: Wer in dem Themenfeld Radikalisierung arbeitet, sollte sich immer mit den Arbeitsfeldern vernetzen, die ähnliche Phänomene bearbeiten. Denn die Ursachen einer Radikalisierung im Sinne eines "Aussteigen aus der Gesellschaft" sind oftmals die gleichen. Ob andere religiöse Sekten, Neofaschismus oder ein Abdriften in die Kriminalität – in allen Fällen handelt es sich um demokratiefeindliche Haltungen, von Menschen, die sich "abgehängt" und ausgegrenzt fühlen. Wir möchten voneinander lernen und denen ein Netzwerk bieten, die über keine Vernetzungsstrukturen verfügen.
Den Erfahrungen nach herrscht auf Regierungsseite eine große Skepsis gegenüber Untersuchungen von christlich-religiösem Extremismus. Da Sie öffentlich finanziert sind frage ich mich, ob Sie entsprechende Vorbehalte bei der Behandlung ihres Förderantrags feststellen können?
GN: Die Auseinandersetzung mit christlich-extremistischen Strömungen ist tatsächlich schwierig, auch aus politischen Gründen. Positionen, wie sie beispielsweise von einigen evangelikalen Akteuren vertreten werden, werden in der öffentlichen Wahrnehmung nicht in gleicher Weise als Problem gesehen. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, auch diese Formen des religiösen Extremismus zu thematisieren. Zugleich gibt es bisher nur wenige Träger, die sich diesem Thema widmen. Wir hoffen, dass sich dies zukünftig ändert.
FM: Christlicher Extremismus oder auch die Scientologen wurden öffentlich kritisch diskutiert. Extremistischer, menschenfeindlicher Umgang und Missbrauch von Kindern und Jugendlichen – zum Beispiel auch in religiösen Internaten und Klöstern sorgen immer wieder für Skandale. Derartigen Themen darf sich Politik und Gesellschaft nicht verschließen, auch wenn die Kirchen staatlich subventioniert werden und ihr "Eigenleben" führen. Es darf keine Nischen für Kindesmissbrauch und religiös begründeter Menschenfeindlichkeit geben.
Sie stellen hier stark auf Missbrauch ab. Wie verhält es sich etwa mit den so genannten Lebensschützern, die mit ihren erzreligiösen Ansichten Frauen und Familien in Gewissenskonflikten unter Druck setzen und Frauenärzte, die Abtreibungen vornehmen, bedrohen.
GN: Das Problem geht natürlich über das Problem von Missbrauch hinaus. Für alle religiösen Extremismen gilt, dass sie sehr restriktive Vorstellungen von Geschlechterrollen, sexueller Orientierung oder auch Familienbilder haben. Gesellschaftlicher Pluralismus steht aus dieser Sicht im Widerspruch zur gottgewollten Ordnung. Deswegen treffen sich islamistische und evangelikale Strömungen zum Beispiel in ihrer Ablehnung von Homosexualität. In Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, spiegelt sich das zum Beispiel in Kampagnen gegen eine diversitätsbewusste Gestaltung von Lehrplänen. In der pädagogischen Arbeit wird ein solches Denken nicht erst dann problematisch, wenn es in Gewalt umschlägt, sondern bereits dann, wenn es mit Abwertungen und sozialem Druck einhergeht. Hier ist es zweitrangig, welche ideologische Motivation dahintersteht, problematisch ist das Handeln.
Anfang Januar hat sich der BAG-Vorstand das erste Mal getroffen, um Arbeitsschwerpunkte festzulegen. Auf welche Ziele hat man sich für 2017 verständigt?
GN: In diesem Jahr werden wir die Grundlagen für den Fachaustausch unter den Mitgliedern legen. Die Mitglieder kämpfen alle mit sehr vielen Baustellen, von Fragen nach der Finanzierung der Träger, Problemen bei der tariflichen Eingruppierung der Mitarbeiter*innen, Fragen des Datenschutzes bis hin zu Fragen der Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden, Standards der jeweiligen Arbeit oder der notwendigen Qualifikation der Mitarbeiter. Wir sind gerade dabei, die wichtigsten Baustellen auszumachen und dazu Arbeitsgruppen einzurichten, in denen die Mitglieder gemeinsame Positionen entwickeln können.
Zugleich werden wir schon in diesem Jahr im Rahmen eines Fachtages Erfahrungen aus der praktischen Arbeit vorstellen und dabei auch eine breitere Öffentlichkeit einbinden, die nicht direkt aus der Prävention und Deradikalisierung kommt. Hier geht es zum Beispiel darum, den Wissenstransfer in Regelangebote in der Jugendhilfe und Schule zu fördern.
