Im Dezember 2016 gründeten 25 Organisationen und Initiativen die "Bundesarbeitsgemeinschaft religiöser Extremismus". Im Gespräch sprechen die Vorstandsvorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft Friederike Müller und Götz Nordbruch über die Nähe von Salafismus und Rechtsextremismus, die Auseinandersetzung mit christlich-extremistischen Strömungen sowie die Frage, warum sich die Gesellschaft selbst verändern muss, um religiösem Extremismus vorzubeugen.
hpd: Im November 2016 haben 25 Träger die "Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus" gegründet. Was hat diese Initiativen zusammengeführt?
Götz Nordbruch (GN): Die Themen Prävention und Deradikalisierung spielen in der Bildungs- und Jugendarbeit schon einigen Jahren eine große Rolle, das spiegelt sich in der Vielzahl der zivilgesellschaftlichen Träger, die hier mittlerweile aktiv sind. Anders als im Bereich der Rechtsextremismusprävention gibt es aber bisher kaum Strukturen, die einen Fachaustausch über Erfahrungen und Ansätze ermöglichen. Das ist ein großes Manko, denn ein solcher Austausch wird mit der sichtbaren Polarisierung der Gesellschaft und der damit verbundenen Herausforderungen immer notwendiger. Angesichts der Anschläge im vergangenen Jahr und der wachsenden Zahl von gewaltbereiten Islamisten werden auch Ansätze der Deradikalisierung immer wichtiger – und zwar nicht nur in vereinzelten Projekten, sondern bundesweit und flächendeckend.
Friederike Müller (FM): Über die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) möchten wir unseren Mitgliedern mit ihren vielfältigen Arbeitsansätzen eine breite Vernetzung und Austausch von Knowhow bieten, die Arbeit weiterentwickeln und langfristig sichern. Hierzu bedarf es kontinuierlicher Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit. Auch möchten wir uns mit Trägern aus anderen Themenfeldern von Radikalisierung, zum Beispiel Rechtsradikalisierung und Sektenprävention, vernetzen, um von deren Erfahrungen zu profitieren. Viele Kolleg*innen aus der BAG arbeiten auch in sicherheitsrelevanten Bereichen mit einem hohen persönlichen Risiko. Auch hier wollen wir gemeinsam Antworten auf schwierige Fragestellungen und Prozesse wie den Umgang mit Datenschutz und Gefährdungsbereichen erarbeiten.
Was genau verstehen Sie unter "religiös begründetem Extremismus"?
FM: Religiös begründeter Extremismus legitimiert Gewalt, Menschenfeindlichkeit und Alleinherrschaft durch beziehungsweise mit vermeintlich religiösen Quellen. Die Anziehungskraft neosalafistischer Strömungen ist allerdings ein komplexer Prozess, der von diversen politischen, gesellschaftlichen und biografischen Faktoren beeinflusst wird.
GN: In der Debatte werden unterschiedliche Begriffe benutzt, um das Phänomen von religiös begründeter Demokratie- und Freiheitsfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft zu beschreiben. Unter "religiös begründetem Extremismus" verstehen wir die Ablehnung von Grundwerten der Gesellschaft wie Pluralismus, Demokratie und Gleichberechtigung, die mit einem offensiven Werben für eine vermeintlich islamische Ordnung einhergeht. Der Islam – wie er von Anhängern dieser Strömungen verstanden wird – steht für eine grundsätzliche Alternative zur bestehenden Gesellschaft. Dieses Denken kann gewaltbereite Formen annehmen, oft propagieren diese Strömungen aber keine Gewalt, sondern wollen die Gesellschaft beispielsweise durch Missionsarbeit umkrempeln. Im pädagogischen Alltag äußert sich dies in der Regel in einer Abwertung von Andersdenkenden, der Ablehnung von Pluralismus und gesellschaftlichen Unterschieden und dem Anspruch auf eine absolute Wahrheit. Ein solches Denken beschränkt sich nicht nur auf Muslime, sondern spielt in Deutschland auch im Christentum oder in sektenähnlichen Gemeinschaften eine Rolle. Auch hier gibt es Gläubige, die ihren Glauben zur alleinigen Grundlage der Gesellschaft erklären, andere abwerten, sozialen Druck ausüben und politische Geltungsanspruch erheben.