Anlässlich der Bundestagswahl ist es auch unser Ziel, erste Empfehlungen für eine zukünftige Präventions- und Deradikalisierungsarbeit zu formulieren. Der politische Rahmen ist für die Arbeit der meisten Träger ganz entscheidend. Dies betrifft die Finanzierung der Arbeit, aber auch den rechtlichen Rahmen, vor allem aber auch den politischen Diskurs über Fragen nach der Stellung des Islams in der Gesellschaft, das Selbstverständnis als Migrationsgesellschaft oder das Thema Flucht und Geflüchtete.
Können Sie sich auch einen atheistisch oder humanistisch geprägten Extremismus vorstellen? Wenn ja, wie sähe der aus?
FM: Humanismus und Extremismus? Wie soll das zusammenpassen? Wir müssen nichts konstruieren. Die bestehenden Formen des Extremismus reichen uns als Arbeitsfeld, alles andere wäre an den Haaren herbeigezogen.
Was genau kann die oder der Einzelne tun, wenn sie oder er das Gefühl hat, dass nahestehende Menschen in extremistische Bahnen geraten?
FM: Es gibt in allen Bundesländern Beratungsstellen. Auf unserer Homepage www.bag-relex.de, die noch im Aufbau ist, finden sie die meisten davon. Auch wenn die Seite noch nicht vollständig ist, geben diese Organisationen Auskunft darüber, wo es entsprechende Beratungsstellen in der Nähe gibt. Viele haben auch eine Hotline.
Wie bewahrt man sich selbst vor Extremismus? Gibt es so etwas wie drei goldene Regeln, die man beachten kann?
FM: Den gesunden Menschenverstand nutzen – unterschiedliche Informationsquellen, Medien und den Austausch mit Menschen nutzen. Offenen Umgang mit vielfältigen Menschen pflegen und selber neugierig bleiben. Gute familiäre und freundschaftliche Netzwerke aufbauen und soziales, kulturelles und sportliches Engagement.
Das Interview führte Thomas Hummitzsch für den hpd.
3 Kommentare
Kommentare
Walter Otte am Permanenter Link
• Der Artikel von Thomas Hummitzsch hinterlässt zwiespältige Gefühle.
• Auch an den hpd stellen sich Fragen: Warum wird ein solcher unkritischer Artikel veröffentlicht? Sieht der hpd den ZMR als Verbündeten im Kampf für eine offene Gesellschaft? Ist der hpd neuerdings auf dem islamistischen Auge blind? Oder wurde lediglich oberflächlich recherchiert?
angelika richter am Permanenter Link
"Religiös extremistische Positionen sind heute deutlich sichtbarer als noch vor einigen Jahren.
Es deutet auch einiges darauf hin, dass durch die offensiv proislamische Haltung bzw Propaganda der hiesigen Regierung islamfeindliche Diskurse bestärkt bzw eigentlich lediglich islamkritische oder -skeptische Diskurse erst in diese umgedeutet wurden.
Thomas Baader am Permanenter Link
Zwei Anmerkungen:
Erstens: "Können Sie sich auch einen atheistisch oder humanistisch geprägten Extremismus vorstellen? Wenn ja, wie sähe der aus? FM: Humanismus und Extremismus? Wie soll das zusammenpassen?"
Auch meiner Ansicht nach gibt es derzeit kein Phänomen "atheistischer/humanistischer Extremismus" (auch wenn bisweilen von religiöser Seite so getan wird, als gäbe es das). Dennoch bin ich mit der Antwort nicht ganz einverstanden, denn die Frage ja, ob man sich das vorstellen könnte. JEDE Philosophie/Ideologie/Weltanschauung kann sich theoretisch zum Extremismus steigern, wenn sie an die Schaltstellen der Macht gelangt und dann alle Meinungen, die nicht der eigenen entsprechen, nicht mehr zulässt. In dem Sinne sind sehr viele Extremismen vorstellbar (atheistisch, humanistisch, feministisch, Vegetarier, Präastronautik etc.), auch wenn sie gegenwärtig nicht existieren und ihre Entstehung eher unwahrscheinlich ist.
Zweitens: "Die Sarrazin-Debatte hat dies sehr deutlich gemacht. Umfragen unter Muslimen zeigen, dass solche Debatten das Gefühl von Zugehörigkeit unter Muslimen stark beeinträchtigen."
Kann nicht sein. Ich habe die Sarrazin-Debatte damals sehr aufmerksam verfolgt und erinnere mich, dass eine Untersuchung festgestellt hatte, dass die meisten Muslime die Debatte gar nicht mitgekriegt hatten und der Namen Sarrazin ihnen gar nichts sagte (die meisten Muslime konsumieren nur Medien ihrer Herkunfstländer, dort war nicht über Sarrazin berichtet worden).