Ist religiöser Extremismus ein wachsendes Phänomen oder achten wir aktuell nur verstärkt darauf?
GN: Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren stark polarisiert, das äußert sich zum Beispiel im Rechtspopulismus der AfD oder PEGIDA, aber auch in der wachsenden Attraktivität des Salafismus auf Jugendliche und junge Erwachsene. Rechtspopulismus und Salafismus ähneln sich darin, dass sie Orientierung bieten in einer immer schwerer zu durchschauenden Gesellschaft und einfache Antworten auf Fragen geben, die sich im Alltag stellen. Dies sind nicht zwangsläufig religiöse Fragen, oft geht es auch um Geschlechterrollen, Gerechtigkeit in der Gesellschaft, den Umgang mit unterschiedlichen Lebensweisen. Salafismus bietet wie Rechtspopulismus und Rechtsextremismus Halt und Gemeinschaft, wo Sicherheiten und bestehende Orientierungspunkte verschwinden. Und sie geben dem Leben einen Sinn: im Rechtsextremismus ist es das Wohl oder das Überleben des "Volkes", im Salafismus der Glauben und die umma, die Gemeinschaft der Muslime. Religiös extremistische Positionen sind heute deutlich sichtbarer als noch vor einigen Jahren. Und es deutet einiges darauf hin, dass sie durch islamfeindliche Diskurse und Angriffe auf Muslime und Moscheen noch bestärkt werden.
FM: Salafistische Radikalisierung nimmt in der Tat zu. Die Facetten des Phänomens können sehr unterschiedlich sein, sie reichen von Missionierung auf Schulhöfen, Jugendzentren, Moscheen und in Fußgängerzonen über den Konsum perfekt inszenierter Dschihadisten-Videos bis hin zur Beteiligung an Anschlägen und Kampfhandlungen in Syrien auf Seiten des IS. "Soziale Netzwerke" spielen bei dieser Entwicklung eine große Rolle.
Was sind Ihrer Erfahrung nach die Gründe dafür, dass Menschen immer wieder extremistischen Ideologien hinterherlaufen?
GN: Die Biographien sind sehr vielfältig, es gibt nicht "den" Typen, der sich diesen Szenen zuwendet. Letztlich gibt es auch hier Parallelen zum Rechtsextremismus, denn auch im Rechtsextremismus unterscheiden sich die Biographien zwischen Anhängern einzelner Szenen – zum Beispiel von Kameradschaften, den Identitären oder dem rechtsextremen Flügel der AfD – zum Teil deutlich, auch wenn sie ideologisch sehr ähnlich sind. Auch islamistische und salafistische Szenen unterscheiden sich im Auftritt, nach ideologischem Angebot, nach Habitus und Organisationsweise, weshalb beispielsweise militant auftretende Gruppen aus dem Dunstkreis des IS andere Menschen ansprechen als beispielsweise Organisationen wie die Hizb ut-Tahrir, die sich intellektuell und politisch, aber weniger religiös gibt. Im Bereich des religiös begründeten Extremismus gibt es Vertreter, auf die das gängige Bild der gescheiterten Kleinkriminellen zutrifft, die im Salafismus und vor allem im gewaltbereiten Dschihadismus einen Neuanfang suchen. Allerdings finden sich in den salafistischen Szenen eben auch bildungsnahe und gut etablierte Personen, auf die dieses Bild der gescheiterten Existenz nicht zutrifft. Ähnlichkeiten bestehen in der Suche nach Orientierung, Gemeinschaft, Sinn und Halt, die gerade in persönlichen Krisen, bei Konflikten in der Familie, oder beim Übergang von Schule in den Beruf wichtig sind. Dabei spielt oft auch ein allgemeines Unbehagen, eine Unzufriedenheit oder das Gefühl von Ausgrenzung und Diskriminierung eine Rolle. Der Salafismus präsentiert sich als gerechte und egalitäre Bewegung, die Erfahrungen mit Rassismus und Marginalisierung bewusst instrumentalisiert und den Eindruck vermittelt, hier könnte man für eine wirklich gerechte Sache kämpfen. Deshalb werden Angriffe gegen Muslime hier ganz gezielt ausgenutzt, um den Eindruck zu schüren, Muslime seien Nichtmuslimen hilflos ausgeliefert, der Westen führe einen Krieg gegen Muslime. Der Einreisestopp in den USA, die Burkinidebatte in Frankreich oder die Anschläge auf Moscheen in Deutschland sind Wasser auf die Mühlen der Salafisten, weil sie Jugendlichen den Eindruck geben, nicht mehr ohnmächtig zu sein, sondern etwas tun zu können, um eigene Interessen durchzusetzen. Dabei geht es Salafisten allerdings nicht darum, sich für gleiche Rechte und gegen Rassismus einzusetzen, sondern den Konflikt mit "den Ungläubigen" anzufeuern und die Gesellschaft zu spalten. Trotzdem erleben ihre Anhänger dies als Selbstwirksamkeit.
FM: Das Phänomen der Radikalisierung lässt sich nicht einer bestimmten sozialen Gruppe zuordnen und muss losgelöst vom Bildungsstatus der Familien gesehen werden. Bei allen von uns betreuten jungen Menschen gab es immer wiederkehrende Merkmale, die häufig aufeinandertreffen und zu einer Radikalisierung führen können. Hierzu gehören neben Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen auch Problemlagen in der Familie, fehlende Vaterfiguren, Perspektivlosigkeit, Entwicklungsstörungen oder auch psychische Erkrankungen.
3 Kommentare
Kommentare
Walter Otte am Permanenter Link
• Der Artikel von Thomas Hummitzsch hinterlässt zwiespältige Gefühle.
• Auch an den hpd stellen sich Fragen: Warum wird ein solcher unkritischer Artikel veröffentlicht? Sieht der hpd den ZMR als Verbündeten im Kampf für eine offene Gesellschaft? Ist der hpd neuerdings auf dem islamistischen Auge blind? Oder wurde lediglich oberflächlich recherchiert?
angelika richter am Permanenter Link
"Religiös extremistische Positionen sind heute deutlich sichtbarer als noch vor einigen Jahren.
Es deutet auch einiges darauf hin, dass durch die offensiv proislamische Haltung bzw Propaganda der hiesigen Regierung islamfeindliche Diskurse bestärkt bzw eigentlich lediglich islamkritische oder -skeptische Diskurse erst in diese umgedeutet wurden.
Thomas Baader am Permanenter Link
Zwei Anmerkungen:
Erstens: "Können Sie sich auch einen atheistisch oder humanistisch geprägten Extremismus vorstellen? Wenn ja, wie sähe der aus? FM: Humanismus und Extremismus? Wie soll das zusammenpassen?"
Auch meiner Ansicht nach gibt es derzeit kein Phänomen "atheistischer/humanistischer Extremismus" (auch wenn bisweilen von religiöser Seite so getan wird, als gäbe es das). Dennoch bin ich mit der Antwort nicht ganz einverstanden, denn die Frage ja, ob man sich das vorstellen könnte. JEDE Philosophie/Ideologie/Weltanschauung kann sich theoretisch zum Extremismus steigern, wenn sie an die Schaltstellen der Macht gelangt und dann alle Meinungen, die nicht der eigenen entsprechen, nicht mehr zulässt. In dem Sinne sind sehr viele Extremismen vorstellbar (atheistisch, humanistisch, feministisch, Vegetarier, Präastronautik etc.), auch wenn sie gegenwärtig nicht existieren und ihre Entstehung eher unwahrscheinlich ist.
Zweitens: "Die Sarrazin-Debatte hat dies sehr deutlich gemacht. Umfragen unter Muslimen zeigen, dass solche Debatten das Gefühl von Zugehörigkeit unter Muslimen stark beeinträchtigen."
Kann nicht sein. Ich habe die Sarrazin-Debatte damals sehr aufmerksam verfolgt und erinnere mich, dass eine Untersuchung festgestellt hatte, dass die meisten Muslime die Debatte gar nicht mitgekriegt hatten und der Namen Sarrazin ihnen gar nichts sagte (die meisten Muslime konsumieren nur Medien ihrer Herkunfstländer, dort war nicht über Sarrazin berichtet worden).